13

Ich wartete eine Weile ab, um sicherzustellen, dass Maeven ihre Gemächer nicht noch einmal verlassen würde, dann trat ich vor. Endlich gab die Ranke mein Handgelenk frei und zog sich in die Nische zurück.

Dämliche Pflanze , zischte ich in Gedanken. Hör auf, mich zu kratzen.

Die Gegenwart schien zu schnauben. Dann hör auf, dich dumm zu benehmen, Nicht-unsere-Prinzessin.

Wieder einmal fragte ich mich, wie man eine empfindungsfähige Pflanze eigentlich ermorden sollte – doch dieses Rätsel würde ich an einem anderen Tag lösen müssen. Ich hatte mein Glück durch meinen langen Aufenthalt im mortanischen Flügel bereits überstrapaziert und musste hier verschwinden, bevor der Liladorn mich wieder einfing oder – noch schlimmer – ich von einem Wachmann entdeckt wurde.

Entschlossen, zu dem Turm zurückzukehren, auf dem Grimley auf mich wartete, schlich ich durch die Flure. Doch schon bald hörte ich wieder Schritte. Ich zog mich in eine andere Nische zurück. Kurz darauf erschien eine vertraute Gestalt.

Wexel.

Der Hauptmann schritt durch eine offene Tür. Ich zögerte, hin- und hergerissen zwischen dem Drang zur Flucht und dem Wunsch, mehr zu erfahren. Letztendlich fiel mir die Wahl aber leicht. Reiko hatte vorhin absolut recht gehabt. Ich war ein Kolibri, doch statt von Zuckerwasser wurde ich von der Gefahr angezogen.

Also folgte ich Wexel.

Ich schlich auf Zehenspitzen durch den Flur und spähte um den Türrahmen. Dahinter lag eine weitläufige Bibliothek. Aus diesem Winkel konnte ich Wexel nicht sehen … er mich dementsprechend aber auch nicht, also schob ich mich langsam weiter. In der Mitte des Raums erhoben sich frei stehende Regale, die quasi einen Raumteiler bildeten. Ich glitt weiter, bis ich das Ende der Regalreihe erreicht hatte, dann ging ich in die Hocke und spähte um die Ecke.

Die gesamte hintere Wand wurde von einem riesigen Kamin eingenommen, der ebenfalls mit Liladorn-Ranken überwuchert war. Milo lungerte auf einem Sofa herum, und Corvina saß hoch aufgerichtet auf einem Stuhl. Auf dem niedrigen Tisch zwischen ihnen stand ein Tablett mit Törtchen und anderen Köstlichkeiten. Wexel stand auf halber Strecke zwischen Milo und Corvina.

»Und?«, fragte Milo scheinbar gelangweilt, doch der Befehlston in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Die Männer sind von der Insel zurückgekehrt. Alles ist für morgen vorbereitet«, antwortete Wexel.

Milo trank einen Schluck Wein aus seinem Pokal. »Gut. Ich muss nur noch einige letzte Experimente durchführen, dann kann ich meine Pläne in die Tat umsetzen.«

»Wie sehen deine Pläne aus?«, fragte Corvina. »Du willst doch sicherlich nicht einen weiteren Coup gegen Maeven starten, so wie den, mit dem du in Myrkvior so haushoch gescheitert bist?«

Milo blieb scheinbar entspannt, doch ich konnte erkennen, dass er seinen Pokal fester umklammerte. Er hatte die weißen Handschuhe ausgezogen, die er vorhin in der Arena getragen hatte, und ich sah fleckige, rote Narben auf seiner Haut. Sie ähnelten denen, die meine eigenen Hände verunzierten. Gut. Dass er eine so deutliche Erinnerung an die Schmerzen trug, die ich ihm zugefügt hatte, freute mich wirklich.

»Natürlich nicht«, antwortete er. »Ich mache nie denselben Fehler zweimal. Aber mein größter Irrtum in Myrkvior war es, nicht in größeren Ausmaßen zu denken. Und ich habe vor, diesen Irrtum baldmöglichst zu korrigieren.«

Ich runzelte die Stirn. Was könnte größer oder wichtiger sein, als die Königin abzusetzen?

Corvina kommentierte die vage Antwort mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Nun, ich wüsste gerne etwas genauer, was von meinem Geld bezahlt wird. Meine Mutter mag dir blind gefolgt sein, ich werde das aber nicht tun.«

Und ich werde nie mit dir schlafen, wie sie es getan hat . Corvinas Gedanke stach in meinen Geist, und ich spürte deutlich, wie sehr sie Milo verabscheute.

Trotz ihrer wenig freundlichen Empfindungen für ihren Verlobten hatte Corvina sich mit Milo verbündet, genau wie Emperia Dumond vor ihr. Warum? Was hoffte sie, dadurch zu gewinnen?

Milo wedelte mit seinem Trinkpokal. »Du weißt genau, wofür du dein Geld zahlst. Männer, Strixe und Zährenstein, für den Anfang. Alles, was ich brauche, um meine Vision wahr werden zu lassen und meine Mutter vom Thron zu stoßen.«

Corvina zog die Augenbrauen noch höher. »Du hättest Maeven auf dem Weg zum Gipfel töten sollen, wie ich es dir geraten hatte. Jetzt hat sie dieses altertümliche, ungerische Ritual angerufen, was bedeutet, dass alle Augen auf sie gerichtet sind. Und wenn Leonidas Erfolg hat, dann wird alles nur noch schlimmer. Viele der mortanischen Adeligen werden ihn als Held feiern, weil es ihm endlich gelungen ist, ein Bündnis mit den Andvarianern zu schließen – so gezwungen es auch sein mag.«

Milo lachte. Das tiefe, hässliche Geräusch kratzte über meine Haut wie Sandpapier. »O bitte, Leonidas wird nicht siegen. Und selbst wenn … Dominic Ripley wird es seiner kostbaren Glimma niemals erlauben, einen Morricone zu heiraten. Die Kampfminnetey stellt kein Problem dar – sie ist eine Gelegenheit . Während sich alle auf Mutter und Leonidas konzentrieren, werden wir unsere eigenen Pläne realisieren.«

»Die da wären?«, fragte Corvina, womit das Gespräch wieder am Anfang ankam.

Milo schnaubte genervt. »Wenn du es unbedingt wissen willst, so werde ich es dir morgen auf der Insel zeigen. Im Moment habe ich aber ein paar Dinge mit Wexel zu besprechen. Bitte lass uns allein.«

Corvina öffnete den Mund, um zu protestieren, weil Milo sie wie eine Dienerin herumkommandierte, doch Wexel schüttelte warnend den Kopf. Corvina presste die Lippen aufeinander, stand auf und sank in einen Knicks.

»Natürlich«, murmelte sie. »Bis morgen.«

Milo konzentrierte sich auf seinen Weinpokal.

Magie flackerte in Corvinas grauen Augen, und ihre Wangen färbten sich rot vor Wut, doch Milo schien nichts davon zu bemerken.

Arroganter Dreckskerl . Wieder stach Corvinas Gedanke in meinen Geist. Er wird es noch bereuen, mich ignoriert zu haben.

Mit großen, wütenden Schritten verließ sie die Bibliothek. Und auch das Gefühl ihrer Gegenwart verblasste schnell wie ein Gewitter, das weiterzog. Doch ihre Worte und ihre Feindseligkeit verweilten in meinem Geist und meinem Herzen.

»Ihr solltet Corvina ernster nehmen«, meinte Wexel. »Sie ist klüger als Emperia und besitzt um einiges mehr Wettermagie. Sie wird sich nicht mehr lange hinhalten lassen.«

Er hatte recht. Corvina war in der Tat klug und stark. Und sie würde nicht dieselben Fehler machen, die ihrer Mutter unterlaufen waren. In Myrkvior hatte Corvina die Intrige von Milo und ihrer Mutter einfach laufen lassen, statt bei dem Coup mitzumischen. Diese kluge Wachsamkeit hatte ihr das Leben gerettet. Corvina mochte sich mit Milo gegen Maeven verbündet haben … aber ich hätte darauf gewettet, dass die Adelige zugleich ihre eigenen Intrigen gegen beide Morricones spann.

Milo zuckte mit den Achseln. »Ich brauche das Dumond-Vermögen bald nicht mehr. Corvina hält sich für wichtiger, als sie ist, genau wie Emperia es getan hat. Sobald ich den Rest der nötigen Lieferungen habe, können wir uns daranmachen, Andvari in die Knie zu zwingen. Und sobald Andvari besiegt ist, habe ich endlich genug Geld, Ressourcen und Zährenstein. Dann werden mir die mortanischen Adeligen nur zu gern folgen.«

Mir rann ein kalter Schauder über den Rücken, als ich hörte, wie beiläufig er über den Untergang meines Königreiches sprach. Allerdings blieb er in seinen Äußerungen vage – so wie auch schon in Myrkvior, als ich ihn in seiner Werkstatt belauscht hatte. Milo hatte von Maeven die enervierende Eigenschaft geerbt, niemals Tacheles zu reden, bevor es nicht unbedingt nötig war.

»Was wollt Ihr mit Corvina anstellen, sobald Ihr den Thron bestiegen habt?«, fragte Wexel. »Werdet Ihr die Verlobung in Ehren halten und sie heiraten?«

Der Hauptmann klang nur beiläufig interessiert, doch er verzog leicht das Gesicht, als verursachte ihm der Gedanke, dass Corvina Milo heiraten könnte, körperliche Übelkeit. Wieder einmal überraschte mich die Tiefe der Zuneigung, die Wexel für die junge Adelige empfand.

Milo schnaubte abfällig. »Natürlich nicht. Die Dumonds sind schon viel zu lange ein Stachel im Fleisch der Morricones. Ich werde Corvina genauso umbringen wie den Rest der Familie und werde mir das Dumond-Vermögen und ihre Ländereien aneignen. Maeven hat einst ein Massaker geplant. Nun, dasselbe kann auch ich tun. Nur dass mir nicht der Fehler unterlaufen wird, Überlebende zurückzulassen.«

Wexel blinzelte überrascht. »Aber … Ihr sprecht darüber, eine der ältesten Adelsfamilien von Morta auszulöschen.«

Milo musste das Zögern in Wexels Stimme bemerkt haben, weil er seinen Helfer zum ersten Mal wirklich ansah. »Stellt das für dich ein Problem dar, Wexel?«

Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht.«

»Gut«, antwortete Milo. »Weil ich mir wirklich ungern einen neuen Hauptmann suchen will, besonders, da du mir schon so viele Jahre loyal dienst.«

Wexel biss bei der offensichtlichen Drohung die Zähne zusammen.

Milo wedelte wieder mit der Hand. »Sorg dafür, dass dieses Zeug abgeräumt wird. Ich habe zu arbeiten.«

Damit leerte er seinen Pokal und stellte ihn auf den Tisch. Ich glitt hinter das Bücherregal, stand auf und ging in Richtung Tür. Ich musste hier verschwinden, bevor die Diener …

Meine Tunika blieb an einem Buch hängen, das etwas aus dem Regal hervorstand. Der Band geriet ins Rutschen und landete mit einem dumpfen Knall auf dem Boden.

»Was war das?«, fragte Milo.

Dumm, Gemma! So dumm! Ich verfluchte meine Ungeschicklichkeit.

»Vielleicht schleicht jemand im Flur herum«, meinte Wexel leise. »Ich gehe nachsehen.«

Ich hörte ein leises Zischen, als Wexel sein Schwert zog. Aus der Bibliothek entkommen, ohne entdeckt zu werden, konnte ich nicht mehr. Also ging ich wieder in die Hocke und wechselte die Richtung, um tiefer in den Raum einzudringen.

Ich glitt von einem Regal zum nächsten. Milo stand inzwischen vor dem Kamin und sah sich suchend um, aber ich achtete darauf, dass er mich zu keinem Zeitpunkt sehen konnte.

»Wieso steht ihr da draußen herum?«, blaffte Wexel. »Kommt rein und räumt den Tisch ab.«

»Ja … Ja, Herr«, antwortete eine nervöse Stimme.

Wieder erklangen Schritte, dann betrat ein männlicher Diener die Bibliothek, gefolgt von drei weiteren. Ich zog eine Grimasse und schlich weiter, auf der Suche nach einem anderen Ausgang …

Da.

Ich eilte zu der Glastür in der hintersten Ecke des Raums und packte den Knauf. Doch kaum dass ich das Metall berührt hatte, durchfuhr ein elektrischer Schock meine Finger. Gleichzeitig fühlte sich der Türknauf seltsam kalt und feucht an, als hätte jemand mit Blitz- oder Wettermagie vor Kurzem diese Tür benutzt. Hatte noch jemand Milo ausspioniert?

Ich verzog das Gesicht, schüttelte meine Hand aus und spähte durch die Glasscheibe, doch der Raum auf der anderen Seite war kaum zu erkennen. Immer mehr Diener strömten in die Bibliothek, also blieb mir keine andere Wahl, als die Tür zu öffnen und in die Dunkelheit zu treten.

 

Ich presste mich gegen die nächstgelegene Wand und wartete, bis meine Augen sich an die düstere Umgebung gewöhnt hatten. Zu meinem Glück befand ich mich in einem leeren Wohnzimmer. Wegen all der Diener in der Bibliothek konnte ich es nicht riskieren, auf den Flur zurückzukehren. Also ging ich zur anderen Seite des Zimmers, wo es eine weitere Glastür gab. Noch bevor ich den Knauf packen konnte, erstarrte ich.

Die Tür war nur angelehnt.

Ich rief meine Magie, um herauszufinden, ob noch jemand durch den mortanischen Flügel schlich, aber ich spürte nur die Gegenwart der Diener in der Bibliothek. Da ich nicht hierbleiben konnte, glitt ich durch die offene Tür und zog sie hinter mir ins Schloss.

Ich fand mich auf dem Laufgang wieder, der um diesen Teil des Schlosses herumführte. Wachen konnte ich keine entdecken, also eilte ich über die nächstgelegene Treppe nach unten. Dann lief ich weiter und verschwand im Park, der sich hier hinter dem Schloss entlangzog.

Schloss Caldwell war nicht nur wegen des Gipfels bekannt, sondern auch wegen der außergewöhnlichen Gartenanlagen, die jeder besichtigen durfte. Der Caldwell-Park erstreckte sich über eine Länge von über einem Kilometer. Breite, flache Terrassen fielen langsam zum See in der Ferne ab. Im Sommer veranstalteten viele Leute Picknicks auf den Rasenflächen oder versammelten sich in dem Amphitheater am Seeufer, um Segelbootrennen zu beobachten. Außerdem ragte ein riesiger Leuchtturm über dem Park auf, der nachts – dank der blauen, weißen und grauen Fluorsteine, die sich in Spiralen über seine Fassade zogen – aussah wie ein riesiger Julbaum.

Tagsüber war der Park ein Meer aus Blüten und leuchtendem Grün, doch heute Nacht wirkte er dunkel und geheimnisvoll – perfekt für meine Geheimmission.

Grimley . Ich schickte den Gedanken nach oben. Ich bin im Park auf der mortanischen Seite des Schlosses. Ich gehe zum Hauptplatz. Wir treffen uns in meinen Gemächern.

Ich hörte ihn in meinem Kopf gähnen. Bisher war alles ruhig, abgesehen von diesen dämlichen Vögeln. Wusstest du, dass Strixe schnarchen, wenn sie schlafen?

Genau wie ein gewisser Gargoyle , erinnerte ich ihn.

Zumindest schnarche ich richtig. Laut, tief und volltönend. Ich gebe kein hohes, trillerndes Pfeifen von mir. Diese blöden Vögel verursachen mir Kopfweh .

Grinsend drang ich tiefer in den Park vor.

Blaue, pinke und purpurfarbene Fluorsteine begrenzten die Pflasterwege wie heruntergefallene Blütenblätter. Schmiedeeiserne Laternen mit weißen Fluorsteinen darin tauchten alles in ein fast ätherisches Licht. Trotz der späten Stunde und des kalten Windes, der durch die Pavillons am Weg pfiff, hatten sich diverse Paare hierhin zurückgezogen. Leises Gemurmel und Geräusche der Lust waberten durch die kühle Nachtluft. Der Gargoyle-Anhänger auf meiner Haut erwärmte sich, und leidenschaftliche Emotionen umhüllten mich genauso wie der Duft der Blüten.

Ich ignorierte das Brennen meiner Wangen und eilte an den Pärchen vorbei. Ich hatte fast die Treppe in der Mitte des Parks erreicht, als eine federleichte, elektrisch knisternde Gegenwart meine Aufmerksamkeit erregte.

Leonidas.

Er war … dort drüben. Ein Stück weiter im Park auf der mortanischen Seite des Anwesens. Natürlich. Es konnte einfach nichts glattlaufen.

Ich blieb stehen und starrte die Treppe an. Ich musste sie nur nach oben steigen, um den Hauptplatz zu erreichen. Von dort aus konnte ich mich mühelos zurück in den andvarischen Flügel schleichen.

Aber ich war unter anderem in den mortanischen Teil des Schlosses eingedrungen, um Leonidas zu überreden, dass er sich aus der Kampfminnetey zurückzog. Natürlich ging es mir darum, Maevens mysteriöse Pläne für mich zu durchkreuzen … Aber ich würde nicht ruhig schlafen können, wenn ich nicht wenigstens versucht hatte, den Prinzen zu überzeugen, das hinterhältige Spiel seiner Mutter nicht mitzuspielen.

Und außerdem willst du ihn wiedersehen , flüsterte eine verräterische, kleine Stimme in meinem Hinterkopf.

Ich ignorierte die Stimme und ging zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war.

Einige der Pärchen hatten sich offensichtlich abgekühlt und die Pavillons verlassen, also war es im Park viel ruhiger als kurz zuvor. Je weiter ich allerdings auf das wunderschön angelegte Gelände vordrang, desto mehr kribbelte mein Nacken. Es war, als würde ich beobachtet. Ich sah mich immer wieder um und rief auch meine Magie, doch es waren immer noch zu viele Pärchen unterwegs, von denen zu viele Gefühle ausstrahlten, als dass ich eventuelle Feinde spüren konnte, also beschleunigte ich meine Schritte.

Ich folgte den Energiefäden, die Leonidas umgaben, von einer Terrasse zur nächsten, wie das Mädchen in diesem alten Märchen, das den Brotkrumen folgt. Und genau wie dieses närrische Kind schritt ich wahrscheinlich meinem eigenen Verderben entgegen. Nur dass mich ein gut aussehender Prinz auffressen würde, keine hässliche alte Hexe.

Schließlich erreichte ich einen großen Pavillon am Ende des Weges. Das Steingeländer rund um die Plattform war mit grauen und purpurfarbenen Fluorsteinen besetzt, genau wie die rautenförmigen Säulen, die das Kuppeldach trugen. Doch mein Blick glitt an alledem vorbei und saugte sich an einer Gestalt im Schatten fest.

Leonidas.

Er trug wieder einen schwarzen Mantel über einem langen, schwarzen Reitjackett, zu einer Tunika und einer engen Hose. Hoch aufgerichtet stand er am Geländer, wobei er einen Fuß darauf gestellt hatte – wie ein Ritter, der die von ihm eroberten Ländereien überblickt. Seine Hände steckten, anders als üblich, nicht in Handschuhen, und seine Finger trommelten auf dem Heft des Zährensteinschwertes herum, das neben einem ebensolchen Dolch an seiner Hüfte hing. Beide Waffen glänzten vor seiner dunklen Kleidung in hellem Grau.

Das stimmungsvolle Leuchten der Fluorsteine betonte Leonidas’ kantiges Gesicht, sodass er noch attraktiver aussah als sonst. Fast wie eine Marmorstatue, die im Pavillon aufgestellt worden war, um bewundert zu werden – auch von mir.

Besonders von mir.

Eilig verdrängte ich diesen Gedanken, damit der Prinz ihn mittels seiner Magie nicht belauschen konnte. Dann trat ich in den Pavillon, stellte mich neben ihn und sah wie er in die Ferne.

Wir befanden uns auf einer Anhöhe, sodass wir über den Rest des Parks hinwegsehen konnten. Doch vor uns erstreckte sich keine weitere Terrasse, sondern eine Abbruchkante zum See, an deren Fuß feuchte, kantige Findlinge in die Luft standen, als bleckte ein Kraken die Zähne, um sich schon bald zu erheben und das gesamte Schloss zu verschlingen. Der Ausblick war zugleich schön und gefährlich – wie der Mann neben mir.

»Wusstest du, dass die Mortaner diesen Ort Narrenpunkt nennen?«, fragte Leonidas. »Der Legende nach hat sich vor langer Zeit ein mortanischer Prinz namens Bane unsterblich in eine Dienerin verliebt. Doch natürlich war sein Vater, der König, gegen diese Verbindung. Er hat die Dienerin hinrichten lassen. Bane war so verzweifelt, dass er sich hier von der Klippe gestürzt hat. Angeblich wurde er von einem dieser Felsen aufgespießt. Danach sind Blumen um seine Leiche gewachsen, die Narrensterne genannt werden. Die Leute behaupten, man könnte immer noch den Geist des Prinzen um den Leuchtturm wandern sehen, wo er nach seiner Liebsten ruft, wann immer der See von einem Sturm aufgepeitscht wird.«

Ich schüttelte mich. »Wieso enden mortanische Geschichten immer tragisch? Ich habe noch keine, nicht eine einzige , mit einem glücklichen Ende gehört.«

Leonidas zuckte mit den Achseln. »Vielleicht, weil wir Mortaner ein tragisches Volk sind. Weil wir immer haben wollen, was wir nicht haben können.«

Seine Worte jagten mir einen weiteren kalten Schauder über den Rücken. Ich wusste genau, wie es war, sich nach etwas zu verzehren, das man nicht haben durfte … und ein Objekt meiner Sehnsucht stand direkt neben mir.

»Ich habe auf dich gewartet«, sagte Leonidas.

»Warum? Hat dir deine Magie verraten, dass ich komme?«

»Natürlich. Aber ich wusste auch, dass du nach den Geschehnissen in der Arena auf jeden Fall kommen würdest.«

Ich knirschte mit den Zähnen. Ich hasste es, dass er mich so gut kannte; dass ich so verdammt vorhersehbar war. Aber ich hatte nicht vor, mir mein restliches Leben von Maevens Intrigen bestimmen zu lassen. Ich hatte schon so viel an sie verloren. Ich wollte nicht auch noch meine Freiheit verlieren.

»Hast du irgendwas Interessantes erfahren, als du durch den mortanischen Flügel geschlichen bist? Du warst eine ganze Weile unterwegs.« Leonidas zog den Fuß vom Geländer und drehte sich zu mir um. »Ich dachte schon, der Liladorn hätte dich vielleicht erwischt. Manchmal … spielen die Ranken mit Besuchern, genau wie sie es in Myrkvior auch tun.«

Er deutete nach rechts, wo sich mehrere Liladorn-Äste um das Geländer wanden.

Ich beantwortete seine Worte mit einem bösen Blick, dann zog ich mich eilig von den Ranken zurück. »Er hat mich gekratzt. Anscheinend hat es der Pflanze nicht gefallen, dass ich Delmira und Maeven belauscht habe. Sie haben sich wegen der Kampfminnetey gestritten.«

Leonidas seufzte. »Natürlich haben sie das getan.«

»Wusstest du, dass Maeven etwas Derartiges im Schilde führt?«, fragte ich bissig. »Habt ihr beide diese kleine Überraschung für mich zusammen geplant, so wie auf ihrem Geburtstagsball in Myrkvior?«

Leonidas seufzte erneut, diesmal noch tiefer. »Nein. Wie ich dir schon in der Arena mitgeteilt habe, hat Mutter mich nicht im Vorhinein über ihre Pläne informiert. Hätte sie das getan, hätte ich ihnen ein Ende bereitet.«

In mir keimte Hoffnung. »Du kannst ihre Pläne immer noch durchkreuzen. Du musst nicht an der Kampfminnetey teilnehmen. Sag Xenia, dass du deine Meinung geändert hast. Sie wird es verstehen.«

Er schüttelte den Kopf. »Mutter und ich haben uns vorhin mit Xenia getroffen. Laut ihr bin ich, nachdem ich die Herausforderung in der Arena angenommen habe, jetzt nach ungerischem Brauch und den Gesetzen des Gipfels dazu verpflichtet, die Aufgaben zu erfüllen.« Er hielt inne. »Oder bei dem Versuch zu sterben. Ihre Worte, nicht meine.«

Mein Magen verkrampfte sich vor Sorge. Trotz allem, was zwischen uns vorgefallen war, wollte ich nicht, dass Leonidas starb. Vielleicht war das närrisch von mir, aber Leonidas hatte in Myrkvior genauso unter Maeven und Milo gelitten wie ich – vielleicht sogar mehr. Und in Leonidas’ Jugend hatte König Maximus unaussprechliche Dinge mit ihm angestellt. Schon bei dem Gedanken an diese schrecklichen Narben auf seinem Rücken wollte ich die Hand ausstrecken und ihn trösten, selbst heute noch.

»Xenia hat mir versichert, dass man mich nicht hinrichten wird, wenn ich bei der ersten Herausforderung versage«, fuhr Leonidas fort. »Anscheinend haben sie und Königin Zariza beschlossen, nachsichtig zu sein. Sie erlauben mir, bei zwei Herausforderungen zu versagen, bevor die Ungerer mir den Kopf abhacken.«

»Wieso hast du überhaupt eingewilligt, an der Kampfminnetey teilzunehmen? Hättest du dich geweigert, hätte dir das niemand übel genommen. Alle wissen, wie manipulativ Maeven ist. Ungerische Tradition hin oder her, Xenia und Zariza hätten dir wahrscheinlich erlaubt, dich würdevoll zurückzuziehen.«

Leonidas’ Miene wurde hart, und er schob das Kinn vor. »Ich bin ein Mortaner, ein Morricone. Meine Königin hat mir eine Aufgabe übertragen. Es ist meine Pflicht, diese Aufgabe zu erfüllen und meinem Königreich Ehre zu machen.«

Ich riss frustriert die Hände in die Luft. »Du bist unmöglich. Und das warst du schon, als wir als Kinder am Fluss diesen Banditen begegnet sind.«

Die Worte sprudelten mir quasi ohne mein Zutun über die Lippen. Leonidas Morricone ging mir unter die Haut wie niemand zuvor, und dabei war meine Zunge so unkontrollierbar, wie es meine Magie oft gewesen war.

Er zog eine Augenbraue hoch. »Diese Banditen haben uns deinetwegen angegriffen. Wärst du mitgekommen, als ich dich darum gebeten habe, wären wir einfach im Wald verschwunden und nichts von alledem wäre je passiert.«

Ich riss ein weiteres Mal entnervt die Hände in die Luft. »Ich dachte, du versuchst, mich umzubringen! Mal wieder! Was hätte ich denn tun sollen?«

»Mir vertrauen, Gemma. Vertrau mir einfach.«

Seine tiefe, rauchige Stimme schlang sich wie eine Python um mein Herz und zerquetschte es fast. Das war das eigentliche Problem … und das war es immer gewesen. Egal, wie attraktiv ich Leonidas auch finden mochte, egal, wie viel gemeinsame Geschichte wir teilten und wie ähnlich wir uns waren, ich konnte ihm einfach nicht vertrauen. Die paar Male, als ich es versucht hatte, hatten katastrophal geendet – zuletzt in Myrkvior. Ich durfte dieses Risiko nicht noch einmal eingehen. Besonders jetzt, da so viel auf dem Spiel stand.

»Du weißt, dass ich das nicht kann.«

Trauer huschte über sein Gesicht. »Ich weiß.«

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen uns aus, doch irgendetwas drängte mich, einen weiteren Versuch zu starten.

»Vergiss die Idee, Morta Ehre zu machen«, sagte ich. »Wir wissen doch beide, dass unsere Pflicht überwiegend aus höfischem Unsinn besteht, der nichts zum Besseren wendet. Du weißt, wie gefährlich ungerische Bräuche sein können. Wenn du darauf bestehst, dich der Kampfminnetey zu stellen, dann wird das mit deinem Tod enden.«

»Würde dich das stören?«, fragte Leonidas leise. »Wenn ich sterbe?«

Zuerst wollte ich Nein sagen, ich wollte betonen, dass er ein Morricone war und ich eine Ripley, dass es mich also vollkommen kaltlassen würde, selbst wenn er jetzt und hier tot umfiel. Doch ich brachte diese brutalen Worte einfach nicht über die Lippen. Nein, sosehr ich mich auch bemühte: Ich konnte Leonidas nicht hassen. Nicht einmal in diesem Moment, in dem er sich wie ein dummer, sturer Narr benahm.

»Denk an Lyra.« Damit versuchte ich, der Frage auszuweichen. »Dein Tod würde sie tief treffen. Und dasselbe gilt für Delmira. Hey, vielleicht wäre sogar Maeven niedergeschlagen, zumindest für ein paar Sekunden.«

Leonidas sah mich unverwandt an. Ich atmete ein, dabei stieg mir sein Geißblatt-Duft in die Nase und sorgte dafür, dass mir der Kopf schwirrte. Irgendwann im Verlauf unseres Gesprächs war ich näher an ihn herangetreten, als zöge er mich auf irgendeine Art an. So war es zwischen uns immer schon gewesen, schon in unserer Kindheit. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass wir beide Mentalmagie besaßen, oder ob es etwas mit den blutigen Verwicklungen zwischen unseren Familien zu tun hatte. Doch irgendetwas schien uns immer zusammenzubringen – selbst wenn die Politik und alle Leute um uns herum versuchten, uns auseinanderzureißen.

»Ich verstehe, warum du mir nicht vertraust, Gemma«, sagte Leonidas voller Bedauern, und sofort spürte ich wieder dieses sinnlose Mitgefühl. »Wirklich. Ich würde mir auch nicht trauen nach allem, was geschehen ist.«

»Aber?«

»Aber die Kampfminnetey ist meine Chance, diesen Umstand endlich zu ändern.«

Er hätte mich nicht mehr überraschen können, wenn er mir sein Schwert ins Herz gerammt hätte. »Was meinst du damit?«

»Wenn ich die Kampfminnetey erfolgreich meistere, wirst du mir vielleicht endlich glauben, dass ich niemals aus freien Stücken zulassen werde, dass dir jemand Schaden zufügt. Vielleicht wirst du dabei lernen, mir zu vertrauen … und sei es nur ein klein wenig.«

Ich starrte ihn überrascht an. »Du tust … das … doch nicht für mich

Seine eisige Maske bröckelte und verschwand, an ihre Stelle trat ein bockiger Ausdruck. »Ich kann mir keinen besseren Grund vorstellen, das zu tun, als für dich

Meine Überraschung verpuffte und schlug in Wut um. Ich pikte ihn mit dem Finger in die muskulöse Brust. »Du dämlicher, arroganter Trottel! Du wirst sterben. Und wofür? Um mir etwas zu beweisen? Etwas Lächerlicheres habe ich noch nie gehört!«

Leonidas wandte den Blick keine Sekunde von mir ab. »Wie schon gesagt: Ich kann mir keinen besseren Grund vorstellen als dich, Gemma.«

Er sprach leiser, sanfter als vorhin, und seine Stimme klang heiser. Der Klang legte sich um meinen Körper wie ein warmer Mantel. Meinen Namen aus seinem Mund zu hören jagte mir ein Kribbeln über den Körper, doch diesmal stammte es nicht von Blitzen oder einer anderen magischen Macht. Nein, diesen Effekt hatte allein seine Ausstrahlung .

Ich schüttelte den Kopf. »Du musst mir nichts beweisen.«

Entschlossenheit flackerte in seinen Augen auf und ließ sie fast heller leuchten als die Fluorsteine um uns herum. »Doch, das muss ich. Ich hatte gehofft, dir meine Vertrauenswürdigkeit zu beweisen, indem ich dich nach Myrkvior gebracht habe … aber das ist nicht so gelaufen, wie ich es geplant hatte. Nun, dies ist meine zweite Chance, und ich habe vor, sie zu nutzen.«

»Eine zweite Chance, die Maeven eingefädelt hat«, hielt ich sofort dagegen. »Sie hat die Kampfminnetey nur deswegen angerufen, weil damit ihre eigenen Pläne irgendwie vorangetrieben werden. Das hat sie Delmira gegenüber vorhin zugegeben.«

Leonidas zuckte nur mit den Achseln. »Das weiß ich.«

»Aber?«

»Aber es ist mir egal«, blaffte er. »Ich will dir einfach nur beweisen, dass ich dein Vertrauen verdiene. Dir beweisen, wie sehr ich …«

Er brach ab und schluckte die nächsten Worte hinunter, ohne aber den Blick von mir abzuwenden. Die Entschlossenheit in seinen Augen schlug in etwas anderes um – ein heißeres, intensiveres Gefühl. Mein Herz raste, und mein gesamter Körper verspannte sich. Ich sehnte mich danach, dass er weitersprach … gleichzeitig aber fürchtete ich mich vor dem, was er sagen könnte.

»Wie sehr du … was? «, fragte ich schließlich schwach.

Leonidas sah mir in die Augen, konzentriert und fast hungrig – wie ein Strix, der in der Ferne Beute entdeckt hat. Ein angespanntes Schweigen breitete sich zwischen uns aus, doch ich konnte seine Gefühle spüren.

Interesse. Anziehung. Lust. Verlangen.

Alles Emotionen, die auch ich verspürte – und die ich nicht für ihn empfinden sollte. Besonders nicht hier und jetzt, zu zweit in der traumähnlichen Dunkelheit.

Ich schüttelte wieder den Kopf. »Du – das hier  – ist Wahnsinn.«

Ich wandte mich dem Ausgang des Pavillons zu, doch Leonidas ergriff meine Hand. Die Hitze seiner Haut an meiner ließ mich einen Moment erstarren, bevor ich zu ihm herumwirbelte.

»Was tust du? Du magst keine Berührungen.«

Wieder erschien dieser störrische Ausdruck auf Leonidas’ Miene. Gleichzeitig verschränkte er unsere Finger, als wollte er meinen Worten so widersprechen, obwohl wir beide wussten, dass es stimmte – und dass es den Narben auf seinem Rücken zu verdanken war.

»Ich mag es nicht, von Leuten berührt zu werden, die mir Schaden zufügen wollen«, antwortete er. »Aber zu denen gehörst du nicht.«

Ich konnte ein harsches Lachen nicht unterdrücken. »Nur für den Fall, dass du es vergessen hast: Ich habe in unserer Kindheit mehrfach versucht, dich umzubringen.«

»Oh, Gemma. Ich habe nie irgendetwas vergessen, was mit dir zu tun hat.«

Wieder hüllte mich seine Stimme ein, und ich ertappte mich dabei, wie ich mich vorlehnte. Leonidas überbrückte den Abstand zwischen uns und legte mir seine freie Hand an die Taille. Instinktiv umklammerte ich seine Schulter, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich ihn wegstoßen oder näher an mich ziehen wollte.

Gleichzeitig stiegen Erinnerungen in mir auf … daran, wie er mich das letzte Mal so gehalten hatte, auf der Tanzfläche in Myrkvior. Obwohl wir allein waren und keine Musik spielte, tanzten wir in gewisser Weise wieder. Wir beide schwankten im Takt dieses Summens, dieser Strömung, dieser Energie zwischen uns.

Leonidas sah mir tief in die Augen. In seinem dunklen Blick erkannte ich dasselbe Verlangen, das auch mich erfüllte.

»Tu das nicht«, flüsterte ich, doch gleichzeitig drückte ich seine Finger fester, und mein Herz raste.

»Ich kann es nicht lassen«, antwortete er. »Nicht mehr.«

Damit zog Leonidas mich näher und senkte seinen Mund auf meinen.