12

Vater und Rhea zogen sich für die Nacht in ihre Gemächer zurück, Reiko und ich in meinen Turm. Grimley schlief vor dem Kamin, doch er öffnete die Augen, als ich an ihm vorbei in mein Schlafzimmer eilte.

Reiko lehnte sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen. »Was hast du vor, Gemma?«

Ich öffnete den Schrank und begann, die Kleidung darin durchzusehen. »Wieso gehst du davon aus, dass ich irgendetwas vorhabe?«

»Weil du immer irgendetwas im Schilde führst. Topacia hat mich gewarnt, dass du Ärger niemals ausweichst … und damit hat sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Du bist wie ein Kolibri, der durch die Gegend flattert … nur dass du keine Blüten suchst, sondern von einer Katastrophe zur nächsten saust.«

»Wenn eine von uns ein Kolibri ist, dann bist das du«, gab ich zurück. »Vor allem, weil du viel mehr von Süßigkeiten abhängig bist als ich.«

Dieses Argument gestand Reiko mir mit einem Nicken zu. »Sicher, aber das ändert nichts daran, dass du offensichtlich einen Plan hast. Willst du mir zufällig erzählen, wie der aussieht und in was für Schwierigkeiten er dich bringen wird?«

»Nun, für den Anfang werde ich auf Grimley zum mortanischen Flügel des Schlosses fliegen, dort auf dem Dach landen und mich ins Gebäude schleichen.«

Reiko blinzelte überrascht. »Was? Warum?«

»Ich will herausfinden, ob Milo hier eine Werkstatt wie die in Myrkvior eingerichtet hat. Er muss seine mysteriösen Experimente ja während des Gipfels irgendwo durchführen.«

»Und du glaubst, er wäre so dämlich, das im Schloss zu machen? Direkt unter Maevens Nase?«

»Wahrscheinlich nicht. Aber es kann nicht schaden, mal nachzuschauen.«

»Hm.« Reiko brummte. »Und warum willst du wirklich in den mortanischen Flügel?«

»Ich will Leonidas davon überzeugen, sich aus der Kampfminnetey zurückzuziehen«, murmelte ich, während ich mit den Knöpfen am Rücken meines Kleides kämpfte. »Ich habe keine Ahnung, warum er bei Maevens Intrige mitspielt, aber ich werde dem einen Riegel vorschieben … noch heute Abend.«

»Und wieso musst du dich dafür auf feindliches Territorium schleichen?«, fragte Reiko. »Wieso sprichst du nicht einfach über deine Mentalmagie mit Prinz Leo?«

Sie hatte recht. Leonidas war nahe genug, ich konnte mühelos auf magischem Weg mit ihm kommunizieren. Selbst jetzt, trotz all der Wände zwischen uns, spürte ich seine Gegenwart wie eine nervige Feder auf meiner Haut.

»Ich will hören, was Leonidas zu sagen hat. Und im persönlichen Gespräch wird es mir viel leichter fallen, zu spüren, ob er etwas verbirgt.«

»Hmmm.« Diesmal klang Reikos Brummen zugleich ungläubig und abschätzig. »Für mich wirkt das trotzdem wie ein unnötiges Risiko.«

»Vielleicht. Aber ich muss irgendetwas tun. Ich kann nicht einfach rumsitzen und abwarten, was Milo und Maeven uns als Nächstes an den Kopf werfen. Außerdem kenne ich jeden Zentimeter dieses Schlosses wie meine Westentasche, auch den mortanischen Flügel. Ich kann mich mühelos rein- und wieder rausschleichen, ohne dass jemand etwas bemerkt.«

Ich zog mir mein Kleid über den Kopf und schlüpfte in eine dunkelgraue Tunika, eine enge schwarze Hose und Stiefel, bevor ich mir einen dunkelgrauen Mantel um die Schultern warf. Außerdem wusch ich mir das Make-up vom Gesicht und band mir die Haare zu einem Pferdeschwanz. Als Letztes hängte ich mir meinen Dolch an den Gürtel.

Dann verließ ich zusammen mit Reiko mein Schlafzimmer.

Grimley streckte sich und gähnte herzhaft, bevor er aufstand. »Was höre ich da, du willst in den mortanischen Teil des Schlosses?«

Ich erzählte dem Gargoyle alles, was während des Abendessens vorgefallen war.

Er gähnte wieder. »Oh, das weiß ich alles bereits.«

»Woher?«, fragte Reiko. »Hast du nicht die ganze Zeit hier geschlafen?«

»Natürlich habe ich geschlafen. Hier war es schön ruhig«, antwortete Grimley. »Zumindest, bis Fern mein Abendnickerchen unterbrochen hat. Sie ist ungefähr eine Viertelstunde vor euch aufgetaucht. Anscheinend ist das Glasdach der Arena sehr dünn, und sie hat alles gehört. Fern hat bereits alle Gargoyles informiert. Sie ist eine echte Tratschtante.«

Reiko runzelte die Stirn. »Gargoyles tratschen?«

»Irgendwas müssen wir ja tun, um uns den ganzen Tag auf den Dächern zu beschäftigen«, antwortete Grimley. »Und was könnte amüsanter sein, als die Leute zu beobachten, wie sie wie Ameisen unter uns hin und her laufen und sich das Leben viel schwerer machen, als es sein müsste? Jagen, essen und schlafen sind die einzigen Dinge, die wirklich zählen. Nicht komplizierte Rituale wie diese alberne Kampfminnetey.«

»Das Ritual ist nicht albern, wenn Leonidas die Herausforderungen meistert und ich ihn heiraten muss«, grummelte ich.

Grimley gähnte noch einmal, offenbar vollkommen unbeeindruckt von dieser Bedrohung. »Wenn das Schlimmste passiert und er siegt, dann kann ich ihn immer noch umbringen. Ein Schlag mit der Schwanzspitze quer über die Kehle des Prinzen sollte ausreichen.« Sein Schwanz peitschte von rechts nach links, sodass die scharfe Spitze daran durch die Luft pfiff.

Ich grinste. Der Gargoyle wusste immer genau, was er sagen musste, um mich aufzumuntern. »Sosehr ich deine mörderischen Ideen auch zu schätzen weiß, Lyra würde sie definitiv nicht gutheißen.«

»Diese Vogeldame könnte zum Problem werden«, stimmte Grimley mir zu. »Sie ist sehr viel beeindruckender als die meisten Strixe. Fern meinte, auch Lyra hätte sich auf dem Dach der Arena aufgehalten und alles belauscht.«

»Und sie haben sich nicht gegenseitig angegriffen?«, fragte Reiko. »Ich dachte, Gargoyles und Strixe wären von Natur aus Feinde.«

»In der Wildnis schon«, antwortete ich. »Aber nicht hier in Caldwell. Die Gargoyles und die Strixe teilen sich den Himmel, den See und den umliegenden Wald … so wie die Andvarianer sich das Schloss mit den Ungerern und den Mortanern teilen.«

»So ungern ich es auch zugebe, Lyra ist sehr viel umgänglicher als manche der Gargoyles«, grummelte Grimley. »Fern hat sich über einen großen Rohling auf dem Dach der Arena beschwert. Er hat ihr ständig gesagt, sie solle still sein, damit er lauschen kann.«

Ich dachte an die Kreatur, die ich bei unserer Ankunft heute Morgen gesehen hatte. »Hieß dieser Gargoyle zufällig Otto?«

Grimley runzelte die Stirn. »Woher weißt du das?«

»Ich habe versucht, mit ihm zu reden, aber er hat mich auflaufen lassen. Und ich kann mir vorstellen, dass er Fern den Mund verbieten würde.«

Grimley schnaubte. »Nun, anscheinend hatte er damit keinen Erfolg.«

Ich grinste wieder, bevor ich Reiko ansah. Sie nickte, doch ihr Blick war gedankenverloren, als würde sie unserem Gespräch nur mit halbem Ohr lauschen. Gleichzeitig rieb sie immer wieder mit dem Daumen über den Kaminsims und machte einen ziemlich besorgten Eindruck.

»Was ist los?«, fragte ich. »Wieso ziehst du dich nicht um und verlangst von mir, dass ich dich mitnehme?«

Reiko seufzte. »Unglücklicherweise habe ich eine eigene Mission. Kai ist nach dem Abendessen vor der Arena an mich herangetreten. Tatsuo verlangt, mich zu sehen.«

»Möchtest du, dass ich dich begleite?«

Reiko bedachte mich mit einem müden Lächeln, das allerdings schnell wieder verblasste. »Ich weiß das Angebot zu schätzen, aber ich muss mich allein mit meinem Vater treffen. So wie du dich allein mit Prinz Leo treffen musst.« Sie hielt inne. »Nein, eigentlich ist das etwas vollkommen anderes. Mein Gespräch mit Tatsuo wird wahrscheinlich kühl und gestelzt sein. Du und Prinz Leo dagegen werdet wahrscheinlich Mühe haben, die Finger voneinander zu lassen.«

Ich schnaubte. »Das bezweifele ich stark. Leonidas kam mir genauso wenig begeistert von Maevens Intrige vor wie ich. Unser Gespräch wird wahrscheinlich überwiegend aus Halbwahrheiten und verdeckten Drohungen bestehen, so wie im Wald bei Haverton.«

»Vielleicht.«

Bei ihrem Tonfall verdrehte ich die Augen. »Aber?«

»Aber wie Zariza vorhin gesagt hat, sitzt auf Prinz Leos durchaus attraktiven Schultern ein ebenso attraktiver Kopf«, antwortete Reiko fast schnurrend. »Und ich vermute, unter den vielen Schichten Kleidung, die er für gewöhnlich trägt, versteckt sich ein ähnlich ansprechender Körper.«

Sofort erinnerte ich mich an Leonidas’ nackte, muskulöse Brust, die ich in Blauberg beim Versorgen der Stichwunde gesehen hatte, die ihm von Wexel zugefügt worden war. Leonidas sah mehr als nur ansprechend aus.

Reiko lachte, als meine Wangen rot wurden. »Vielleicht solltest du Leonidas eher ermuntern, statt ihn dazu zu überreden, dass er sich aus der Kampfminnetey zurückzieht. Du könntest ihn verführen, dir seine Zuneigung sichern und ihn auf deine Seite ziehen … ihn Maeven und den anderen Morricones entfremden.«

Ich schnaubte. »Verführung ist eigentlich nicht mein Stil. Besonders dann nicht, wenn es um meinen Erzfeind geht.«

»Ich habe auf Bällen gesehen, wie du flirtest. Du bist recht gut darin. Und was den Erzfeind angeht …« Reikos Stimme verklang, dann zuckte sie mit den Schultern. »Wie ich schon sagte … manchmal sind Feinde die besten Liebhaber. All diese Animositäten können unter den richtigen Umständen schnell in Leidenschaft umschlagen.«

»Wie bei dir und Kai?«

Sie verzog das Gesicht. »Ja.«

»Was ist geschehen?«

Sie presste die Lippen aufeinander. »Ich habe mich spät im letzten Jahr den Scharlachroten Drachen angeschlossen. Kai war nicht begeistert, dass Tatsuo seinen Einfluss genutzt hatte, damit ich in die Truppe aufgenommen wurde, also hat er sich wirklich Mühe gegeben, allen zu zeigen, dass er der beste Gladiator ist. Ich konnte ihn nie schlagen, egal, wie sehr ich mich bemüht habe. Und glaub mir, ich habe mich bemüht … und sei es nur, um ihm dieses arrogante Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. Aber das ist mir nie ganz gelungen.«

»Und wie seid ihr von Konkurrenten zu Liebhabern geworden?«

»Nachdem Kai mich aus dem Turnier der Streiter geworfen hatte, hat er den Titel gewonnen. An diesem Abend, beim Ball in der Burg der DiLucris, haben alle Scharlachroten Drachen seinen Sieg gefeiert – außer mir. Kai ist mir nach draußen auf einen Balkon gefolgt. Es gab einen Wortwechsel, und dann hat … na ja, dann hat eines irgendwie zum anderen geführt.« Reiko seufzte. »Es war ein Fehler. Einer, den ich nicht noch einmal machen werde.«

Trotz ihrer gemurmelten Worte wirkte sie erneut abwesend. Eine Erinnerung stieg in ihr auf und drängte sich in meinen Geist. Reiko und Kai auf einem mondbeschienenen Balkon in leidenschaftlicher Umarmung und durch einen Kuss verbunden, während ihre Hände wanderten.

Ich räusperte mich, weil ich nicht auf diese Weise in ihre Gedanken eindringen wollte. Reiko blinzelte, und die Erinnerung verblasste.

»Genug von Kai«, meinte sie. »Wir haben darüber gesprochen, wie du Prinz Leo mit den Waffen einer Frau manipulieren kannst.«

Ich dachte daran zurück, wie Leonidas mich bei Maevens Geburtstagsball auf der Tanzfläche im Arm gehalten hatte. In diesem Moment hatte die Feindschaft zwischen uns keine Rolle gespielt, sondern nur das Gefühl seines Körpers an meinem … und die Musik, die uns wieder und wieder zusammenbrachte. Doch es hatte nicht nur an der Musik gelegen, sondern auch an dieser Anziehungskraft, die zwischen uns existierte. Aber ich wäre eine Närrin, dieser Anziehung nachzugeben. Und noch dümmer wäre es, mich auf irgendeine halb gare Verführungsintrige einzulassen.

Ich schüttelte den Kopf. »Vertrau mir. Heute Abend wird es keine Verführung geben. Aber vielleicht finde ich endlich heraus, was Milo plant. Oder ich kann Leonidas wenigstens überzeugen, nicht bei Maevens irrsinnigem Plan mitzuspielen.«

»Was, wenn er sich weigert?«, fragte Reiko. »Wenn er entschlossen ist, sich der Kampfminnetey trotzdem zu stellen?«

Diese Sorge brodelte schon in mir, seit er die Herausforderung beim Abendessen akzeptiert hatte. Leonidas Morricone war genauso stur wie ich. Es war durchaus möglich, dass er aus reiner Boshaftigkeit an der Kampfminnetey teilnahm – nur um mir und allen anderen zu beweisen, dass er die Herausforderungen bewältigen konnte. Doch ich ging davon aus, dass Maeven ihren Sohn manipulierte, indem sie Delmiras Sicherheit bedrohte –, so wie sie es schon vor ein paar Wochen in Myrkvior getan hatte. Die Königin war durchaus bereit, ihre eigenen Kinder zu bedrohen und die Liebe von Leonidas für Delmira zu ihrem eigenen Vorteil einzusetzen.

»Er wird sich nicht weigern«, erklärte ich und bemühte mich, mehr Selbstbewusstsein auszustrahlen, als ich in Wirklichkeit empfand. »Leonidas will genauso wenig für den Rest seines Lebens an mich gekettet sein wie ich an ihn.«

Reiko und Grimley wechselten einen ungläubigen Blick. Kein Wunder, ich glaubte meine Worte ja selbst kaum. Oh, ich mochte den Morricone-Prinzen unglaublich attraktiv finden, aber eine Ehe war etwas ganz anderes. Und was vielleicht noch wichtiger war: Ich wollte auf keinen Fall noch einmal riskieren, dass ich mein Herz an Leonidas verlor. In Myrkvior hatte mich das fast das Leben gekostet. So etwas durfte mir nicht noch mal passieren.

Niemals.

 

Reiko ging in ihr Schlafzimmer, um sich für das Treffen mit Tatsuo umzuziehen. Ich dagegen trat mit Grimley auf den Balkon.

Schloss Caldwell war nachts viel schöner als tagsüber. Die Dunkelheit verbarg die schlichte, graue Fassade des Gebäudes, außerdem tauchten der Mond und die Sterne alle Wände, Zinnen und Türme in ein sanftes, silbriges Licht. Fahlblaue Fluorsteine waren in viele der Torbögen eingelassen, und in unzähligen Fenstern brannten Kerzen, die aussahen wie goldene, in Glaskäfigen gefangene Glühwürmchen.

»Bist du dir sicher, dass du das tun willst, Gemma?«, fragte Grimley. »Bei allem, was passiert ist, hat Maeven sicherlich zusätzliche Wachen im mortanischen Flügel postiert.«

»Ja. Ich habe immer noch nicht rausgefunden, was Milo plant. Und ich muss die Kampfminnetey abbrechen, bevor dieser Unsinn weitergeht. Also lass uns aufbrechen.«

Ich kletterte auf den Rücken des Gargoyles, der mit den Flügeln schlug und abhob.

Mit seiner dunkelgrauen Haut verschmolz Grimley quasi mit dem Nachthimmel. Kein Wachposten sah auf, als er in einem Bogen um das Schloss flog. Die meisten anderen Gargoyles ruhten auf den andvarischen Dächern. Nur wenige hatten sich auch auf den ungerischen oder ryusamanischen Türmen niedergelassen. Insgesamt sah ich aber bei Weitem nicht so viele Gargoyles wie gewöhnlich. Die Kreaturen kehrten zu Sonnenuntergang eigentlich immer zum Schloss zurück, um sich auf ihren Lieblingsplätzen niederzulassen, doch heute Abend entdeckte ich viele freie Stellen auf den Dachfirsten.

Grim, wo sind die anderen Gargoyles?

Anscheinend blafft Otto seit ein paar Wochen Befehle. Versucht, den anderen Gargoyles zu sagen, wo sie jagen sollen, und vertreibt sie von ein paar der besten Inseln im See, damit er dort alleine jagen kann. Fern hat mir erzählt, dass ein paar Gargoyles schon in andere Städte umgesiedelt sind, um ihm zu entkommen.

Streitigkeiten zwischen Gargoyles waren selten, aber Otto schien seine Mitkreaturen genauso zu verabscheuen wie Menschen. Wie traurig. Vielleicht konnte ich mal mit ihm reden und ihn überzeugen, weniger herrschsüchtig zu sein und mit den anderen zu kooperieren.

Es befanden sich zwar weniger Gargoyles auf den Dächern, dafür entdeckte ich aber unzählige Strixe – viel mehr Strixe als sonst. Wie Grimley waren die Vögel in der Nacht kaum zu sehen – nur ihre Augen leuchteten wie purpurne Fackeln. Einige der Kreaturen drängten sich so eng aneinander, dass die größeren die kleineren fast von den Dächern stießen.

Ich runzelte die Stirn. Hatte Maeven zusätzliche Soldaten mit zum Gipfel gebracht? Das hätte die Anzahl der Strixe erklärt. Allerdings warf das wiederum die Frage auf, warum sie so viele Männer und Vögel mitbringen sollte. Es sei denn, die mortanische Königin machte sich immer noch Sorgen, sie könnte ihre Krone an Milo verlieren – und vielleicht sogar ihr Leben.

Grimley flog eine weitere Kurve ums Schloss, doch auch diesmal sah keiner der Wachleute auf. Ich deutete auf einen kleinen Turm, auf dem keine Strixe saßen. Grimley segelte darauf zu, so lautlos wie eine Wolke am Himmel, bevor er mit einem dumpfen Schlag landete. Wegen der steilen Dachneigung glitt ich vorsichtig von seinem Rücken und tastete mich voran, bis ich am Rand des Daches stand.

Unter mir patrouillierten drei mortanische Wachleute auf der Brüstungsmauer.

»… die Truppe vom Schwarzen Schwan wird dieses Jahr schon wieder alle verdammten Turniere gewinnen …«

»… unsere Gladiatoren haben keine Chance …«

»… wir könnten genauso gut nicht antreten …«

Gesprächsfetzen drangen an mein Ohr. Die Herrscher, Adeligen und Händler mochten sich nur Gedanken um den Gipfel machen, doch diese Männer interessierten sich mehr für die Abschlussturniere der Gladiatoren. Und das konnte ich ihnen nicht übel nehmen. Ich hätte auch lieber über Gladiatorenkämpfe geredet als über Handelsabkommen.

Die Wachen kamen näher. Grimley mochte vor dem Nachthimmel fast unsichtbar sein, dasselbe galt aber nicht für mich, also ging ich in die Hocke. Einer meiner Stiefel blieb an einer alten Schindel hängen, die sofort in mehrere Teile zerbrach. Kleine Splitter rutschten über die Schräge und fielen mit einem leisen Klirren auf die Mauerbrüstung – direkt hinter den Wachen.

»Was war das?« Der vorderste Mann wirbelte herum, eine Hand am Schwertknauf.

Ich hielt den Atem an und verharrte so ruhig wie möglich.

»Muss der Wind gewesen sein«, meinte der zweite Mann.

»Ja«, schaltete sich die dritte Wache ein. »Böen können wirklich seltsame Geräusche rund ums Schloss erzeugen.«

Diese beiden Wachleute gingen weiter, doch der erste Soldat blieb stehen und drehte immer wieder den Kopf, ohne sein Schwert loszulassen. Ich packte den Dolch an meinem Gürtel, um mich im Fall der Fälle zu verteidigen …

»Komm schon, Roddy!«, rief einer der Männer. »Lass uns reingehen, damit wir uns aufwärmen können.«

Roddy sah sich noch einmal misstrauisch um, doch dann folgte er seinen Freunden, und die drei verschwanden im Schloss.

Ich seufzte erleichtert, dann wandte ich mich an Grimley. »Bleib hier und halte Wache. Je nachdem, wie viele Soldaten sich dort unten herumtreiben, kann ich vielleicht nicht hierher zurückkommen. Falls wir getrennt werden, treffen wir uns in meinen Gemächern.«

Er leckte mir kurz die Hand. »Sei vorsichtig.«

Grimley machte es sich auf dem Dachfirst bequem. So sollte er nur noch als Schatten erkennbar sein, fast unsichtbar – abgesehen von dem hellen Leuchten seiner saphirblauen Augen.

Ich packte den Rand des Daches, ließ meinen Körper zur Seite gleiten und sprang die eineinhalb Meter auf den Wehrgang hinunter. Geduckt eilte ich zu einer Glastür in der entgegengesetzten Richtung von den Wachen, öffnete sie und glitt hindurch.

Der mortanische Flügel des Schlosses sah fast genauso aus wie der andvarische, nur dass hier purpurne Banner mit dem Morricone-Wappen an den Wänden hingen und Bilder von Strixen in die Decke gemeißelt waren. Polierter Onyx glänzte an den Spitzen der Vogelfedern, und Amethyste bildeten die Augen. Es wirkte fast, als könnten die Kreaturen sich jeden Moment fallen lassen und mich angreifen. Schaudernd eilte ich weiter.

In dieser späten Stunde lagen die Flure verlassen da, abgesehen von ein paar Dienern und Wachen. Doch meine Magie erlaubte es mir, zu spüren, wenn sich jemand näherte, und mich immer rechtzeitig zu verbergen. In diesem Flügel gab es viele kleine Nischen, in denen Bücher, Waffen oder andere Schätze ausgestellt wurden, sodass ich mich zurückziehen konnte, wann immer es nötig wurde. Ich spähte in jedes Zimmer, an dem ich vorbeikam, doch sie waren alle normal möbliert, und ich konnte keinen Hinweis auf eine von Milo eingerichtete Werkstatt entdecken. Reiko hatte recht. Der Kronprinz führte seine Experimente an einem anderen Ort durch, gut geschützt vor neugierigen Blicken wie den meinen.

Ich schlich in den zweiten Stock hinauf, wo die königliche Familie traditionell residierte, und glitt in den betreffenden Flur. Trotz der Fluorsteinlampen an den Wänden war dieser Gang so sehr von Schatten verhüllt, dass ich mir die nächstgelegene Wand genauer ansah.

Nein, die Wände lagen nicht im Schatten – sie waren mit Liladorn überwuchert.

Die schwarzen Ranken hatten sich zwischen den Steinen ausgebreitet und wuchsen an den Wänden nach oben, genau wie in Myrkvior. Ich runzelte die Stirn. Ich hatte bisher noch nie Liladorn im mortanischen Flügel des Schlosses gesehen …

Hinter mir klapperten Absätze über den Boden, und meine Fingerspitzen begannen, warnend zu kribbeln. Ich eilte weiter, sprang an einer geschlossenen Tür vorbei und glitt weiter hinten in eine Nische des Flures. Auch hier waren die Wände von Liladorn überzogen. Mehrere Dornen bohrten sich mir in den Rücken, als hätte mir jemand Nägel in die Haut getrieben.

Wieder einmal hielt ich den Atem an. Mein Herz hämmerte so laut, dass ich die Schritte nicht mehr hören konnte, doch meine Fingerspitzen kribbelten immer intensiver und verrieten mir, dass jemand mit viel Magie in meine Richtung kam …

»Was um Himmels willen willst du damit erreichen, dass du Leonidas zur Teilnahme an diesem sadistischen Ritual zwingst?« Eine wütende Frauenstimme hallte durch den Flur.

Ich schnappte überrascht nach Luft. Bisher hatte mich niemand entdeckt, also glitt ich in der Nische nach vorn und spähte vorsichtig in den Flur.

Delmira stand vor der große Doppeltür, die ich gerade passiert hatte, stützte die Hände in die Hüften und starrte Maeven böse an. »Ich habe dieses Buch gelesen, das du in der Bibliothek von Myrkvior gefunden hast. Ich weiß genau, was die Kampfminnetey bedeutet – und wie wenige sie lebendig überstehen.«

Maeven tat die Sorgen ihrer Tochter mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Ich habe gewisse Vorkehrungen getroffen, die Leonidas helfen werden, die zwei schwierigeren Herausforderungen zu bewältigen. Deine Aufgabe ist es, ihm bei der ersten Herausforderung zu helfen und drei Dinge zu finden, die Gemma Ripleys Körper, Geist und Herz ansprechen.«

»Dabei braucht Leo keine Hilfe und das weißt du.« Delmiras Augen wurden schmal. »Außerdem, wenn es nach deinem Willen gegangen wäre, wäre Gemma schon vor Jahren beim Sieben-Türme-Massaker gestorben. Doch jetzt willst du, dass sie Leo heiratet. Warum?«

Maeven zuckte mit den Achseln. »Pläne ändern sich. Und Gemma Ripley ist ein essenzieller Teil meiner Pläne, nicht nur beim Gipfel, sondern weit darüber hinaus.«

Wut, Sorge und Furcht kämpften in mir um die Vorherrschaft. Wieder einmal spielte Maeven mit meinem Leben, als wäre ich nur zu ihrem Vergnügen geschaffen worden. Was hatte ich ihr je getan, dass ich diese Art von Feindseligkeit verdiente? Wieso konnte das Miststück mich nicht einfach in Ruhe lassen?

Meine Wut kochte höher, und ich ballte die Hände zu Fäusten. Ich war nicht mehr dasselbe verängstigte kleine Mädchen wie beim Massaker und auch nicht die verwöhnte Prinzessin, die ich noch vor ein paar Wochen in Myrkvior gewesen war. Ich war stärker geworden, besonders, wenn es um meine Magie ging. Und es wurde Zeit, sie endlich gegen Maeven einzusetzen.

Ich war als Spionin hierhergekommen, doch ich würde als Meuchelmörderin wieder gehen.

Ich rief meine Macht und hob die Hand, um den Alkoven zu verlassen, Maeven gegen die Wand zu schleudern und ihr das Genick zu brechen …

Eine Liladorn-Ranke schoss nach vorn, schlang sich um mein Handgelenk und zog meine Hand nach unten. Ich wehrte mich gegen die Pflanze, doch sie packte mich fester, und ein Dorn kratzte mir über den Handrücken. Blut quoll aus der frischen Wunde, die sich neben dem Kratzer, den mir der Liladorn vor wenigen Tagen in den Edelsteingärten zugefügt hatte, quer über meine Narbe zog.

Hör auf damit , sagte eine vertraute Gegenwart in meinem Kopf. Wir wollen dich nicht verletzen.

Ich starrte die Ranke böse an, hörte aber auf, mich zu wehren. Der Liladorn war unglaublich stark und widerstandsfähig, sodass ich mich nur unter Einsatz von viel Magie hätte befreien können, was auf keinen Fall lautlos abgelaufen wäre. Und damit hätte ich nur dafür gesorgt, dass jede mortanische Wache in der Gegend heranstürmte.

»Schön. Dann verrate mir deine Pläne eben nicht«, grummelte Delmira. »Wann wirst du endlich aufhören, Leo und mich zu behandeln, als wären wir deine persönlichen Schachfiguren?«

Maeven schob das Kinn vor. »Wenn die Zukunft deines Bruders genauso gesichert ist wie deine. Keinen Augenblick früher.«

Delmira riss frustriert die Hände in die Luft. »Was soll das bedeuten?«

Die Miene der Königin blieb ausdruckslos, doch das intensive Bedauern, das von ihr ausstrahlte, traf mich wie ein Schwall kaltes Wasser. »Morgen wird ein langer Tag, schließlich werden zwei der Kampfminnetey-Herausforderungen stattfinden. Ich gehe jetzt ins Bett. Und du solltest dasselbe tun.«

Delmira warf ihrer Mutter noch einen letzten, bösen Blick zu, bevor sie herumwirbelte und durch den Flur davonstürmte. Der Liladorn zitterte, als würde er die Wut der Prinzessin spiegeln.

Maeven beäugte die vibrierenden Ranken um sich herum, dann stieß sie ein tiefes Seufzen aus. In diesem Moment sah sie … müde aus, als würde sie langsam von all ihren Intrigen, Plänen und Geheimnissen erdrückt.

»Eines Tages wird es Delmira verstehen«, sagte Maeven, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob sie mit sich selbst sprach oder mit dem Liladorn.

Sie seufzte noch einmal, dann wartete sie ab, bis sich die Ranken beruhigt hatten, bevor sie einen der Türflügel öffnete und ihre Gemächer betrat.

Doch ihr Bedauern hing weiter im Flur wie kalter Nebel und weckte eine Empfindung in mir, die ich in Bezug auf die Morricone-Königin nie erwartet hätte.

Mitgefühl.