The Massacre Opera House

Am späten Nachmittag des 24. Juni 1852 entdeckte Rossini in der Nähe des Washington Square an einem Holzzaun ein Plakat, das er zunächst gar nicht wahrnahm. Erst der penetrante Gestank einer halbverwesten Katze, die im ausgetrockneten Rinnstein unter dem Plakat lag, lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Anschlag. Rossini stoppte plötzlich mitten im Gehen: Habe ich soeben tatsächlich den Namen Giulia Grisi gelesen? Er drehte sich um und las mit zugehaltener Nase:

THE
PHILHARMONIC SOCIETY OF NEW YORK
PRESENTS A CONCERT BY THE FAMOUS ITALIAN SOPRANO
GIULIA GRISI
ARIAS BY MOZART, DONIZETTI, BELLINI AND ROSSINI
THE MUSIC HALL AT ASTOR PLACE
WEDNESDAY, JUNE 30TH CONCERT STARTS AT 7 P.M. GENERAL ADMISSION: 5 DOLLARS

Rossini war sprachlos. Da hatte er dem Musikbetrieb in Italien längst den Rücken gekehrt, und bereits am dritten Tag seines Aufenthalts in New York wurde er von eben diesem Betrieb wieder eingeholt. Irritiert fragte er sich, welche Rolle Entfernungen eigentlich noch spielten. Wenn die Grisi nicht nur in Paris oder Rom, sondern genauso selbstverständlich in New York auftrat, hieß das, dass es gleichgültig war, vor welchem Publikum man sang?

Giulia Grisi war eine der bedeutendsten Sängerinnen ihrer Zeit und hatte nicht nur in Rossinis Oper Zelmira brilliert, sondern war auch in Semiramide und in Die diebische Elster von Publikum und Presse frenetisch gefeiert worden. Nachdem die Grisi in London aber den Marquis de Meley geheiratet hatte, hatte Rossini sie aus den Augen verloren. Ein paar Jahre später hatte sie sich vom Marquis wieder getrennt und war die Frau des berühmten Sängers Giovanni Matteo de Candia geworden. Gemeinsam mit de Candia, der unter dem Künstlernamen Mario bekannt war, trat sie in verschiedenen Opern auf und setzte auch ihre Karriere als Konzertsängerin fort. Und jetzt war die Grisi in New York und Rossini hoffte, dass sie ihm nicht auch noch zufällig über den Weg lief.

Dass Rossini ein Zusammentreffen mit Giulia Grisi tunlichst vermeiden wollte, lag in erster Linie daran, dass er einmal eine heftige Affäre mit ihr gehabt hatte. Nachdem er sich aber geweigert hatte, sich von seiner Frau Isabella Colbran zu trennen, hatte Giulia die Beziehung wieder beendet. Auch wenn Rossini interessiert hätte, wie das New Yorker Publikum auf Grisis Auftritt reagieren würde, war für ihn klar, dass eine Verschiebung seiner Abreise nicht in Frage kam. Allerdings nahm er sich vor, umgehend an seinen Verleger Troupenas in Paris zu schreiben, um herauszufinden, ob für diese Aufführung die vorgeschriebenen Tantiemen bezahlt wurden

Eine Ratte, die sich zögernd dem Kadaver der Katze näherte, holte Rossini zurück in die Gegenwart. Er machte, dass er so schnell wie möglich wegkam. Am Washington Square setzte er sich auf eine Bank.

Während er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, hörte er jemanden aufgeregt »Mister, Mister!« rufen. Er hob den Kopf und sah eine Frau auf sich zukommen, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Wahrscheinlich wegen ihres blauen Auges fiel ihm erst beim zweiten Hinsehen ein, woher er die Frau kannte. Es war jene Hedwig, die sich auf dem Schiff in Begleitung des Zuhälters Adam Kaltenbacher befunden hatte. Instinktiv suchte er die Umgebung nach dem Mann ab, konnte ihn aber nirgendwo finden.

»Mister«, sagte Hedwig und setzte sich neben Rossini, »Mister, Sie müssen mir helfen. Adam hat mich geschlagen, weil ich in der letzten Nacht zu wenig Geld nach Hause gebracht habe. Da bin ich weggelaufen.«

»Ich kann Ihnen nicht helfen«, entgegnete Rossini mit einer abwehrenden Geste. Rossini sprach leise, weil er Angst hatte, man würde ihn mit der Frau mit dem blauen Auge in Verbindung bringen. »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen«, sagte er und stand auf.

»Bitte«, jammerte Hedwig und hielt ihn am Arm fest. »Ich brauche Geld, damit ich nach Philadelphia fahren kann. Dort habe ich Verwandte, die mich aufnehmen werden. Ich möchte ein neues Leben beginnen.«

Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, setzte sich Rossini wieder neben Hedwig und sah sie an. Er war überrascht, weil er in das Gesicht einer verzweifelten Frau blickte und nicht in das einer abgebrühten Prostituierten. Er erinnerte sich an Kaltenbachers großspurige Reden auf dem Schiff und hatte plötzlich Mitleid mit ihr. »Wie alt sind Sie eigentlich?«

Hedwig neigte den Kopf ein wenig zur Seite und sah Rossini misstrauisch an. »Ich bin achtundzwanzig«, sagte sie bitter. »Ich bin einverstanden, wenn Sie mir –«

»Um Gottes willen, nein«, antwortete Rossini. »Wie viel kostet die Reise nach Philadelphia?«

Hedwigs Züge entspannten sich wieder. »Mit dem Schiff zehn Dollar, aber ich kann nicht mehr zum Hafen zurück, weil mich Kaltenbacher dort finden würde. Ich muss so schnell wie möglich mit der Eisenbahn nach Philadelphia fahren. Die Fahrkarte kostet wahrscheinlich auch zehn Dollar.«

Ohne lange zu überlegen, holte Rossini eine Zwanzig-Dollar-Münze heraus und drückte sie Hedwig in die Hand. Er wollte nicht, dass jemand sah, dass er der Frau Geld gab.

Hedwig warf einen raschen Blick auf die Münze und steckte sie in ihre kleine Umhängetasche, in der sich ihre Habseligkeiten befanden. »Vielen Dank, Mister«, sagte sie lächelnd. »Ich werde Ihnen das nie vergessen. Ich fahre sofort zum Bahnhof und hoffe, dass ich noch heute einen Zug nach Philadelphia bekomme.« Sie stand auf und gab dem verdutzten Rossini einen Kuss auf die Wange. »Ich wusste, dass Sie ein guter Mensch sind.« Dann drehte sie sich um und verschwand in der Menschenmenge. Rossini sah ihr noch lange nach.

Auch wenn für Rossini klar war, dass er seine Abreise nicht verschieben würde, wollte er doch noch einen Abstecher zum Astor Place machen, um sich die Music Hall anzusehen. Die Music Hall war das Ersatzquartier für die 1847 eröffnete Astor Place Opera, deren Namensgeber der aus England stammende Multimillionär John Astor war, der mit Grundstücksspekulationen ein Vermögen verdient hatte. Das zuvor unter anderen Vorzeichen eröffnete Palmo’s Opera House in der Chambers Street hatte bald wieder seine Pforten schließen müssen, nachdem der Plan, auch für die weniger Wohlhabenden Oper zu machen, gescheitert war. Und das, obwohl es in Palmo’s Opera House keinen Dresscode gab und alle Besucher bei einem einheitlichen Eintrittspreis von einem Dollar auf Holzbänken saßen.

Das Astor Place Opera House hingegen war von Anfang an ein Treffpunkt des englisch dominierten Geldadels gewesen, was den vornehmlich von irischen Auswanderern bewohnten Armenquartieren rund um die Oper verständlicherweise ein Dorn im Auge war.

Die Auseinandersetzungen zwischen dem anglophilen Geldadel und den pro-amerikanischen proletarischen Einwanderern aus Irland gipfelten am 10. Mai 1849 in den sogenannten Astor-Place-Unruhen, die fünfundzwanzig Todesopfer und über einhundertzwanzig Verletzte forderten. Auslöser für diese Revolte war ein Streit zwischen den Anhängern der berühmtesten Shakespeare-Darsteller ihrer Zeit, Edwin Forrest und William Charles Macready, gewesen, die am selben Tag in New York mit Shakespeares Macbeth gastierten. Während der Engländer Macready im Astor Place Opera House auftrat, spielte Forrest nur wenige Blocks entfernt im Broadway Theatre. Nachdem sich Forrests Anhänger von Macreadys Auftritt provoziert fühlten, versuchten an die zehntausend anti-englische Demonstranten, die Aufführung am Astor Place zu verhindern. Als Steine flogen und Angehörige der Miliz angegriffen wurden, eröffneten Soldaten und Polizisten das Feuer und erschossen fünfundzwanzig Demonstranten. Trotz der Straßenschlacht spielte Macready seine Vorstellung zu Ende.

The Massacre Opera House, wie die Oper fortan genannt wurde, konnte nach diesen blutigen Auseinandersetzungen seinen Ruf nicht wiederherstellen und wurde 1850 geschlossen. Die New Yorker Elite baute sich wenig später mit der Academy of Music am Irving Place ein neues Opernhaus, wo sie ungestört ihren Repräsentationspflichten nachkommen konnte.

Rossini stand vor dem Eingang der Music Hall und staunte nicht schlecht, als er auf einem Plakat las, dass eine Woche nach dem Konzert der Grisi die berühmten Mollenhauer Brüder Ludwig van Beethovens Konzert für Violine und Orchester in D-Dur zur Aufführung bringen würden. Eduard, Friedrich und Heinrich Mollenhauer gehörten zu den berühmtesten Violinisten ihrer Zeit, und die Tatsache, dass sie mit dem Orchester der New York Philharmonic Society unter der Leitung von Theodore Eisfeld auftraten, war für Rossini ein weiteres Indiz dafür, dass der Musikbetrieb in einem Ausmaß international geworden war, das er nicht für möglich gehalten hätte. Er zögerte einen Moment, bevor er die Tür öffnete und das Foyer betrat, das genauso schlicht war wie das Gebäude selbst. Vom alten Glanz des Astor war hier nichts mehr zu spüren. Als Rossini in Richtung Saaltür gehen wollte, hörte er eine Stimme.

»Entschuldigen Sie, Sir, aber die Music Hall ist geschlossen.«

Rossini drehte sich um und sah zwei schwarze Arbeiter, die im Foyer etwas reparierten. »Das wusste ich nicht«, sagte Rossini und hielt kurz inne. Täuschte er sich oder spielte im Saal tatsächlich jemand Klavier?

Wieder auf der Straße, fragte er sich, ob er insgeheim vielleicht doch gehofft hatte, die Grisi bei einer Probe anzutreffen.

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