23

Ich stand am mortanischen Tisch und gab mein Bestes, meine Miene ausdruckslos zu halten, als wäre es absolut nichts Besonderes, dem Prinzen das Leben zu schenken. Der Applaus verklang langsam, doch die Leute blieben in der Arena, weil sie sehen wollten, was als Nächstes geschah.

Ein mortanischer Soldat eilte heran und stieg die Stufen zur Plattform hinauf. Maeven winkte ihn zu sich, dann flüsterte der Mann ihr etwas ins Ohr. Die Nasenflügel der Königin blähten sich, und Wut strahlte von ihr aus. Was ging hier vor sich?

Maeven murmelte irgendetwas. Der Mann nickte und verschwand eilig durch ein offenes Tor in der Wand der Arena.

Dann richtete sie den Blick auf Wexel und schnippte mit den Fingern. »Bringt Leonidas zu einem Knochenmeister und stellt sicher, dass niemand mehr versucht, meinen Sohn zu ermorden.«

Der Hauptmann machte Anstalten, die Plattform zu verlassen, doch die Königin hielt ihn mit einem scharfen Blick auf.

»Enttäusche mich nicht, Wexel«, sagte Maeven mit eisiger Wut in der Stimme. »Sonst werde ich deinen Kopf ausstopfen lassen und wie eine Trophäe an die Wand hängen.«

Wexel wurde bleich, doch er sprang von der Plattform und eilte davon. Innerhalb von Sekunden hatte der Hauptmann Leonidas erreicht, begleitet von einem halben Dutzend mortanischer Soldaten. Die Männer formten einen schützenden Ring um den Prinzen und führten ihn durch ein offenes Tor in die Eingeweide der Arena.

»So amüsant es auch anzusehen war, wie Leonidas Prügel bezieht, ich habe Wichtigeres zu erledigen.« Milo schnippte genauso mit den Fingern, wie Maeven es getan hatte. »Komm, Corvina.«

Er verließ den Tisch, ohne sich ein einziges Mal nach seiner Verlobten umzudrehen. Corvina biss die Zähne zusammen und erdolchte Milo quasi mit Blicken, folgte ihm allerdings trotzdem.

Damit blieben Maeven und ich allein auf der mortanischen Plattform zurück.

»Du solltest glücklich sein«, meinte ich gepresst. »Du hast bekommen, was du wolltest. Leonidas hat eine weitere Herausforderung überstanden.«

Maeven bedachte mich mit einem fast mitleidigen Blick. Noch schlimmer aber war, dass genau dieses Gefühl auch von ihr ausstrahlte. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, um die warme Emotion zu ertragen.

»Leonidas mag die zweite Herausforderung überlebt haben. Dennoch habe ich nicht bekommen, was ich wollte.« Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«

Noch nicht? Was sollte das bedeuten? Ich wusste nicht, was ich ihr auf ihre mysteriösen Worte entgegnen sollte, also ging ich um die mortanische Königin herum und stapfte die Stufen nach unten zum andvarischen Tisch.

Delmira kam mir auf halber Strecke entgegen. »Danke, dass du Leos Leben verschont hast«, murmelte sie.

Ich war so erschöpft, dass ich nur nickte. Dann ging ich weiter. Vater und Rhea standen vor den Stufen und waren umringt von andvarischen Wachen.

»Ich habe Männer in die oberen Ebenen geschickt, damit sie nach Hinweisen auf den Attentäter suchen.« Rhea hielt den Dolch in der Hand, und ihre Augen huschten auf der Suche nach potenziellen Bedrohungen ständig von rechts nach links.

Vater zog mich in eine Umarmung, dann hielt er mich auf Armlänge vor sich und musterte mich kritisch von oben bis unten. »Gemma? Geht es dir gut?«

»Wunderbar«, log ich.

»Was ist geschehen? Was hat Maeven über den Attentäter gesagt?«

»Die Attentäter«, stellte ich richtig.

Ich zog Vater und Rhea zur Seite und erzählte ihnen von allem, was am mortanischen Tisch geschehen war – auch von den Gedanken und stummen Drohungen, die ich belauscht hatte. Und auch davon, wie überrascht Maeven gewesen war, als die Gladiatoren versucht hatten, Leonidas zu töten, statt ihn nur zu verwunden.

Vater runzelte die Stirn. »Was glaubst du, wer diesen Gladiatoren befohlen hat, Leonidas umzubringen? Milo?«

»Da können wir uns nicht sicher sein, aber er ist der offensichtlichste Verdächtige. Auf jeden Fall will er Leonidas tot sehen.«

Den Attentäter mit der Armbrust erwähnte ich nicht. Dank des Bildes, das ich in dem Moment empfangen hatte, als der Bolzen sein Ziel gefunden hatte, wusste ich genau, wer hinter diesem Angriff steckte – auch wenn ich mich immer noch fragte, wie ich mit dieser Information umgehen sollte.

Maeven und Delmira waren in den Innenräumen der Arena verschwunden, genau wie die mortanischen Wachen. Xenia, Zariza, Ruri und Tatsuo waren allerdings noch anwesend, alle umgeben von Soldaten. Obwohl Leonidas das Ziel des Angriffs gewesen war, wollten die Herrscher offensichtlich kein Risiko eingehen.

Xenia winkte uns heran, und wir gingen zu ihr und den Königinnen.

Eine Bewegung erregte meine Aufmerksamkeit. Reiko stand auf der Loge im ersten Stock und winkte mir zu.

Geht es dir gut? Ich hörte den Gedanken in meinem Geist.

Für den Moment. Wir reden später, ja?

Reiko nickte und verschwand in der Menge.

Ich sah erneut die anderen Herrscherinnen an. Zariza wirkte tief in Gedanken versunken, genauso wie ihr innerer Oger. Ruri und ihr Drache zeigten eine ähnlich nachdenkliche Miene, während Tatsuo an einem losen Faden seiner zerknitterten, roten Jacke herumspielte. Er bemerkte meinen Blick und senkte eilig die Hand. Kai sah mit ausdrucksloser Miene zwischen Tatsuo und mir hin und her.

Xenia räusperte sich. »Eine von Zarizas Wachen hat mich über einen verstörenden Vorfall informiert. In einer der Umkleiden wurde ein Dutzend Leute tot aufgefunden. Es scheinen mortanische Wachen zu sein. Maeven wird sie identifizieren.«

Also hatte jemand Maevens Wachen ermordet und gegen eigene Leute ausgetauscht, um Leonidas während der Herausforderung töten zu können. Ein dreistes, riskantes Vorgehen … das durchaus hätte Erfolg haben können, wenn Leonidas kein so guter Krieger oder so mächtiger Magier gewesen wäre.

»Wie sind die Wachen gestorben?«, fragte ich.

»Vergifteter Wein«, antwortete Xenia. »In der Umkleide wurden mehrere leere Flaschen gefunden.«

»Welche Art von Gift?«, fragte Ruri.

Xenia zuckte mit den Achseln. »Das wissen wir nicht. Und ich bezweifele, dass Maeven ihre Erkenntnisse oder die ihrer Leute mit mir teilen wird.«

»Also lasst ihr die Mortaner einfach die Leichen wegräumen … und das war’s?«

Xenia zuckte wieder mit den Schultern. »Nach den Regeln des Gipfels ist die Arena neutrales Territorium. Jedes Königreich kümmert sich selbst um jegliche Vorfälle, die ihre eigenen Leute betreffen – auch Morde. Also ist es Maevens Verantwortung, dieses Chaos zu klären.«

Gift bedeutete, dass jemand von langer Hand geplant hatte, die mortanischen Gladiatoren zu töten; so wie jemand auch mit viel Mühe und Geschick dafür gesorgt hatte, dass Maevens Sangria beim Abendessen vergiftet wurde. Der Angriff auf Leonidas und mich im Park gestern Abend konnte hingegen auf keinen Fall vorausgeplant gewesen sein. Schließlich hatte nicht einmal ich selbst gewusst, wann und wo ich den Prinzen treffen würde. Trotzdem hatten alle Attacken ein Ziel gehabt: den Tod von Maeven und Leonidas.

Ich zermarterte mir den Kopf, wer wohl am meisten von Maevens und Leonidas’ Tod profitieren würde. Die offensichtlichste Antwort war natürlich Milo. Wenn seine Mutter und sein Bruder aus dem Weg waren, könnte er den Thron von Morta besteigen und endlich seine scheußlichen Pläne für Andvari in die Tat umsetzen … wie auch immer diese aussehen mochten. Corvina würde ebenfalls profitieren und zur Königin von Morta aufsteigen – allerdings nur, falls Milo die Verlobung in Ehren hielt und die Adelige tatsächlich heiratete. Doch selbst dann wäre Corvina nur eine Galionsfigur – die wahre Macht läge in Milos Händen.

Milo war aber nicht der einzige Verdächtige. Ruri und Tatsuo hatten klargestellt, dass sie eine Verlobung zwischen den Häusern Ripley und Morricone nicht guthießen. Leonidas im Verlauf der Kampfminnetey zu ermorden, wäre eine Möglichkeit, den Status quo zwischen Ryusama, Morta und Andvari zu wahren.

Und was Zariza anging … nun, die ungerische Königin hatte ganz eigene Gründe, Maeven zu hassen. Doch so, wie ich Zariza kannte, hätte sie Maeven statt mit Gift lieber selbst getötet, mit den Zähnen und Klauen ihres Ogers. Trotzdem war Zariza durchaus fähig, einen Mordanschlag zu planen.

Und dasselbe galt für meinen Vater.

Ich musterte meinen Vater, der sich leise mit Rhea unterhielt. Vielleicht war es falsch, die eigene Familie zu verdächtigen, aber ich konnte ihn nicht aus der Gleichung herausnehmen. Kronprinz Dominic Ripley hätte so gut wie alles getan, um seine Erbin Prinzessin Gemma aus Maevens Einflussbereich zu halten – besonders, da er mich beim Sieben-Türme-Massaker nicht hatte beschützen können.

»Nun, ich freue mich, dass Maeven sich mit diesem Vorfall herumschlagen muss«, meinte Ruri. »Dominic, Zariza, wir sehen uns morgen früh, um unsere Verhandlungen fortzuführen.«

Die Herrscher nickten einander zu, dann entfernte sich Ruri, gefolgt von Tatsuo, Kai und den ryusamanischen Wachen.

»Was für ein Schlamassel«, murmelte Vater. »Das hatte ein friedlicher Gipfel werden sollen, keine Abfolge von Mordanschlägen.«

Zariza warf sich ihr langes, rotes Haar über die Schultern. »Nun, spielt es wirklich eine Rolle, solange niemand versucht, dich, mich oder Ruri zu ermorden? Vielleicht haben wir ja Glück und irgendwem gelingt es endlich, Maeven zu erledigen.«

Vater schenkte ihr ein schwaches Lächeln, das schnell verblasste. »So gerne ich Maeven tot vor meinen Füßen liegen sähe, Milo wird im Umgang kaum einfacher sein.«

Zariza zuckte mit den Achseln. »Der Umgang mit den Morricones ist nie leicht.«

Xenia räusperte sich. »Ich fürchte, die zweite Herausforderung ist noch nicht ganz vorbei.« Sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu.

Ich seufzte. »Welche neue Folter erwartet mich jetzt?«

»Laut den Regeln der Kampfminnetey erhält Leonidas für jede Herausforderung, die er gewinnt, einen Gunstbeweis«, antwortete Xenia. »Er möchte gerne mit dir sprechen – allein.«

Vater schüttelte den Kopf. »Nein. Auf keinen Fall.«

Xenia warf auch ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Ich fürchte, wenn du oder Gemma ihm diese Gunst verweigert, habe ich keine andere Wahl, als den Rest der Kampfminnetey für verwirkt und Leonidas zum Sieger zu erklären.«

Vater öffnete den Mund, um mit Xenia zu diskutieren, aber ich legte ihm sanft meine Hand auf den Arm. »Es ist in Ordnung. Ich werde mit Leonidas reden. Ich möchte sowieso ein paar Dinge mit ihm besprechen.«

Wie zum Beispiel, wer seiner Vermutung nach die mortanischen Wachen vergiftet und versucht hatte, ihn zu ermorden.

Vater legte den Kopf schief, als hätte er in meiner Miene etwas entdeckt, was ihm bisher noch nie aufgefallen war. »In Ordnung«, murmelte er. »Geh und sprich mit Leonidas. Aber ich erwarte beim Frühstück einen umfassenden Bericht.«

»Natürlich.«

Vater musterte mich noch einen Moment, dann entfernte er sich. Rhea und die andvarischen Wachen folgten ihm. Zariza und ihre Männer verschwanden ebenfalls. Ein paar der ungerischen Soldaten blieben zurück, doch Xenia bedeutete ihnen, sich ebenfalls zurückzuziehen. Damit blieben die Ogermorphin und ich allein zurück.

Die Arena war in den letzten Stunden so voll gewesen, so laut, dass die Leere des Gebäudes fast unheimlich wirkte. Es war, als wäre der Arena das Herz herausgerissen worden, sodass nur die leeren Rippenbögen übrig blieben.

Ich senkte den Blick. Bisher hatte die Leichen der Gladiatoren noch niemand entfernt oder das Blut aufgewischt. So weit das Auge reichte, erstreckten sich scharlachrote Flecken am Boden.

Zitternd sah ich Xenia an. »Ich nehme an, du erklärst mir jetzt, dass ich Leonidas hätte töten sollen, als sich mir die Chance dazu geboten hat.«

Xenia zuckte mit den Achseln. »Er hat dir die Möglichkeit gegeben, und du hast eine andere Wahl getroffen.«

»Willst du mir nicht sagen, was für eine Närrin ich bin?«, fragte ich verbittert. »Weil ich beschlossen habe, Maevens Sohn zu verschonen? Besonders, wenn man bedenkt, was sie meiner Familie alles angetan hat?«

Xenias Schultern hoben und senkten sich ein weiteres Mal. »Gnade walten zu lassen, zeugt nicht von Schwäche, Gemma. Manchmal fällt es viel schwerer, freundlich zu sein als grausam. Das wissen wir doch beide.«

Ja, das wussten wir. Manchmal vergaß ich, dass Xenia ihre eigenen Abenteuer durchlebt und sich über die Jahre eigenen Herausforderungen und Feinden gestellt hatte.

»Was ist mit der dritten Herausforderung? Beinhaltet sie noch mehr Kämpfe für Leonidas?«

»Ja, auch wenn es mehr darum geht, Hindernisse zu überwinden, als sich mit Gladiatoren zu messen. Aber mach dir kein Sorgen. Jetzt, da ich weiß, dass jemand Leonidas ins Visier genommen hat, werde ich Vorkehrungen treffen, damit sich niemand einmischen oder einen weiteren Mordanschlag verüben kann.« Xenias Miene wurde hart, und der Oger an ihrem Hals bleckte in einem stummen Knurren die Zähne. »Niemand hat das Recht, eine ungerische Tradition zu stören. Nur Leonidas’ eigenes Können wird darüber entscheiden, ob er die Kampfminnetey gewinnt oder verliert.«

»Leonidas ist nicht das einzige Ziel. Irgendjemand will auch Maeven tot sehen.« Ich erzählte ihr von der vergifteten Sangria.

Xenia trommelte mit den Fingern auf den silbernen Ogerkopf am Knauf ihres Gehstocks. »Ich wusste doch, dass du nicht einfach nur ungeschickt warst. Mir war nur nicht klar, dass du damit Maeven retten wolltest.«

»Dumm, ich weiß.«

»Manchmal ist es schlimmer, wenn jemand stirbt, als wenn diese Person weiterlebt. So sehr ich Maeven verabscheue, sie ist ihrem Volk eine gute Herrscherin.« Xenia hielt inne. »Soweit eine Morricone jemals eine gute Herrscherin sein kann.«

Ich schnaubte amüsiert, doch das Geräusch verhallte in der leeren Arena schnell. »Was passiert, wenn Leonidas die dritte Herausforderung morgen erfolgreich abschließt? Werde ich gezwungen, ihn sofort zu heiraten?«

»Die Kampfminnetey wurde geschaffen, um Geliebten die Möglichkeit zu bieten, gegen den Widerstand ihrer verfeindeten Familien zu heiraten«, antwortete Xenia. »Später wurde sie angerufen, um Auseinandersetzungen zu klären und unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Das Ritual sollte nie als Waffe eingesetzt werden … aber natürlich hat Maeven es zu diesem Zweck instrumentalisiert.«

Ich öffnete den Mund, um eine echte Antwort auf meine Frage zu verlangen, doch der Oger an Xenias Hals schüttelte den Kopf. Egal, wie nahe wir uns stehen mochten, mehr würde meine Freundin nicht preisgeben. Wieder einmal verfolgte Xenia ihre eigenen langfristigen Pläne, genauso wie Maeven. Und Leonidas und ich saßen zwischen allen Stühlen.

»Ich frage mich, was Maeven zu gewinnen hofft«, murmelte Xenia.

»Was meinst du?«

»Dich und Leonidas auf diese Weise in eine Ehe zu zwingen, stellt ein großes Risiko für sie dar. Manchmal nimmt die Kampfminnetey zwar ein gutes Ende …«

»Aber?«

»Meistens nicht. Entweder es wird jemand während der Herausforderungen getötet oder … kurz danach. Wieso also sollte Maeven das Leben ihres Sohnes auf diese Weise aufs Spiel setzen?« Xenia zog fragend eine Augenbraue hoch. »Es sei denn, sie weiß etwas über Leonidas und dich, was ich nicht weiß?«

Ich wich ihrer Frage genauso geschickt aus wie sie meiner. »Du weißt, dass Leonidas und ich uns als Kinder in den Nadelbergen begegnet sind. Dass er mich im Wald an eine verräterische Wache übergeben hat. Und ich habe dir alles erzählt, was in Myrkvior zwischen uns vorgefallen ist. Dass er mich wie eine Närrin vorgeführt hat, obwohl er meine wahre Identität kannte.«

»Du hast eine viel kompliziertere Vorgeschichte mit Leonidas als die meisten Teilnehmer der Kampfminnetey.«

»Leonidas hat mir mitgeteilt, er würde die heutige Herausforderung nicht verlieren, weil das Schicksal und die Vorsehung auf seiner Seite sind.« Ein bitteres Lachen drang über meine Lippen. »Manchmal glaube ich, er ist ein noch größerer Narr als ich.«

»Vielleicht nicht Schicksal oder Vorsehung«, hielt Xenia dagegen. »Aber er hat dich auf seiner Seite.«

Und das gehörte zu den Dingen, die mich am allermeisten nervten – dass Leonidas Morricone immer irgendwie die Oberhand gewann.

»Nun, ich nehme an, ich sollte meinen Geliebten besuchen. Ich will doch nicht, dass Maeven mich wegen eines Regelbruchs in eine Ehe zwingen kann.«

Xenia gluckste bei meinem sarkastischen Humor. »Die Knochenmeister sollten ihn inzwischen geheilt haben. Möchtest du, dass ich dich begleite?«

»Ich finde ihn schon.« Ich hatte Xenia bereits zu viel preisgegeben und brauchte ein paar Minuten für mich.

»In Ordnung«, antwortete sie. »Ich werde die Arena von Soldaten durchsuchen lassen, um sicherzustellen, dass hier niemand mehr herumlungert. Und ich postiere ein paar Männer vor den Eingängen, damit euch niemand stört.«

Ich packte ihre Hand. »Danke, Xenia.«

Sie drückte meine Finger, dann riss sie ihren Gehstock hoch und stach mich damit in die Schulter.

»Aua!« Ich rieb mir die schmerzende Stelle. »Wofür war das?«

»Das war eine Erinnerung, keine Närrin zu sein, wenn es um Leonidas geht.«

Ich schnaubte. »Ich fürchte, dafür ist es zu spät.«

»Nur wenn du das verschwendest, was dir geschenkt wurde.«

Nach diesen mysteriösen Worten stapfte Xenia davon. Das stetige Klopfen ihres Gehstocks hallte in meinen Ohren wider, als würden Nägel in einen Sarg geschlagen.

In meinen Sarg, schließlich hatte ich bereits alle bisherigen Kämpfe gegen Leonidas Morricone verloren.

 

Ich wartete, bis das Klopfen von Xenias Stock und der Hall ihrer Schritte verklungen waren, dann hob ich meine Magie und suchte nach Leonidas’ heißer, knisternder, federleichter Gegenwart. Er war … dort drüben .

Ich verließ das Rund der Arena, trat durch ein offenes Tor und wanderte durch einen Tunnel. Von dem langen Flur zweigten mehrere kleine Gänge ab, die sich um die Arena zogen. Türen waren in die Wände eingelassen. Ich begegnete niemandem, auch wenn ich Xenias Wachen in der Ferne spüren konnte.

Schließlich erreichte ich eine geschlossene Tür in der Nähe des Flurs. Ich rief erneut meine Magie, aber Leonidas war die einzige Person, die sich auf der anderen Seite aufhielt. Gut. Ich verspürte wirklich keinerlei Bedürfnis, heute Abend gegen noch mehr Attentäter zu kämpfen. Ich atmete einmal tief durch, um meine aufgewühlten Emotionen zu beruhigen. Dann betrat ich den Raum und verriegelte die Tür hinter mir.

Diese Umkleide ähnelte auf unheimliche Weise allen anderen, die ich im Schwarzen Schwan und anderen Arenen in Bellona und Andvari gesehen hatte. An den Wänden standen Garderobenständer mit unzähligen farbenfrohen, paillettenbesetzten Kostümen sowie Schminktische voller Tiegel und Fläschchen. Große Holzbälle, Reifen und andere Requisiten bildeten einen unordentlichen Stapel in einer Ecke, während in einer anderen Ecke gut gefüllte Waffenregale standen.

Mein Blick fand Leonidas, der auf einem großen, grauen Samtsofa saß. Als ich auf ihn zuging, erhob er sich.

Leonidas’ trug kein Hemd und war barfuß, aber immerhin hatte er eine lockere schwarze Hose an. Die Knochenmeister hatten seinen Wunden geheilt, also verunzierten weder Schnitte noch Prellungen seine Haut. Allerdings strahlte der Prinz eine tiefe Erschöpfung aus. Seine zerstörte Gladiatorenkleidung hing über dem Rand einer Porzellanwanne, in der pinkfarbenes Wasser stand. Bei dem Anblick verzog ich das Gesicht.

Meine Augen wanderten erneut zu Leonidas, dann sah ich in den Schminkspiegel am Tisch hinter ihm. Die Knochenmeister hatten die Wunden geheilt, die er heute davongetragen hatte, aber über seinen Rücken, von seinen Schultern bis zum Hosenbund, zogen sich alte, weiße Narben. Die meisten waren lang und dünn: Es waren die Hinterlassenschaften der Peitsche, mit der König Maximus ihn in seiner Kindheit traktiert hatte. Hier und dort gab es aber auch Brandmale und andere, größere Narben, die von Folterwerkzeugen stammten, die ich mir nicht einmal vorstellen wollte.

»Bist du gekommen, um die Sache zu Ende zu bringen?« Leonidas deutete auf das Schwert, den Dolch und den Schild, die auf einem Tisch lagen.

Sein Tonfall klang locker, doch er wirkte wachsam und ernst. Erinnerungen an die wilden Angriffe der Gladiatoren strahlten von ihm aus und ließen Bilder in meinem Geist aufsteigen. Auch wenn Leonidas seine Äußerung als Scherz verpackt hatte … seine Erschütterung nach den Geschehnissen in der Arena war offensichtlich. Die Echos all der brutalen Schläge, die er eingesteckt hatte, hallten in meinen Ohren wider, sodass ich sie in meinem Herzen spürte. Wieder verzog ich das Gesicht.

»Xenia hat mich geschickt. Sie meinte, du möchtest mit mir reden, als eine Art Gunst, weil du die zweite Herausforderung überlebt hast.«

»Ah. Also triffst du mich nur, weil du musst, nicht, weil du willst«, meinte er matt.

Im Grunde war ich wirklich nur gezwungenermaßen hier. Ich war – genau wie er – an die Regeln der Kampfminnetey gebunden. Und ich hatte nicht vor, Leonidas – und damit Maeven – durch ein Fehlverhalten meinerseits zu einem einfachen Sieg zu verhelfen. Doch ein Teil von mir wollte sicherstellen, dass es ihm gut ging. Dieses Bedürfnis überraschte und verunsicherte mich, aber das hätte ich niemals zugegeben – vor allem nicht ihm gegenüber.

Leonidas sah mich unverwandt an. Ich trat von einem Fuß auf den anderen, weil mir seine Musterung unangenehm war, dann sagte ich das Erste, was mir in den Sinn kam.

»Irgendjemand hat beim Abendessen versucht, Maeven zu vergiften.«

Seine Miene wurde hart. »Erzähl mir davon.«

Leonidas lauschte meiner Geschichte. Mit jedem Wort strahlte mehr Wut von ihm aus. »Verdammter Milo«, blaffte er schließlich. »Er wird erst glücklich sein, wenn Mutter und ich beide den Tod gefunden haben. Und Delmira. Dann steht ihm auf dem Weg zum Thron von Morta niemand mehr im Weg.«

»Es könnte auch jemand anderer Maevens Sangria vergiftet haben«, merkte ich an. »Und dasselbe Gift gegen die mortanischen Wachen eingesetzt haben, die eigentlich in der Gladiatoren-Herausforderung kämpfen sollten.«

Den Attentäter, der den Bolzen auf ihn abgeschossen hatte, erwähnte ich nicht, da ich genau wusste, wer dafür verantwortlich war – auch wenn ich noch keine Ahnung hatte, was ich mit dieser Information anfangen sollte.

»Stimmt«, gab Leonidas zu. »Unzählige Leute hassen Maeven Morricone. Aber wir beide wissen doch, dass Milo der Hauptverdächtige ist. Er und Mutter spielen ein tödliches Spiel miteinander. Delmira und ich haben einfach das Pech, im Kreuzfeuer zu stehen.« Er hielt inne. »Zusammen mit dir. Und das tut mir wirklich leid, Gemma. Manchmal habe ich das Gefühl, ich müsste mich ständig dafür entschuldigen, wie schrecklich meine Familie ist.«

Leonidas fuhr sich in einer seltenen Geste der Frustration mit den Fingern durch die Haare. Bei der Bewegung rannen ein paar Tropfen Wasser aus seinen schwarzen Locken und tropften auf seine muskulöse Brust. Mein Magen machte einen Sprung. Es juckte mich in den Fingern, der Spur dieser Tropfen über seinen wunderbaren Körper zu folgen. Ich grub die Fingernägel in die Handfläche, um diesen Impuls zu vertreiben, doch es funktionierte nicht.

Wenn es um Leonidas Morricone ging, schien verdammt noch mal nie irgendwas zu funktionieren.

Er zögerte, dann senkte er die Hand. »Eine Sache wüsste ich allerdings gerne.«

»Was?«

»Wieso hast du den Attentäter davon abgehalten, mich zu töten?«

Obwohl ich mit der Frage gerechnet hatte, versteifte ich mich. Denn ich wollte nicht antworten. Ich wollte die Worte nicht laut aussprechen … vor allem nicht Leonidas gegenüber. Das wäre eine noch größere Niederlage als all die ungewollten Gefühle, die ich in der Arena so offen zur Schau gestellt hatte.

Ich zuckte lässig mit den Schultern. »Ich konnte nach deiner fantastischen Demonstration von Mut, Stärke und Kampfgeist kaum zulassen, dass du ermordet wirst. Wärst du getötet worden, so hätte das Publikum randaliert.«

Leonidas’ Miene blieb ausdruckslos, aber der Schmerz, der von ihm ausstrahlte, traf mich mitten ins Herz. »Und ich dachte schon, du hättest dir tatsächlich Sorgen um mich gemacht.«

Ich schnaubte. »Wie du in der Arena bewiesen hast, kannst du sehr gut auf dich selbst aufpassen.«

»Sicher, aber es ist … schön zu wissen, dass ich irgendeiner Person so viel bedeute, dass sie mich beschützen will.« Seine leisen Worte jagten mir einen Schauder über den Rücken. Er musterte mich mit brennendem Blick.

»Verwechsle Notwendigkeit nicht mit Wahl«, blaffte ich. »Ich saß am mortanischen Tisch, schon vergessen? Wärst du getötet worden, hätte Maeven mich als Rache wahrscheinlich mit ihren Blitzen beschossen.«

»Vielleicht«, stimmte er zu. »Aber ich weiß trotzdem zu schätzen, dass du mir das Leben gerettet hast. Ich stehe in deiner Schuld, Gemma. Es scheint, als versänke ich immer tiefer in deiner Schuld … als versänke ich tiefer und immer tiefer in dir

Mir zog sich das Herz zusammen. »Sag nicht solche Sachen.«

»Was für Sachen?«

»So was«, knurrte ich. »Nette Sachen, süße Sachen, wunderbare Sachen, die du nicht wirklich meinst.«

Leonidas schob sich näher heran, bis nur noch wenige Zentimeter zwischen uns lagen. Die Hitze, die von seinem Körper ausstrahlte, wärmte meine Haut. Ich ballte die Hände zu Fäusten und hielt die Stellung. Ich hatte mir vor Wochen geschworen, dass ich nicht vor ihm fliehen würde – niemals wieder, egal, welche unerwünschten Gefühle er in mir auslösen mochte.

Leonidas’ Augen brannten wie Amethyste im Feuer. »Über dich sage ich niemals Dinge, die ich nicht meine, Gemma. Das habe ich nie getan, und das werde ich auch nie tun.«

»Ich glaube dir nicht«, blaffte ich, auch wenn mir Überzeugungskraft fehlte.

»Früher oder später wirst du mir glauben müssen … oder mich umbringen.«

»Nun, dann hätte ich dem Meuchelmörder vorhin vielleicht erlauben sollen, seine Arbeit zu erledigen.«

Sein Frust war deutlich zu erkennen. »Vielleicht hättest du das tun sollen. Dann wäre ich wenigstens von meinem Elend erlöst.«

»Welches Elend?«

»Das Elend, dich so verdammt allumfassend zu begehren und doch zu jeder Gelegenheit von dir zurückgewiesen zu werden.« Er presste die Worte hervor, als rissen sie ihm ein Loch ins Herz.

Meine Augen weiteten sich. Schock und Unglaube stiegen in mir auf. Trotz allem, was geschehen war, trotz allem, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, sowohl als Kinder als auch in den letzten Wochen, war dies das erste Mal, dass er mir ganz offen und kühn seine Gefühle gestand … wie auch immer sie wirklich aussehen mochten.

Ich schüttelte den Kopf und bemühte mich, das Rasen meines Herzens zu ignorieren. »Du willst mich nicht. Nicht wirklich. Ich bin nur unerreichbar … und du liebst die Herausforderung. Du bist – wie ich – von königlichem Geblüt. Wir wollen immer die wenigen Dinge, die wir nicht haben können.«

»Das ist nicht wahr, und das weißt du auch. Wir haben eine Verbindung zueinander, schon seit wir Kinder waren. Ich habe sie damals gespürt, und heute spüre ich sie nur deutlicher.«

Ich schüttelte wieder den Kopf. »Du verwechselst unsere Magie und unsere gemeinsame Geschichte mit etwas anderem, du interpretierst zu viel hinein.«

»Ich war in meinem Leben keine Sekunde verwirrt von dem, was ich für dich empfinde, Gemma.«

Leonidas’ tiefe, heisere Stimme umhüllte mich von Kopf bis Fuß und wärmte mich wie ein weicher Mantel. Gleichzeitig trafen seine Worte mich mitten ins Herz. Trotzdem gab ich mein Bestes, die Gefühle zu verdrängen … so wie immer.

»Was auch immer du für mich empfindest, es ist nicht real. Das kann es nicht sein. Zwischen einem Morricone und einer Ripley kann es nichts anderes geben als den Tod.«

Leonidas ergriff meine Hand, wie er es schon so oft getan hatte, und legte meine Finger dann auf seine nackte Schulter. Das Kribbeln in meinen Fingerspitzen nahm zu, genau wie der Drang, seine Haut zu streicheln. Leonidas legte mir eine Hand an die Taille, dann fing er auch meine andere Hand ein.

»Was … was tust du?«, fragte ich heiser.

»Erinnerst du dich daran, wie wir im Thronsaal von Myrkvior miteinander getanzt haben?«, fragte er, und wieder umhüllte mich seine Stimme. »Ich schon. Ich erinnere mich an jedes Detail. Daran, wie die Farbe deines Kleides deine Augen zur Geltung gebracht hat. An deinen Geruch … eine Mischung aus frischem Flieder und Magie. An deine Haltung. Daran, wie du dich bewegt hast, im Einklang mit mir.«

In seinen Augen brannte so ein helles Feuer, dass sie strahlten wie Sterne. Und ich musste feststellen, dass ich unfähig war, den Blick von ihm abzuwenden.

»Ich glaube, du hast an diesem Abend dasselbe empfunden wie ich«, sagte Leonidas.

Er setzte sich in Bewegung, schwankte leicht von rechts nach links. Entgegen meiner besten Absichten folgte ich seiner Führung, bis wir in der Umkleide tanzten – zu einer Musik, die nur in unserem Kopf existierte.

»Vielleicht habe ich all das empfunden«, gab ich zu. »Vielleicht habe ich sogar darüber nachgedacht, den Gefühlen nachzugeben … besonders gestern Abend im Pavillon.«

Wir erreichten ein Crescendo der Phantommusik. Leonidas wirbelte mich von sich weg, um mich dann wieder an sich zu ziehen.

»Aber?«, fragte er, als wir den Tanz fortsetzten.

»Aber zwischen uns kann niemals etwas geschehen.«

»Warum nicht?«

Ich stieß ein genervtes Seufzen aus. »Weil deine Mutter diverse Male versucht hat, mich zu ermorden, und weil sie es zweifellos erneut versuchen wird. Ich weiß nicht, welche langfristigen Pläne Maeven verfolgt, aber ich glaube nicht, dass sie wirklich will, dass wir uns verloben … und erst recht nicht heiraten.«

»Ich habe es schon vor Langem aufgegeben, Mutters Pläne verstehen zu wollen.« Entschlossenheit strahlte aus seinen Augen. »Aber ich weiß, was ich will … und das bist du, Gemma.«

Leonidas trat noch näher an mich heran. Ich packte seine Schulter fester und verschränkte die Finger der anderen Hand mit seinen. Das Gefühl seiner Haut an meiner war berauschend – er war berauschend, besonders dieser Duft nach Geißblatt, der das Verlangen in meinen Adern mit jedem Atemzug höher kochen ließ.

»Und was, wenn ich dich nicht will?«, fragte ich flüsternd.

Sofort ließ Leonidas mich los. »Dann werde ich Abschied von dir nehmen und meine Mutter überzeugen, ihre Intrige abzubrechen. Es ist deine Wahl, Gemma. Es war immer deine Wahl.«

Doch das stimmte nicht ganz. Mein verräterisches Herz hatte diese Entscheidung schon vor langer Zeit getroffen. Selbst jetzt hämmerte es in meiner Brust und bemühte sich redlich, meinen gesunden Menschenverstand zu übertönen.

Als Mentalmagierin empfand ich immer zu viel  … und in Bezug auf Leonidas Morricone traf das besonders zu. Als er heute Abend auf dem Kampfplatz gestanden hatte, umgeben von Gladiatoren, hatte ich geglaubt, ich müsste ebenfalls sterben, falls er getötet werden sollte. Und dasselbe hatte ich empfunden, als der Attentäter ihn ins Visier genommen hatte. Und zweifellos würde ich morgen bei der dritten Herausforderung ebenso empfinden.

Doch heute Abend war er gesund und hier bei mir. Und ich war es so verdammt leid, mir zu versagen, was alle so deutlich sehen konnten, ich selbst eingeschlossen. Also ignorierte ich zur Abwechslung einmal meinen Kopf und gab mich den Gefühlen meines Herzens hin.

Ich trat vor und presste meine Lippen auf seine.