Ich wartete, bis ich mir sicher sein konnte, dass Maeven verschwunden war, dann verließ ich die Bibliothek. Ich eilte über den Platz und kehrte in meine Gemächer zurück.
Reikos Tür war nach wie vor geschlossen, und ich konnte sie auch nicht in der Nähe spüren. Ich fragte mich, ob sie schon zu Königin Ruri gegangen war; ob sie Tatsuo bereits mitgeteilt hatte, dass sie mit der Gesandtschaft nach Ryusama zurückkehren würde. Bei dem Gedanken zog sich mir das Herz zusammen, aber ich war diejenige, die Reiko weggestoßen hatte … daher konnte ich niemanden für diesen Verlust verantwortlich machen als mich selbst.
Grimley und Viola lagen vor dem Kamin im Wohnzimmer. Das kleine Strixweibchen schlief tief und fest, aber der Gargoyle hob den Kopf, als er meine Schritte hörte. Ich ließ mich auf den Boden sinken und umarmte ihn.
Grimley kuschelte sich an mich, wobei er mir einen seiner Flügel um den Rücken legte. Seufzend drückte ich ihn fester.
Irgendwann löste ich mich von ihm. Grimley musterte mich ernst. »Wofür war das?«
Ich hatte keine Lust, mein Gespräch mit Vater, meine letzte Begegnung mit Maeven oder meine widersprüchlichen Gefühle für Leonidas zu thematisieren. »Ich brauchte einfach eine Umarmung.«
Grimley öffnete das Maul, um mich weiter zu löchern, doch in diesem Moment klopfte es an der Tür. Xenia betrat meine Gemächer, gefolgt von Yaleen, meiner Garnmeistern, und den üblichen Dienerinnen.
»Seid ihr gekommen, um das Lamm für die Schlachtung vorzubereiten?«, fragte ich.
Xenia hob bei meinem Sarkasmus eine Augenbraue. »Der Tag ist noch jung. Beschrei es nicht, Gemma. Außerdem werden wir heute unserer Bestes geben, ein Gemetzel zu verhindern.«
Grimley stand auf, streckte sich und erklärte, dass er jagen gehen wollte. Viola kreischte protestierend, doch der Gargoyle hob sie auf das Sofa vor dem Kamin, wo sie sich auf ein Kissen kuschelte. Ich kraulte Grimleys Kopf, bevor er auf den Balkon ging und in den Himmel davonflog.
Ich sah ihm sehnsüchtig nach, weil ich mir wünschte, ich könnte auch einfach davonfliegen und alle meine Probleme zurücklassen. Doch mir blieb keine andere Wahl, als wieder ins Wohnzimmer zu gehen und mich Yaleen und den Dienerinnen auszuliefern.
Zuerst kleideten sie mich in die traditionelle Ledertracht der Gladiatoren: ein eng anliegendes graues Hemd ohne Ärmel, einen knielangen Kilt und flache Sandalen mit Riemen, die bis über meine Knöchel geschnürt wurden. Ich hängte meinen Zährensteindolch an den Waffengürtel. Natürlich trug ich wie üblich meinen Gargoyle-Anhänger.
Als Nächstes wandten sich Yaleen und die Dienerinnen meinem Haar und dem Make-up zu. Sie kämmten, zerrten, flochten, puderten, parfümierten und bemalten. Niemals hatte ich mich mehr gefühlt wie eine Puppe, die zur Belustigung anderer herausgeputzt wurde.
Irgendwann zogen sich die Dienerinnen zurück, und ich musterte mein Spiegelbild. Mein dunkelbraunes Haar war zu drei Knoten aufgetürmt, in denen jeweils unzählige Strixfedern steckten, sodass es aussah, als ragten purpurfarbene Pfeile aus meinem Kopf. Hellgrauer Puder bedeckte mein Gesicht, während schwarzer Lidstrich und Lidschatten meine blauen Augen betonten. Meine Lippen waren ebenfalls schwarz gefärbt. Doch das Ungewöhnlichste an meiner Aufmachung waren die drei schwarzen, knurrenden Gargoyle-Köpfe, die mein Gesicht zierten – einer auf jeder Wange und der dritte mitten auf meiner Stirn.
»Komm, lass mich dich anschauen«, rief Xenia mir von ihrem Stuhl vor dem Kamin aus zu.
Ich erhob mich vom Schminktisch und ging zu ihr.
Xenia lehnte sich vor, die Hände auf den silbernen Knauf ihres Gehstocks gestützt, und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Gut. Wirklich sehr gut.«
Yaleen grinste, dann verließ auch sie meine Gemächer, sodass ich allein mit Xenia zurückblieb.
»Wieso die Gladiatoren-Kleidung?«, fragte ich. »Und diese Kombination aus Strixfedern und Gargoyle-Gesichtern?«
Xenia deutete mit ihrem Stock erst auf mein Haar, dann auf mein Gesicht. »Die Strixfedern symbolisieren Leonidas, während die Gargoyles dich sowie die drei Herausforderungen der Kampfminnetey repräsentieren.« Sie wedelte erneut mit ihrem Stock vor mir herum. »Und was die Kampfmontur angeht, nun, es könnte sein, dass die Ungerer von einst in diesem Punkt … gewisse Anregungen von Bellona bekommen haben.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Du gibst tatsächlich zu, dass diese altehrwürdige, ungerische Tradition ihre Wurzeln zum Teil in bellonischen Gladiatorenkämpfen hat?«
Xenia zuckte mit den Achseln. »Selbst die barbarischen Bellonier haben hin und wieder gute Ideen.«
Ich lachte, wenn auch nur kurz. »Sag mir, was Leonidas in der letzten Herausforderung erwartet. Bitte .« Das letzte Wort klang viel drängender, als ich beabsichtigt hatte.
»Nichts allzu Schwieriges«, antwortete Xenia. »Wie schon gesagt, ist die dritte Herausforderung eine Art Hindernislauf. Als Erstes wird er in den See hinausschwimmen, um eine Flagge von einer hölzernen Plattform zu holen, und dann wieder an die Küste zurückzukehren. Dann muss er über die verschiedenen Terrassen des Parks nach oben steigen und sich dabei drei Gladiatorenkämpfen stellen.«
»Nichts zu Schwieriges? Allein das kalte Wasser des Sees könnte ihn umbringen. Und denk an das, was beim gestrigen Kampf in der Arena geschehen ist.«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Xenia. »Ich habe die Gladiatoren persönlich ausgewählt. Außerdem wird diesmal nur bis zum ersten Blut gekämpft. Wenn Leonidas es schafft, an den Kämpfern vorbeizukommen, wird er erst über die Felsen und dann an der Mauer des Leuchtturms nach oben klettern, wo du ihn oben auf der Aussichtsplattform erwarten wirst.«
Ich runzelte die Stirn. »Dieser letzte Teil erinnert verdächtig an die Herzerein-Herausforderung, bei der Bellonier die Seite des Sieben-Türme-Palastes erklimmen, um mit ihrer Liebe vereint zu werden.«
Xenia grummelte, doch dann verzog ein widerwilliges Lächeln ihre Lippen. »Wie schon gesagt: Hin und wieder haben die Bellonier ganz gute Ideen.«
»Was geschieht, wenn Leonidas tatsächlich die Spitze des Leuchtturms erreicht?«
»Nun, unter idealen Bedingungen würdet ihr beide eure Liebe bekennen, und zwar so laut, dass es alle hören können. Dann würdet ihr euch in die Arme fallen und euch leidenschaftlich küssen. Einmal oder vielleicht auch zwei- oder dreimal.«
Ich schnaubte. »Wir wissen doch beide, dass die Umstände alles andere als ideal sind.«
Xenia nickte bestätigend. »Was auf der Spitze des Leuchtturms geschieht, bleibt vollkommen dir überlassen, Gemma. Du könntest Leonidas vom Turm stoßen. Wahrscheinlich würde der Sturz ihn umbringen.«
»Oder?«
Sie sah mich durchdringend an. »Oder du könntest dir endlich eingestehen, wie du für den Prinzen empfindest.«
Ich schnaubte wieder. »Das habe ich doch schon gestern in der Arena getan, als ich sein Leben verschont habe.«
»Auf jeden Fall ist alles, was zwischen Leonidas und dir geschieht, allein eure Angelegenheit. Mein Aufgabe ist es lediglich, dafür zu sorgen, dass es bei der Kampfminnetey keine weiteren Mordversuche mehr gibt.« Xenia stand auf, dann musterte sie mich mit sanfter Miene. »Und wie auch immer du dich in Bezug auf Leonidas entscheidest, Gemma, ich werde dich unterstützen.«
Ich nickte nur, weil meine Gefühle mir die Kehle zuschnürten. Xenia drückte meinen Arm, dann ging sie aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich.
Auf dem Sofa schlug Viola mit den Flügeln. Das Strixweibchen hatte sich ruhig verhalten, während Yaleen und die Dienerinnen an mir gearbeitet hatten. Allerdings hatte sie alles aus ihren großen Augen beobachtet. Jetzt ging ich zu ihr, sank in die Hocke und strich mit der Hand über ihre fliederfarbenen Federn.
»Was denkst du?«, murmelte ich. »Soll ich Leonidas vom Leuchtturm stoßen? Oder vielleicht selbst über die Kante springen? Am liebsten würde ich ja Maeven in den Tod stoßen, aber das ist leider keine Option.«
Viola stieß ein mitfühlendes Zwitschern aus. Ich streichelte sie noch einmal, dann stand ich auf.
Mein Blick fiel auf die Kristallvase mit dem Bouquet aus Eisveilchen, das Leonidas mir bei der ersten Herausforderung geschenkt hatte. Ich rieb eines der Blütenblätter zwischen den Fingern. Leonidas hatte mir ein wirklich schönes Gesteck offeriert, selbst wenn die Farbe der Veilchen mich an die Narrensterne erinnerte, die ich gestern am Seeufer gepflückt hatte …
Ich zuckte zusammen und zerquetschte unwillkürlich ein Blütenblatt. Denn plötzlich war mir eingefallen, dass ich gestern am Seeufer noch eine andere Person mit einem Strauß purpurfarbener Blumen gesehen hatte.
Corvina.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich gedacht, der Strauß gehörte einfach zu den Requisiten, mit denen sie und Milo alle glauben machen wollten, dass sie nur einen netten Ausflug im Sinn hatten. Aber was, wenn Corvina absichtlich Narrensterne gepflückt hatte, genauso wie ich?
Meine Gedanken wanderten von dieser Erinnerung zu den fehlenden Seiten in dem Buch in der Werkstatt auf Antheia. Milo hätte die Seiten nicht herausreißen müssen – es war sein Buch. Er hätte es einfach mitnehmen können. Aber was, wenn Corvina die Narrenstern-Rezepte gebraucht hatte? Was, wenn sie diese Seiten herausgerissen hatte, um das Gift zu brauen?
Meine Gedanken rasten. Corvina mochte sich mit Milo verbündet haben, vielleicht hatte sie ihn mit Männern und Geld ausgestattet … doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie keine eigene Agenda verfolgte. Vor ein paar Wochen in Myrkvior hatte Corvina tatenlos danebengestanden und nur zugesehen, als Milo und Emperia versucht hatten, Maeven zu vernichten. Was, wenn sie jetzt dasselbe tat? Was, wenn sie Milo gegen Maeven kämpfen ließ, während sie eigene Pläne schmiedete, um danach die Person umzubringen, die überlebt hatte?
Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab dieses Szenario. Dann dachte ich an die Gladiatoren, die gestern in der Arena versucht hatten, Leonidas umzubringen. Was, wenn Corvina mehr wollte, als nur Milo oder Maeven zu ermorden? Was, wenn sie alle Morricones umbringen wollte?
Sorge erfüllte mich. Wenn das stimmte, dann schwebte Leonidas immer noch in Gefahr – und Corvina hatte für die dritte Kampfminnetey-Herausforderung bestimmt etwas Schreckliches für ihn geplant.
Hinter mir schwang die Tür zu meinen Gemächern auf. Viola kreischte und schlug mit den Flügeln, bevor sie sich eilig zwischen den Sofakissen versteckte.
Ich drehte mich um. »Xenia! Ich bin so froh, dass du zurückgekommen bist. Ich muss dich warnen …«
Mir erstarben die Worte auf den Lippen. Vor mir stand eine Frau, die in eine graue Kampfmontur mit einem Waffengürtel gekleidet war – genau wie ich. Ihr kastanienbraunes Haar war zu drei Knoten gebunden, aus denen unzählige Strixfedern ragten – genau wie bei mir. Graue Farbe bedeckte ihr Gesicht, doch auf ihren Wangen und ihrer Stirn prangten schwarze Blitze statt Gargoyles. Schock und Erkenntnis durchfuhren mich.
»Corvina«, flüsterte ich.
»Hallo, Gemma«, schnurrte sie fast, dann riss sie die Armbrust in ihrer Hand hoch und feuerte.
Ich sprang zur Seite und versuchte, die Energiestränge des Bolzens zu packen, der auf mich zuschoss …
Zu spät. Das Geschoss bohrte sich in meinen linken Oberarm. Schmerzen durchfuhren meinen Körper, sodass ich schreiend nach hinten stolperte. Ich stieß gegen einen Tisch, verlor den Halt und knallte hart zu Boden.
Zu den Schmerzen gesellte sich eine rasende Wut. Also kämpfte ich mich auf die Beine, wirbelte herum und rief meine Magie, um Corvina umzubringen …
Doch plötzlich stand Wexel vor mir. Er grinste bösartig, dann rammte er mir die Faust ins Gesicht. Schmerzen breiteten sich in meinem Kiefer aus, und ich stürzte erneut zu Boden.
Meine Wut kochte. Ich wollte aufstehen, um sie beide umzubringen, aber Wexel stemmte mir seinen rechten Stiefel auf die Brust und hielt mich mit seiner Stärkemagie fest.
»Hör auf, dich zu wehren, oder ich breche dir die Rippen«, knurrte er.
Mir blieb keine andere Wahl, als liegen zu bleiben. Ich konnte nur böse zu ihm hochstarren.
Corvina schlenderte mit der Armbrust auf der Schulter heran und starrte leidenschaftslos auf mich herunter. »Nach deinen Heldentaten in Blauberg hätte ich gedacht, du würdest dich mehr zu Wehr setzen, Gemma. Wie enttäuschend!«
Sie senkte die Hand, packte den Schaft des Bolzens und riss ihn aus meiner Schulter. Wieder schrie ich. Tränen rannen mir übers Gesicht, und aus der tiefen, gezackten Wunde drang Blut.
Corvina hielt mir den Bolzen vors Gesicht. Entsetzen erfüllte mich. Das war nicht einfach irgendein Geschoss, sondern eine von Milos Monstrositäten mit Widerhaken.
Sie drehte das Projektil zwischen den Fingern. »Milo hatte recht. Bei Kontakt mit Blut wechselt der Zährenstein die Farbe.«
Blut – mein Blut – rann über den Schaft wie Farbe über eine schwarze Leinwand. Sofort nahm der hellgraue Zährenstein dort dieselbe dunkelblaue Färbung an wie die gezackte Spitze. Mir stieg die Galle in die Kehle, doch ich schluckte sie herunter.
Die ganze Zeit über hatte ich vermutet, dass Milo seine Pfeile mit irgendetwas überzog. Damit hatte ich recht gehabt – gleichzeitig aber auch nicht. Denn ich war keinen Moment auf die Idee gekommen, dass Blut ein Bestandteil seiner widerlichen Formel sein könnte.
Corvina warf den Bolzen auf den Boden, wo er mit einem unheilvollen Klappern landete.
»Willst du den Pfeil nicht einsetzen, um mich mit deiner Wettermagie zu foltern, wie Milo es mit seinen Blitzen getan hat?« Wieder einmal konnte ich den Mund einfach nicht halten trotz der Gefahr, in der ich schwebte. »Wie enttäuschend!«
Sie lachte fröhlich. »Bitte. Ich werde meine Magie nicht so auf dich verschwenden. Außerdem sollte das Gift des Pfeils dich schnell genug umbringen.«
Eisiges Entsetzen schnürte mir das Herz zu. »Narrenstern«, krächzte ich. »Du hast den Bolzen mit Narrensterngift eingerieben.«
»Natürlich«, antwortete Corvina. »Die Idee habe ich von Milo. Er behauptet, die Pfeile mit getrocknetem Narrenstern einzureiben, würde die Magie des Zährensteins verstärken, sodass er besser leitet … genau wie das Blut einer Person.«
Deswegen also hatte der tote Junge bei Haverton die getrockneten Blüten mit sich herumgetragen. Er hatte als Teil von Milos Experimenten die Bolzen damit präpariert.
»Getrocknete Narrensterne allein sind nicht giftig – außer man zerstößt sie und vermischt sie mit Salz und Wasser.« Ein verschlagenes Leuchten trat in Corvinas Augen. »Milo hat mir einen ganzen Vortrag über die Blüte gehalten, als wir auf Antheia waren. Er hatte von meinen Männern ganze Beete mit den Pflanzen anlegen lassen, damit er die Blüten einfach ernten kann. Aber natürlich habe ich eine bessere, effektivere Verwendung dafür gefunden.«
Ich dachte an die leeren Blumenbeete direkt vor dem Herrenhaus. Wexel und der Rest von Corvinas Männern mussten die Pflanzen kurz vor Leonidas’ und meiner Ankunft gepflückt haben.
»Das Gift ist trotz seiner Tödlichkeit erstaunlich leicht zu mischen«, fuhr Corvina fort. »Du solltest die ersten Auswirkungen bereits spüren.«
Ich konzentrierte mich, versuchte, die Schmerzen von der Wunde und von Wexels Schlag genauso zu ignorieren wie das Gefühl seines Stiefels auf meiner Brust. Corvina hatte recht. Ich konnte spüren, wie das Gift sich langsam in meinen Adern ausbreitete, kalt und feucht wie die Erde, in der die Narrensterne am See wuchsen. Gleichzeitig meinte ich, einen modrigen Geruch wahrzunehmen. Lethargie ergriff Besitz von mir.
Mein Herz schnürte sich noch mehr zusammen, doch ich zwang mich, ruhig zu bleiben. Corvina dachte, sie hätte mich ermordet. Sie war hier, um mir unter die Nase zu reiben, wie clever sie war. Nun, ich würde sie reden lassen, solange sie wollte. Vielleicht hatte sie mich tatsächlich umgebracht, aber ich wollte ihre Intrige durchschauen, bevor ich starb. Und ich wollte irgendeinen Weg finden, wie ich verhindern konnte, dass sie auch Leonidas verletzte.
»Mich überrascht, dass Milo nicht hergekommen ist, um mich selbst umzubringen«, meinte ich.
»Oh, das wollte er. Aber ich habe ihn überzeugt, dass es besser wäre, wenn er mit Maeven und Delmira gesehen wird, während Wexel und ich dich umbringen.«
»Und wieso?«
Corvina lachte wieder. »Milo glaubt, ich würde entsprechend seinen Befehlen danach streben, Leonidas und Maeven umzubringen, damit er den Thron besteigen kann. Aber ich habe ganz eigene Pläne beim Gipfel in Bewegung gesetzt.«
Also hatte ich recht. Corvina hat im Hintergrund gegen die Morricones intrigiert – und ich hatte ihr dabei nur zufällig im Weg gestanden.
»Du hast Maevens Sangria beim Abendessen mit Narrenstern vergiftet. Na ja, Wexel hat das für dich erledigt … schließlich war er es, der die Sangria-Kanne an die Dienerin übergeben hat. Und wahrscheinlich hat er auch Maevens Wachen den Wein gebracht. Sobald sie tot waren, hast du deine eigenen Leute in die Gladiatoren-Herausforderung geschickt, damit sie Leonidas umbringen. Hat dir das auch Milo befohlen?«
»Oh, bitte. Milo wäre niemals so clever. Ich habe ihm die Ideen subtil unterbreitet, und er hat mich angewiesen, sie umzusetzen. Meine Pläne hätten auch funktioniert, wenn du dich nicht eingemischt hättest. Ohne dich könnten Maeven und Leonidas bereits tot sein.« Wut brannte in Corvinas Augen und färbte sie stürmisch grau. Ihre Magie strahlte in meine Richtung, kalt, hart und feucht wie das Gift, das immer noch durch meine Adern kroch.
Ich erinnerte mich an die leisen Gedanken, die ich während des Abendessens und der Herausforderung aufgefangen hatte. Die Menge hatte so laut geschrien, dass ich davon ausgegangen war, sie stammten von Milo. In Wirklichkeit hatte ich aber Corvinas Überlegungen belauscht.
Meine Gedanken rasten. »Die Gladiatoren zu vergiften, war aber nicht dein erster Angriff beim Gipfel. Du hast auch hinter dem Angriff auf Leonidas und mich beim Pavillon im Park gesteckt.«
»Da hatte sich eine Gelegenheit geboten, euch beide auszuschalten, also habe ich sie ergriffen.« Corvina warf Wexel einen missmutigen Blick zu. »Auch wenn ich Wexel offensichtlich nicht genug Männer zur Seite gestellt habe. Noch ein unglücklicher Rückschlag.«
»Aber woher wusstest du überhaupt, dass Leonidas und ich uns im Park aufhalten?«
»Nachdem ich Wexel und Milo an diesem Abend in der Bibliothek zurückgelassen hatte, bin ich durch eine Seitentür zurückgeschlichen. Ich wollte einfach hören, was mein lieber Verlobter über mich zu sagen hatte. Aber … Überraschung! … stattdessen habe ich dich in der Bibliothek entdeckt.«
Ich dachte an das kalte, feuchte Gefühl von Magie am Türknauf zurück, das ich empfunden hatte, als ich mich aus der Bibliothek geschlichen hatte, und an die Gegenwart, die ich hinter mir im Park gespürt hatte. Corvina hatte mich ausspioniert, so wie ich die Morricones ausspioniert hatte. Nur dass ich zu sehr von meinen Gedanken an Leonidas abgelenkt gewesen war, um es zu diesem Zeitpunkt zu bemerken. Verbitterung erfüllte mich. Was für eine Närrin ich doch war! Reiko wäre ein solcher Fehler niemals unterlaufen.
Corvina schnippte mit den Fingern. »Und so hat sich mir einfach eine Möglichkeit eröffnet, alles zu erreichen, was ich mir je gewünscht habe.«
Auf die eine oder andere Art werde ich Königin von Morta werden , hörte ich Corvinas Stimme in meinem Kopf. Das hatte sie in Myrkvior zu Wexel gesagt – und jetzt tat sie alles, damit ihre Worte wahr wurden.
»Aber du hast dich ständig eingemischt, also habe ich beschlossen, persönlich herzukommen und dich umzubringen, damit du nicht noch mehr von meinen Plänen vereitelst.«
»Wieso willst du mich umbringen? Ich habe dir nie etwas getan. Ich habe es dir schon gestern in der Arena gesagt: Maeven hat Emperia ermordet, nicht ich. Und da du nicht überrascht warst, vermute ich stark, dass du das bereits wusstest.«
Corvina schnaubte. »Ich wusste, dass Maeven irgendetwas im Schilde führt, als sie Emperia angeboten hat, mit ihr in Milos Werkstatt zu gehen, damit sie sich ansehen kann, wie du gefoltert wirst. Ich hatte nur nicht geglaubt, dass das Miststück meine Mutter tatsächlich ermorden und dir die Schuld in die Schuhe schieben würde.« Sie musterte mich höhnisch. »Als hätte Prinzessin Glimma jemals meine Mutter und irgendeinen Dumond besiegen können. Du magst eine Mentalmagierin sein, aber mir bist du nicht gewachsen.«
Corvina hob die Hand. Graue Magie knisterte um ihre Fingerspitzen, ein winziger Wirbelsturm aus Blitzen und ein paar Hagelkörner. Sie wackelte mit den Fingern, und die Magie verband sich zu einer dünnen, flachen Scheibe mit gezackten Kanten – einem tödlichen Hageldiskus.
Die Wettermagierin bewunderte ihre Schöpfung einen Moment, dann warf sie die Scheibe mit einer lockeren Bewegung ihres Handgelenks in den Kamin. Das Eis zischte, als es in die Flammen fiel und schmolz.
»Obwohl ich die Wahrheit gekannt habe, habe ich dann so getan, als würde ich Maeven glauben, als sie behauptet hat, du hättest meine Mutter getötet. Ich habe geflucht und geschrien und habe wütende Drohungen gegen dich ausgestoßen.« Corvina hob stolz den Kopf. »Ich habe eine wirklich herausragende Vorstellung abgeliefert.«
»Du warst brillant«, schaltete sich Wexel ein.
Sie lächelte ihn an, bevor sie ihm einen Luftkuss zuwarf.
Bäh!
Ich musterte ihre graue Gladiatorenkleidung und gelangte zu einer weiteren, üblen Erkenntnis. »Du willst meinen Platz in der Kampfminnetey einnehmen und Leonidas umbringen.«
Sie verzog die schwarz angemalten Lippen zu einem breiten Grinsen. »Genau. Der Leuchtturm ist so hoch, dass niemand erkennen kann, wenn nicht du dort stehst. Abgesehen von Leonidas, natürlich. Falls er es wirklich auf die Spitze des Turms schafft, werde ich ihm ein paar Sekunden lang die Illusion seines Sieges lassen, bevor ich ihn über die Kante stoße.«
Bei dieser Vorstellung zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen.
»Sobald Leonidas tot ist, werde ich den Leuchtturm verlassen, dieses lächerliche Kostüm ausziehen und mich unter die Zuschauer mischen. Irgendwann später werden Xenia und der Rest deiner Freunde deine Leiche in diesen Gemächern finden, mit einem von Milos Pfeilen neben dir.« Corvina schnalzte in vorgespieltem Mitgefühl mit der Zunge. »Und damit hätten wir das tragische Ende dieser verdrehten kleinen Liebesgeschichte zwischen dir und Leonidas. Vielleicht denken sich sogar ein oder zwei Musikmeister Balladen darüber aus.«
Ich ignorierte ihre höhnischen Worte. »Also werden alle denken, ich hätte Leonidas umgebracht und Milo hätte mich aus Rache getötet. Clever. Aber dann musst du immer noch Maeven loswerden.«
»Das dürfte kein Problem darstellen.« Corvina wackelte erneut mit den Fingern, und ein grauer Blitz schoss aus ihrer Hand zu dem Zährensteinpfeil. Das Geschoss rutschte klappernd über den Boden. »Während alle schreiend herumrennen und Leonidas’ Tod beklagen, werde ich mich durch die Menge schleichen und dem Miststück einen Bolzen in den Rücken schießen. Wenn der Pfeil sie nicht sofort tötet, dann wird es das Narrensterngift erledigen.«
Das nächste Puzzlestück ihres Plans fand seinen Platz. »Und dann wirst du dich gegen Milo wenden, weil du ihn nicht mehr brauchst. Deswegen hast du mich mit einem seiner Pfeile angeschossen. Du willst ihm den Mord an mir anhängen – und den an Maeven.« Obwohl sie mich vergiftet hatte, musste ich ihre Klugheit doch anerkennen – und wollte immer noch mehr über ihre Pläne erfahren. »Milo wird sich nicht kampflos ergeben, aber du hast sicherlich schon Ideen, wie du ihn kleinkriegst.«
Corvina grinste fies und grausam. »In den letzten paar Tagen habe ich heimlich meine Männer von Antheia hierhergebracht und in Schloss Caldwell eingeschleust. Milo wird nach Maevens Tod annehmen, dass die Männer seinen Befehlen folgen. Aber ihre Loyalität gehört mir . Mit Wexels Hilfe werde ich Milo gefangen nehmen und jeden töten, der ihn noch unterstützt. Im Anschluss werde ich Milo als Zeichen des guten Willens an deinen Vater ausliefern, um mir so meine Krone zu sichern. Ich bin mir sicher, Dominic Ripley hat großes Interesse daran, die Person hinzurichten, die für den Mord an seiner Tochter verantwortlich ist.«
»Damit bleibt immer noch Delmira«, hob ich hervor.
Corvina lachte wieder. »Bitte. Delmira ist es nicht einmal wert, getötet zu werden. Wenn sie Glück hat, lasse ich sie am Hof in Myrkvior. Ich wollte immer schon eine Morricone-Dienerin.«
Bei ihren Worten wurde mir kalt. Ich hatte Milo und Maeven für meine gefährlichsten Feinde gehalten, doch Corvina machte ihnen durchaus Konkurrenz. Es war wirklich brillant – und absolut skrupellos –, wie die Adelige vorgegeben hatte, Milo zu helfen, während sie seine Pläne für sich selbst instrumentalisiert hatte. Sie hatte definitiv aus den Fehlern ihrer Mutter gelernt und würde jeden ausschalten, der ihrer Thronbesteigung im Weg stand.
»Wir müssen los«, sagte Corvina. »Die Herausforderung wird bald beginnen.«
»Du solltest mir einfach erlauben, sie zu zerquetschen wie einen Käfer.« Wexel verstärkte den Druck auf meine Brust, sodass ich meine Rippen knirschen hörte.
Corvina schüttelte den Kopf. »Nein. Milo besitzt keine Stärkemagie. Ich will niemandem einen Grund liefern, daran zu zweifeln, dass er Gemma ermordet hat. Wir halten uns an den Plan. Das Gift wird sie erledigen.«
Für einen Moment presste Wexel seinen Stiefel noch fester auf meine Brust, doch dann trat er zurück. Ich schnappte nach Luft.
Corvina stieg über mich hinweg und schlang dem Hauptmann die Arme um den Hals. »Auch wenn ich es wirklich liebe, wenn du mir anbietest, jemanden für mich zu ermorden.«
Wexel grinste kurz, bevor er sich vorbeugte und sie küsste. Corvina stöhnte an seinem Mund und schlang ihm ein Bein um die Hüfte. Wexel stieß ein Knurren aus. Seine Hände glitten an ihren Hintern. Lust strahlte von beiden aus. Igitt. Wenn ich hier liegen musste und ihnen beim Sex zuschauen … nun, das wäre wirklich erniedrigend.
Corvina zog sich zurück. »Nicht jetzt«, schnurrte sie. »Wir haben noch einiges zu tun.«
Sie drückte dem Hauptmann einen letzten Kuss auf die Lippen, dann sah sie wieder auf mich herunter, dabei waren ihre grauen Augen so kalt wie dieser tödliche Hageldiskus, den sie vorhin erschaffen hatte. »Mach’s gut, Gemma. Tut mir leid, dass ich nicht bleiben kann, um dein Leiden zu bezeugen. Nach allem, was ich gelesen habe, ist der Tod durch Narrensterngift ausgesprochen qualvoll.«
Sie grinste bösartig, dann verließ sie mit Wexel im Schlepptau das Wohnzimmer. Sie schlossen die Tür hinter sich und ließen mich sterbend zurück.