Endlich fand ich einen der Ausgänge und verließ die Arena. Die Nacht war hereingebrochen, und es war so kalt, dass ein paar Schneeflocken vom Himmel trudelten. Zitternd schlang ich mir die Arme um den Körper, als ich in den andvarischen Flügel zurückkehrte.
Es war fast Mitternacht, also waren die Flure leer – bis auf ein paar Wachen, die zu umgehen mir leichtfiel. Ohne jemandem zu begegnen, kehrte ich in meine Gemächer zurück.
Aus meinem Schlafzimmer erklang ein leises Schnarchen, unterlegt von hohem Flöten. Ich spähte durch den Türspalt. Grimley schlief vor dem Kamin und hatte Viola zwischen den Pfoten. Sanft schloss ich die Tür, um die beiden nicht zu stören …
Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich eine Bewegung und wirbelte herum. Reiko stand, immer noch in dem Kleid, das sie zum Abendessen getragen hatte, vor dem Kamin im Wohnzimmer.
Keuchend presste ich mir eine Hand an die Brust, um mein wild pochendes Herz zu beruhigen. »Du hast mich erschreckt.«
Ihr Blick glitt über mein verknotetes Haar und mein verknittertes Kleid. »Du und Leonidas?«
»Ja.«
»Wie war es?«
Ich ließ mich auf eine der Couchen fallen. »Wunderbar!«
Sie lächelte amüsiert. »Muss wirklich toll gewesen sein, wenn du dahinschmilzt wie eine gewöhnliche Adelige kurz vor einem Ohnmachtsanfall.«
Reiko ignorierte meine Grimasse und ließ sich auf einem Stuhl nieder. »Nun, während du eine Nacht der unvergleichlichen Leidenschaft mit Prinz Leonidas genossen hast, bin ich herumgeschlichen und habe das übliche Gerede nach dem Angriff belauscht.«
»Nach welchem Angriff?«, murmelte ich.
»Was meinst du damit?«
Ich setzte mich auf und erzählte ihr von dem Gift in Maevens Sangria und den mortanischen Soldaten.
»Was glaubst du, welches Gift Milo verwendet hat?«, fragte Reiko.
»Ich habe keine Ahnung.« Ich zögerte. »Wenn es denn Milo war, der hinter den Angriffen gesteckt hat.«
Sie runzelte verwirrt die Stirn. »Du glaubst nicht, dass er Maevens Getränk und ihre Männer vergiftet hat?«
»Ich behaupte nicht, dass er es nicht war. Aber es gibt unzählige Leute, die Maeven gerne töten würden oder ihren Sohn direkt vor ihren Augen … oder gleich beides.«
Eine nervöse Energie erfüllte mich, also stand ich wieder auf und fing an, im Raum auf und ab zu tigern, während ich über all die Angriffe in den letzten zwei Tagen nachdachte. Zuerst hatte jemand in den Gärten versucht, mich und Leonidas zu ermorden. Dann hatte jemand Maevens Sangria präpariert und ihre Soldaten vergiftet. Und schließlich hatte dieser Attentäter einen Bolzen auf Leonidas abgeschossen. Verschiedene Attacken, alle mit verschiedenen Waffen – Kämpfer, Gift und eine Armbrust.
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, murmelte ich. »Und es ist schlimmer als sonst. Die Angriffe ergeben einfach keinen Sinn. Wenn Maeven das Ziel ist, wieso dann die anderen Angriffe? Wieso der Versuch, mich im Park zu ermorden? Oder Leonidas in der Arena? Es ist fast, als ob …«
»Was?«, fragte Reiko.
»Als stecke mehr als eine Person hinter den verschiedenen Attentaten. Verschiedene Leute mit verschiedenen Motiven und verschiedenen Zielen. Zumindest weiß ich sicher, dass genau das für den Meuchelmörder in der Arena zutrifft.« Die letzten Worte waren unbedacht. Wieder einmal verfluchte ich meine lose Zunge.
Reiko kniff die Augen zusammen. »Weißt du, wer mit der Armbrust auf Leonidas geschossen hat?«
»Ja.« Mein Magen verkrampfte sich, trotzdem zwang ich mich dazu, die Worte auszusprechen. »Es war Tatsuo.«
Reiko blinzelte, und ihr innerer Drache riss die Augen auf. Schock strahlte von beiden aus, so heftig, dass es mir den Atem raubte. Sie schüttelte den Kopf, als versuchte sie, meine Worte aus ihren Gedanken zu vertreiben. »Nein – nein . Du irrst dich.«
»Als ich diesen Bolzen zum Attentäter zurückgeschickt habe, ist es mir gelungen, ihn zu treffen – in die Schulter, glaube ich. Sobald sich das Projektil in seinen Körper gebohrt hat, habe ich Schmerz gefühlt – und das Gesicht von Tatsuos goldenem Drachen gesehen.«
Reiko schüttelte wieder den Kopf, doch ich sprach weiter, um sie zu überzeugen.
»Tatsuo saß während der Gladiatoren-Herausforderung nicht bei Ruri am ryusamanischen Tisch. Und als ich ihn hinterher gesehen habe, hatte er die Jacke gewechselt – rot, nicht golden. Das ergibt nur Sinn, wenn er nicht wollte, dass jemand seine ursprüngliche Jacke sieht … zum Beispiel, weil sie zerrissen und blutig war.«
Ein angespanntes Schweigen breitete sich zwischen uns aus. Reiko sprang auf die Beine und begann, durch den Raum zu tigern, genauso wie ich es gerade noch getan hatte.
»Ich wusste es«, murmelte sie. »Ich wusste, dass Kai irgendeine Agenda verfolgt hat. Er muss derjenige gewesen sein, der den Angriff auf Leonidas geplant hat.«
Ich runzelte die Stirn. »Wie kommst du darauf?«
»Weil Kai direkt vor der Gladiatoren-Herausforderung an mich herangetreten ist und behauptet hat, er hätte wichtige Informationen für mich. Ich bin ihm in einen der Flure gefolgt, also habe ich den Angriff auf Leonidas nicht mal mitbekommen. Kai muss mich weggelockt haben, damit einer seiner Leute den Bolzen abfeuern konnte. Irgendein Morph mit einem goldenen Drachenmal, genau wie mein Vater es auch trägt.«
Dass Kai bei Reiko gewesen war, machte es meiner Meinung nach weniger überzeugend, dass er Teil von Tatsuos Intrige sein sollte. Allerdings wies ich weder darauf hin noch darauf, wie sicher ich mir war, dass Tatsuo den Bolzen abgeschossen hatte. »Hatte Kai wirklich Informationen?«
Reiko schnaubte. »Natürlich nicht. Er hat nur herumgedruckst.«
Ich dachte daran zurück, wie Kai sie gestern im Park angesehen hatte. Das war definitiv nicht nichts gewesen.
»Ich glaube allerdings nicht, dass Tatsuo Teil von Kais Intrige war«, murmelte sie. »Ich kann das nicht glauben. Mein Vater würde nie …«
»… einen Morricone umbringen, um den Status quo zwischen Ryusama, Andvari und Morta zu wahren?«, beendete ich ihren Satz. »Wir wissen beide, dass er das tun würde … und Schlimmeres.«
Reiko blieb abrupt stehen. »Was meinst du mit Schlimmeres? «
Ich atmete einmal tief durch. »Ich habe gehört, wie du und Tatsuo euch gestern Nacht im Park unterhalten habt. Dein Vater hat dich angewiesen, meine Beziehung zu Leonidas zu unterlaufen … und er hat dir erzählt, dass Königin Ruri vorhat, Ryusamas Abkommen mit Andvari zu ignorieren, sollte ich mich mit dem Prinzen verloben.«
Reikos Lippen wurden schmal, und der Drache auf ihrer Hand verzog das Gesicht. »Deswegen also hast du dich so seltsam benommen.«
»Nicht nur ich.«
Diesmal verzog sie das Gesicht, gleichzeitig mit ihrem inneren Drachen.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und stellte die Frage, die jetzt schon eine Weile an mir nagte. »Hast du Tatsuo bei dem Mordanschlag auf Leonidas geholfen?«
Reiko zuckte zusammen, und wieder spürte ich deutlich ihren Schock. »Natürlich nicht! Wieso fragst du mich das?«
»Weil ich dich nach dem Ende der Herausforderung nirgendwo in der Arena entdecken konnte.«
Wut flackerte in den Augen meiner Freundin auf, und sie stützte die Hände in die Hüften. »Und jetzt denkst du … was genau? Dass ich lüge? Dass ich die Geschichte von Kai, der mich weggelockt hat, nur erfunden habe? Dass ich mich weggeschlichen habe, um für Tatsuo Schmiere zu stehen, während er versucht hat, Leonidas zu ermorden?«
»Erste Regel der Spionage: Jeder kann dich jederzeit verraten«, zitierte ich die Worte, die sie in Haverton zu mir gesagt hatte. »Selbst jemand, den du für einen treuen Verbündeten hältst«.
Der Zorn in Reikos Augen brannte heller. Gleichzeitig starrte sie mich an, als hätte sie mich noch nie zuvor gesehen. Ich spürte, wie verletzt sie war, deshalb sprach ich weiter.
»Tatsuo ist dein Vater, und Ryusama ist dein Königreich. Du hast immer gesagt, du wärst als Erstes und vor allem anderen Spionin. Ich weiß auch, wie angespannt das Verhältnis zu deinem Vater ist und wie viel es dir bedeuten würde, endlich seine Anerkennung zu erringen.«
»Und du glaubst, ich würde dich, meine beste Freundin, einfach so verraten, um mir diese Anerkennung zu verdienen?« Reiko verzog angewidert die Lippen. »Du hast wirklich zu viel Zeit mit Prinz Leo verbracht. Er ist derjenige, der dich in Myrkvior verraten hat, nicht ich. Ich törichte Närrin habe dich in Blauberg gerettet.«
Diesmal war ich diejenige, die zusammenzuckte. Schmerz erfüllte mich, doch ich konnte mein Mundwerk nicht davon abhalten, mich in noch größere Schwierigkeiten zu bringen. »Du hast mir heute Morgen erklärt, ich sollte mich lieber von Leonidas fernhalten. Was in krassem Kontrast zu deinem Ratschlag in Haverton stand, einfach mit ihm zu schlafen und ihn dann zu vergessen.«
Reiko presste erneut die Lippen aufeinander. »Du hast recht. Das habe ich gesagt. Aber nicht aus den Gründen, die du annimmst.«
»Warum dann?«
Sie riss die Hände in die Luft. »Weil ich sehen kann, wie viel dir Leo bedeutet! Ich will einfach nicht, dass er dich noch mal verletzt!«
»Aber hättest du auch etwas gesagt, wenn Tatsuo es dir nicht befohlen hätte?«
Reiko öffnete den Mund, doch sie blieb stumm und stritt nichts ab. Wieder breitete sich Schweigen zwischen uns aus.
Schicksalsergebene Enttäuschung erfüllte mich. »Du solltest tun, was dein Vater möchte. Du solltest Tatsuo sagen, dass ich deinen Rat angenommen habe, mich von Leonidas zu distanzieren.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Warum? Was ist zwischen euch beiden geschehen?«
Ich lachte harsch. »Ich habe mit ihm geschlafen, und dann habe ich alles vermasselt. Ich bin weggelaufen, so wie ich es schon beim Sieben-Türme-Massaker getan habe. So wie ich es immer tue. Weil ich letztendlich immer noch feige bin.«
Mitgefühl huschte über ihre Miene, doch ich achtete nicht darauf, sondern wappnete mich für das, was ich jetzt tun musste. »Nach dem Gipfel solltest du nach Hause zurückkehren – nach Ryusama.«
An Reikos Kiefer begann ein Muskel zu zucken. »Wieso sollte ich das tun?«
»Weil Tatsuo dein Vater ist, deine Familie, und weil du ihn liebst. Doch hauptsächlich, weil du eine Spionin bist und deine Königin und dein Heimatland dich brauchen.«
Reiko antwortete nicht, und ich konnte auch ihre Gefühle nicht spüren. Zur Abwechslung einmal konnte ich selbst die Miene ihres inneren Drachen nicht deuten.
»Zwischen Morta und Andvari wird es zum Krieg kommen«, fuhr ich fort. »Und in einem Punkt hat Tatsuo recht: Meine Fehde mit Milo hat nichts mit Ryusama zu tun. Du solltest gehen, solange es noch möglich ist.«
Reiko starrte mich einfach nur mit kalter, ausdrucksloser Miene an. Mir zog sich das Herz zusammen. Ich wollte noch so viel sagen. Ich wollte Reiko sagen, wie bewundernswert sie in jeder Hinsicht war; dass sie so viel mehr zu bieten hatte, als Tatsuo erkennen konnte. Und vor allem wollte ich ihr versichern, dass unsere Freundschaft zu den besten Dingen in meinem Leben gehörte. Aber zur Abwechslung einmal kontrollierte ich meine Zunge und hielt die Worte zurück.
Reiko hatte schon so viel für mich getan, daher war ich entschlossen, jetzt etwas für sie zu tun, auch wenn es mir das Herz brach. Ich konnte sie nicht bitten, sich zwischen unserer Freundschaft und ihrer Pflicht gegenüber Königin, Vater und Heimatland zu entscheiden. Leonidas und ich waren hilflos in den königlichen Verwicklungen zwischen unseren Familien gefangen, Reiko allerdings konnte dieser Falle entkommen.
»Nun dann … wenn die große Gemma Ripley bereits über mein Schicksal entschieden hat, werde ich wohl meine Sachen packen.« Reikos Stimme war noch eisiger als ihre Miene. »Leb wohl, Prinzessin.«
Sie sank für eine Sekunde in eine formelle, ryusamanische Verbeugung. Ich öffnete den Mund, um … irgendetwas zu sagen, aber es war zu spät.
Reiko ging in ihre eigenen Gemächer und schloss die Tür hinter sich. Das leise Knirschen des Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde, hallte in meinen Ohren wider wie Donner – oder wie eine Totenglocke, die das Ende unserer Freundschaft verkündete.
In dieser Nacht schlief ich kaum. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich erschöpft, schlecht gelaunt und spürte einen dumpfen Schmerz in der Brust. Irgendwie war es mir gestern Abend innerhalb weniger Stunden gelungen, alles zu verpfuschen.
Grimley und Viola schliefen noch, als ich mich ins Wohnzimmer schlich. Reikos Tür war geschlossen, und ich hörte auch keine Bewegung in ihrem Zimmer. Ich dachte darüber nach, an ihre Tür zu klopfen. Aber letztendlich wäre das sinnlos gewesen. Meine Freundin musste ihrer Königin und ihrem Königreich dienen, und dabei wollte ich ihr nicht im Weg stehen.
Stattdessen ging ich nach unten ins Arbeitszimmer meines Vaters. Er und Reha frühstückten gerade, also lud ich mir einen Teller voll, auch wenn ich die Eier, den Speck und die Bratkartoffeln kaum schmeckte. Selbst die Brombeerpfannkuchen sprachen mich nicht an. Sie erinnerten mich nur daran, wie Leonidas mir bei einem unserer Frühstücke in Myrkvior anvertraut hatte, dass sie zu seinen Lieblingsspeisen gehörten.
Vater und Rhea erzählten mir von den Fortschritten bei den Handelsgesprächen. Ich lächelte, nickte und gab passende Antworten. Doch anscheinend wirkte ich wenig überzeugend, weil Vater und Rhea einen Blick wechselten, bevor Rhea aufstand.
»Ich muss nach den Wachen sehen«, sagte sie. »Ihr könnt euch ja weiter unterhalten.«
Reha küsste Vater, dann verließ sie das Arbeitszimmer. Er starrte mich einen Moment an. Ich bemühte mich, weiter freundlich zu lächeln. Doch auch das schien ihn nicht zu überzeugen, denn er legte seine Serviette auf den Tisch.
»Lass uns einen Spaziergang machen«, schlug Vater vor.
Wir verließen das Arbeitszimmer und gingen nach draußen, wo uns ein heller, klarer Oktobermorgen empfing, mit nur ein paar kleinen Wolken am Himmel. Die Luft war kühl, auch wenn es im Tagesverlauf sicher noch mal warm werden würde. Die Händler auf dem Marktplatz öffneten bereits ihre Stände, aber Vater führte mich an allen Leuten vorbei in Richtung Park. Mit schnellen Schritten hielt er auf die Gedenkbank für meine Mutter auf der obersten Terrasse zu.
Zu der frühen Stunde waren wir die Einzigen, die sich in diesem Teil des Parks aufhielten, auch wenn ich unten am Seeufer Xenia sehen konnte. Sie wedelte mit ihrem Gehstock vor mehreren Arbeitern herum, die eine große Holzplattform aufbauten – vermutlich für die dritte Herausforderung.
Mir drehte sich der Magen um. Gleichzeitig fragte ich mich, ob Leonidas nach unserer Auseinandersetzung gestern Abend überhaupt zur letzten Aufgabe der Kampfminnetey antreten würde. Und was würde im Fall seines Sieges geschehen? Würden wir jemals mehr sein können als Feinde, trotz unserer Familien und all der schrecklichen Dinge, die wir uns gegenseitig angetan hatten?
Vater sah ebenfalls zu den Arbeitern, bevor er auf die Bank deutete. »Komm, wir setzen uns einen Moment.«
Er nahm an dem einen Ende der Bank Platz, ich an dem anderen. Lächelnd rieb er mit den Fingern über die Plakette mit dem Namen meiner Mutter.
»Ich weiß nicht, ob ich dir das je erzählt habe, aber genau an dieser Stelle bin ich deiner Mutter das erste Mal begegnet«, sagte er. »Sozusagen.«
»Was meinst du mit sozusagen? «
»Nun, ich saß hier, auf dieser Bank, umgeben von einem Pulk adeliger Damen, die alle unbedingt die nächste Königin von Andvari werden wollten. Ich war beliebter als ein Rosenbusch bei Bienen.« Vater lachte, dann deutete er auf eine Stelle ein paar Schritte entfernt. »Dann ist ein Schatten über mich gefallen. Ich habe aufgeschaut, und da stand deine Mutter und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sie trommelte genervt mit dem Fuß auf den Boden und wirkte absolut angewidert .«
Erinnerungen strahlten von ihm aus und drangen in meinen Geist. Mein Vater, attraktiv und schneidig in einem grauen Jackett … und meine Mutter, die auf ihn herunterstarrte, wild und schön, mit einer Krone aus blauen Stiefmütterchen im Haar.
»Bei dir klingt es, als hätten du und Mutter euch nicht verstanden.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem krummen Lächeln. »Oh, Merilde hat mich gehasst. Sie fand mich arrogant, unhöflich und aufgeblasen – und damit hatte sie vollkommen recht. Alle Prinzen sind ein wenig aufgeblasen, zumindest, wenn sie zum ersten Mal in die Welt aufbrechen, um sich einen Namen zu machen … wenn sie versuchen, aus dem Schatten all der Herrscher zu treten, die vor ihnen waren.«
»Und was ist geschehen?«
Vaters Miene wurde weich. »Wir haben uns während des Gipfels ständig gestritten. Heinrich und Jeeves, Merildes Vater, konnten sich ebenfalls nicht besonders gut leiden und waren in vielerlei Hinsicht unterschiedlicher Meinung. Das hatte natürlich auch Einfluss auf meine Beziehung zu Merilde. Wir haben stundenlang über verschiedene Handelsabkommen diskutiert … und darüber, was am besten für Andvari ist.«
Sein Lächeln wurde breiter, und die bittersüße Sehnsucht, die von ihm ausstrahlte, erfüllte mein Herz. »Das waren einige der anregendsten Unterhaltungen meines Lebens.«
»Wie ist es euch gelungen, eure Differenzen zu überwinden? Denn das habt ihr ja offensichtlich getan, sonst gäbe es mich nicht.«
Vater starrte nachdenklich ins Leere. »Ich bin mir nicht ganz sicher, wann oder wie es passiert ist. Doch je länger ich mich mit Merilde unterhalten habe, desto klarer wurde mir, dass ich es wunderbar fand, wie sie mich herausforderte; wie sie mich dazu drängte, ein besserer Mann, ein besserer Anführer zu werden. Ich hatte all diese hochfliegenden Ideen, aber Merilde hat mir gezeigt, was wahre Liebe ist.«
»Und das wäre?«
Mein Vater suchte meinen Blick. »Vertrauen. Respekt. Dass einem die Gefühle des anderen so wichtig sind, dass man sie vor die eigenen stellt, egal, was auf dem Spiel steht oder wie übel das für einen ausgehen mag. Das ist wahre Liebe, Gemma, und sie ist viel kostbarer als alles Gold und alle Juwelen in Glitnir.«
Er schwieg einen Moment, als müsste er seine nächsten Worte sorgfältig abwägen. »Leonidas bedeutet dir etwas.«
Ich öffnete den Mund, um das abzustreiten, doch er hielt mich mit einer Handbewegung davon ab.
»Dass ich dein Vater bin, bedeutet noch lange nicht, dass ich keine Augen im Kopf habe. Die Gaben, die er in der ersten Herausforderung präsentiert hat, waren perfekt für dich. Und ich habe bemerkt, wie du ihn gestern Abend in der Arena angesehen hast.«
»Wie denn?«, flüsterte ich.
»Als hätten diese Gladiatoren nicht nur auf ihn eingeprügelt, sondern auch auf dein Herz.«
Ich verzog das Gesicht. Bedauerlicherweise hatte er damit vollkommen recht. Trotzdem wollte ich seine Worte leugnen und wand mich wie ein Kaninchen in der Schlinge.
»Es spielt keine Rolle, was ich für Leonidas empfinde. Vor allem, weil ich mich kaum in einem Raum mit ihm aufhalten kann, ohne mich zu fragen, wann er mich wohl das nächste Mal verraten wird. Auf welche Weise er diesmal Morta und seine Familie über mich stellen wird, so wie er es in Myrkvior getan hat.« Bitterkeit erfüllte mein Herz und meine Stimme.
»So, wie du es mir erzählt hast, ist Leonidas in einer unmöglichen Situation gewesen. Maeven hat ihn gezwungen, sich zwischen dem Schutz seiner Schwester und deiner Rettung zu entscheiden.«
Ich seufzte. »Ich weiß. Und ich hätte dieselbe Wahl getroffen, wenn du oder Rhea bedroht worden wärt. Trotzdem tut es weh.«
»Und was glaubst du, warum das so ist?«
Seine Frage war mir unangenehm, aber ich beantwortete sie trotzdem. »Ich muss als Prinzessin Gemma so viel tun. Ich muss immer tapfer und stark wirken, nobel und freundlich und gut. Ich muss jede verdammte Sekunde jedes verdammten Tages perfekt sein. Zum Teil bin ich daran auch selbst schuld, indem ich in den letzten paar Jahren den Eindruck gestärkt habe, ich wäre Glimma … und sonst nichts.«
»Und jetzt?«, fragte Vater.
Ich seufzte wieder, aber diesmal noch länger und lauter. »Und jetzt … will ich, dass jemand auch all die anderen Teile von mir sieht. Die zerbrochenen, zackigen Stücke, die alles andere sind als perfekt. Ich will, dass jemand mir hilft, die Teile zusammenzuhalten.« Mir wurde die Kehle eng, aber ich zwang mich dazu, eine Wahrheit auszusprechen, die ich bisher noch nie laut geäußert hatte. »Leonidas … er sieht all diese Teile von mir. Das hat er immer, schon seit unserer Kindheit.«
»Aber?«
Ich seufzte ein drittes Mal. »Aber ich weiß nicht, ob ich ihm all das jemals anvertrauen kann – mit all diesen scharfen Kanten, die mein Herz mühelos in Stücke reißen könnten.«
»Weil er ein Morricone ist? Maevens Sohn?«
»Ja … und nein. Dass Leonidas ein Morricone ist und Maevens Sohn, macht mich noch wachsamer. Aber die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, ob ich überhaupt irgendjemandem auf diese Weise vertrauen kann.«
Ich sprang auf die Beine und begann, auf und ab zu gehen. »Ich habe in meinem Leben einfach zu viel Verrat gesehen. Onkel Frederich wurde in Sieben Türme von Kronprinzessin Vasilia ermordet … der Frau, die er heiraten sollte. Dann hat Dahlia Sullivan Großvater Heinrich vergiftet … obwohl er sie geliebt hat und sie durchaus Zuneigung für ihn hegte. Und schließlich hat mich Leonidas in Myrkvior an Maeven ausgeliefert, obwohl er behauptet hat, ich würde ihm etwas bedeuten. Fürsorge, Zuneigung, Liebe … all diese Gefühle ebnen nur den Weg für Zerstörung.«
Vater stand ebenfalls auf. »Verrat gehört für Mitglieder der königlichen Familie zum Leben, Gemma. Daran wird sich nie etwas ändern. Sogar in diesem Augenblick gibt es einige andvarische Adelige, die liebend gerne ihre eigenen Abkommen auf den Thron setzen würden.«
»Aber?«
Vater legte die Hände an meine Oberarme und übte leichten Druck aus. »Aber mit der richtigen Person ist die Liebe das Risiko wert – jedes Risiko. Das hat mir Merilde beigebracht. Und Rhea. Und ich denke, du und Leonidas könntet euch das ebenfalls gegenseitig lehren.«
»Was ist mit der Tatsache, dass er ein Morricone ist? Und dass Königin Ruri damit droht, das Abkommen platzen zu lassen?«
Vater schnaubte. »Nun, ich will nicht behaupten, dass ich froh darüber bin, dass ausgerechnet Maevens Sohn Gefallen bei dir gefunden hat. Aber ich werde versuchen, Leonidas nur nach seinen eigenen Verdiensten zu beurteilen.« Seine Miene verhärtete sich. »Und was die Ryusamaner angeht: Sollte Ruri wirklich glauben, sie könnte unser Abkommen ungestraft brechen, dann irrt sie sich gewaltig.«
Ich erkannte die Entschlossenheit in seinen Augen. In diesem Moment stand Dominic Ripley, der zukünftige König, vor mir.
»Aber das Wichtigste zuerst«, meinte Vater. »Wir werden sehen, ob es Leonidas wirklich gelingt, die letzte Herausforderung erfolgreich zu absolvieren.«
»Und wenn es ihm gelingt?«
Die Entschlossenheit meines Vaters schien noch zuzunehmen. »Dann werden wir die Bedingungen mit Xenia und Maeven aushandeln. Aber eins musst du wissen, Gemma: Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich zu beschützen.«
Heiße Tränen brannten in meinen Augen, als ich ihn umarmte. »Danke dir, Vater.«
Er schlang fest die Arme um mich. »Aber das ist doch selbstverständlich, mein Liebling.«
Unsere Umarmung dauerte lange, denn wir zogen so viel Kraft aus der Nähe des anderen wie möglich. Mein Blick sank auf die Plakette mit dem Namen meiner Mutter, die erneut von Liladorn umwuchert war … und in diesem Moment flackerte ein kleiner Funken Hoffnung in meinem Herzen auf. Meine Eltern hatten alle Widerstände überwunden. Vielleicht konnten Leonidas und ich dasselbe tun – wenn wir den Rest des Gipfels überlebten.