Wild Turkey

Rossini, Kamalesh und Soulman saßen schweigend um eine Feuerstelle, von der nur noch ein paar Überreste zu sehen waren. Seit Big Thunders Aufbruch waren mehr als drei Stunden vergangen, und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch fragte sich Rossini, ob sie der Indianer möglicherweise doch in einen Hinterhalt gelockt hatte. Er versuchte, seine Unruhe vor Kamalesh und Soulman zu verbergen, wusste aber nicht, wie er sich ihnen gegenüber verhalten sollte.

Natürlich hätten sie umdrehen und den Spuren des Planwagens folgen können, aber da es bald dunkel wurde, hatte Rossini Angst, sich zu verirren. Kamalesh stocherte mit einem Ast in der kalten Asche und murmelte etwas vor sich hin. Er warf Rossini einen spöttischen Blick zu und sagte: »Auf gerader Straße sein noch niemand verloren gegangen.«

»Was soll das denn wieder heißen?«, fragte Rossini gereizt. »Willst du mir etwa vorwerfen, dass wir Big Thunder geholfen haben?«

»Kamalesh nur haben wiederholt indisches Sprichwort.«

»Immer diese Sprichwörter. Vielleicht sollten wir uns lieber überlegen, was wir machen?«

»Was ist mit Mulis?«, fragte Soulman. »Wenn sie Durst haben, werden sie Wasser suchen. Und wenn sie Wasser finden, können wir dem Fluss folgen. Big Thunder hat gesagt, dass in der Nähe ein Fluss ist.«

»Ach, Unsinn«, sagte Rossini. »Warum sollten die Mulis mitten im Wald einen Fluss finden?« Er stand auf und kletterte in den Planwagen. Man hörte, wie er die Proviantkiste öffnete. »Der Zwieback und die Bohnen reichen gerade noch für das heutige Abendessen. Aber das größere Problem ist das Wasser, das geht spätestens morgen zu Ende.«

Ein leichter Wind kam auf und bewegte die Wipfel der Hickory- und Walnussbäume. Obwohl alles ruhig war, spürte Rossini eine unbestimmte Beklemmung in sich aufsteigen. Ich hätte dem Indianer nicht blind folgen sollen, dachte er verdrossen, und er war plötzlich sicher, von Big Thunder in eine Falle gelockt worden zu sein.

»Vielleicht hat Big Thunder einen Unfall gehabt«, mutmaßte Soulman, der mit Fortdauer der Reise immer gesprächiger wurde.

»Wann haben Thakiwaki gesagt, dass kommen zurück?«, fragte Kamalesh.

»Ich weiß nicht, er hat nur gesagt, dass er einen wilden Truthahn für uns fangen wird.«

Als die Mulis ihre Köpfe hoben und die Ohren spitzten, hielt Rossini den Atem an. Auch Soulman und Kamalesh sahen gespannt in die Richtung, aus der sie Äste knacken hörten. Aber noch bevor Rossini sein Gewehr holen konnte, humpelte Big Thunder schon aus dem Gebüsch und hielt triumphierend einen riesigen Truthahn in die Höhe. Das Bild erinnerte Rossini an Soulman, der wenige Tage zuvor ebenso unvermittelt mit den Heuschrecken aufgetaucht war.

Soulman erhob sich und lief freudestrahlend auf Big Thunder zu.

Mit einer gehörigen Wut im Bauch hielt Rossini dem Indianer seine Taschenuhr entgegen. »Was soll das?«, schimpfte er. »Sie haben gesagt, dass Sie kurz in den Wald gehen, um einen Truthahn zu fangen, und dann kommen Sie erst nach mehr als drei Stunden zurück. Wissen Sie, dass wir vor Angst fast gestorben wären? Und wo sind meine Stiefel, die ich Ihnen geliehen habe.«

Big Thunder warf Rossini einen amüsierten Blick zu: »Der weiße Mann hat die Uhr, aber wir haben die Zeit. Nasheakusk hat versprochen, einen Peleewa zu fangen, und was hat Nasheakusk getan? Er hat einen Peleewa gefangen.« Dann reichte er Rossini die beiden vollen Wasserflaschen, die er sich um die Schulter gehängt hatte. »Und Ihre Stiefel waren viel zu eng und haben viel zu viel Lärm gemacht.«

Rossini wollte noch etwas sagen, aber Big Thunder achtete gar nicht mehr auf ihn. Er hielt den bunt gefiederten Vogel in die Höhe, und erst jetzt sah Rossini, dass er noch lebte. Der Truthahn wog sicherlich an die zehn Pfund. Sein Gefieder war rotbraun und schwarz und hatte einen metallischen Schimmer. Mit der freien Hand zog Big Thunder sein Messer aus der Scheide, und mit einer schnellen, kräftigen Bewegung schnitt er den nackten, blassroten Kopf des Truthahns ab. Der kopflose Vogel schlug wild um sich und das Blut spritzte in mächtigen Fontänen auf den Waldboden. Es dauerte einige Minuten, bis der Flügelschlag schwächer wurde und schließlich ganz aufhörte.

Big Thunder nickte zufrieden. »Nasheakusk wird den Peleewa jetzt häuten und ausnehmen, und dann können wir ihn braten. Aber dazu muss erst einmal ein Feuer brennen.«

Kamalesh, der das Spektakel mit einem unglücklichen Gesichtsausdruck verfolgt hatte, hob abwehrend die Hände. »Kamalesh essen kein Chinai Murghi.«

Big Thunder warf dem Inder einen abfälligen Blick zu. »Der Peleewa war für unser Volk viele Generationen lang ein wichtiger Teil unserer Ernährung. Nasheakusk kann nicht verstehen, wie jemand das köstliche Fleisch eines Peleewa verschmähen kann. Die Erde ist unsere Mutter, sie trägt und nährt uns.«

Kamalesh sah hilfesuchend zu Rossini, der aber bloß mit den Schultern zuckte und Richtung Planwagen deutete. »In der Proviantkiste gibt es noch Zwieback.«

Während Soulman trockene Äste sammelte, beobachtete Rossini den Indianer, der den Truthahn auf den Boden legte und sich mit geschlossenen Augen davor verbeugte. Er verharrte kurz in dieser Stellung und hob dann die Hände theatralisch zum Himmel:

»Kchi-Mìgwech Gzheminido mìnwà ngoding.

Kchi-Mìgwech gì mìzhyàng iw sa Bimàdziwin.

Kchi-Mìgwech gì mìzhyàng Nigigòg.

Wìdòkwishnàng ji namàyang gwayak Jimoseyàng.

Kchi-Mìgwech Gzheminido Kinagegò.«

Nachdem er die Zeremonie beendet hatte, zog er dem Truthahn mit routinierten Handgriffen die Haut ab und rupfte zwei lange, schwarze Federn aus, die er in die Erde steckte. Fasziniert beobachtete Rossini den Indianer und fragte: »War das ein Gebet, das Sie vorhin gesprochen haben?«

Ohne Rossini anzusehen, antwortete Big Thunder:

»Schöpfer, wir danken dir für den heutigen Tag.

Wir danken dir, dass du uns allen das Leben geschenkt hast.

Wir danken dir, dass du uns Eltern geschenkt hast.

Führe uns auf einen guten Pfad.

Schöpfer, wir danken dir für alles.«

»Hm«, murmelte Rossini, der nicht wirklich verstand, was dieser Spruch mit dem toten Tier zu tun hatte.

Big Thunder legte den abgezogenen Truthahn auf den Rücken und vergrößerte mit einem Schnitt die hintere Öffnung, damit er leichter an die Innereien herankam. Lange wühlte er in den Eingeweiden herum, bis er das übelriechende Gekröse herauszog und auf den Boden legte. Die blutverschmierten Hände wischte er sich mit trockenen Blättern ab, bevor er die Leber und die Nieren auf einem spitzen Ast aufspießte. Die restlichen Innereien trug er zu einem mächtigen Hickorybaum, wo er sie auf den Boden legte. Er hielt kurz inne, berührte den Stamm und murmelte ein paar Worte. Als er zurückkam, sagte er: »Auch Mahìngan, Makwa und Wàgosh sollen ihren Teil von unserem Peleewa bekommen.« Auf Rossinis fragenden Blick antwortete er: »Wolf, Bär und Fuchs.«

»Aber ist es eine gute Idee, Wölfe und Bären anzulocken?«, fragte Rossini mit einem mulmigen Gefühl.

»Schenke das, was du selbst gern empfangen würdest, und der Geist der Natur wird dich mit seinen Wohltaten überschütten«, antwortete der Indianer, bevor er sich wieder dem Truthahn zuwandte.

Zwei Stunden später saßen Rossini, Soulman und Big Thunder um das Lagerfeuer und machten sich über die auf dem Rost liegenden Truthahnstücke her. Kamalesh saß abseits und unbequem auf einem Baumstumpf, wo er lustlos Bohnen aus einer Konservendose löffelte. Der Duft des gebratenen Truthahns ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen, und er überlegte fieberhaft, wie er es anstellen könnte, doch noch in den Genuss des Fleisches zu kommen, ohne im nächsten Leben als Wurm geboren zu werden. Er ließ einige hinduistische Gottheiten Revue passieren und hielt inne, als ihm Kali einfiel, die Göttin der Zerstörung und der Erneuerung. Kamalesh stellte die Dose ab und rief sich das sechste Kapitel der Mahabharata in Erinnerung. Leise begann er zu memorieren, bis er immer lauter wurde:

»Prasannā me surashreshthe dayām kuru shivā bhava
jayā tvam vijayā caiva samgrāme ca jayapradā
mam’āpi vijayam dahi varadā tcam ca sāmpratam
vindhye caiva nagashreshthe tava sthānam hi shāshvatam
kāli kāli mahākāli sīdhumāmsapashupriye
kṛt’anuyātrā bhūtais tvam varadā kāmacārini.«

Rossini, Soulman und Big Thunder sahen Kamalesh an. »Kamalesh, ist alles in Ordnung?«, fragte Rossini mit einem Truthahnflügel in der Hand.

»Sahib, alles sein gut«, antwortete der kleine Inder aufgeräumt, und begann zu rezitieren:

»O erste Gottheit, erfüllen uns mit Gnade,

uns zeigen Erbarmen, auch sein ein Quell von Segen.

Du sein Jaya und Vijaya.

Du gewähren Sieg im Kampf.

O Göttin, gewähren Sieg und geben Segen, auch in Stunde von Qual.

Deine Wohnung sein auf Vindhya-Gipfel, ist bester Berg.

O Kali, o Kali, o Mahakali, du lieben Wein,

Fleisch, Tier.

Kannst schenken Verehrern Segen.«

Rossini hatte erstaunt zugehört und sich gefragt, weshalb Kamalesh ganze Passagen dieses Buches auswendig konnte.

Kamalesh setzte sich zu den anderen ans Lagerfeuer und wiederholte: »Du lieben Wein, Fleisch, Tier. Kamalesh haben herausgefunden, dass ich dürfen essen Fleisch, ohne Strafe von Brahma, Shiva oder Vishnu.«

Während sich Soulman und Big Thunder wieder ihrem Essen zuwandten, deutete Rossini auf die am Rost liegenden Fleischstücke. »Wie du siehst, ist noch genug da, und ich bin mir sicher, dass dich deine Götter verstehen werden.«

Kamalesh griff zuerst nach dem Spieß mit der Leber und den Nieren. Er zögerte kurz und biss dann ein ganz kleines Stück davon ab, bis er sich sicher sein konnte, dass nichts mit ihm geschah. Nachdem er die restlichen Innereien aufgegessen hatte, griff er nach einem riesigen Truthahnschenkel und nagte ihn auf sehr umständliche Weise bis auf den Knochen ab. Während des Essens lächelte er immer wieder vergnügt vor sich hin, so als könnte er nicht glauben, was er gerade machte.

»Der Truthahn schmeckt übrigens ausgezeichnet«, sagte Rossini und warf ein paar Knochenreste ins Feuer.

»Früher war der Wald voll mit wilden Truthähnen, Hirschen und Elchen«, begann Big Thunder zu erzählen. »Unser Volk hatte immer genug zu essen, aber nur, solange wir in Frieden lebten. Als die Weißen begannen, unsere Stämme gegeneinander aufzuhetzen und sie uns unser Land wegnahmen, wurde es von Jahr zu Jahr schwieriger, Plätze zu finden, wo es genug Nahrung gab.«

»Was passierte mit den Menschen, die hier lebten?«, fragte Rossini. »Warum sind sie nicht geblieben?«

Big Thunder warf einen Blick in die Runde und machte ein feierliches Gesicht. Er genoss es, wieder einmal jene Geschichten erzählen zu können, von denen er wusste, dass sie bei seinen Zuhörern gut ankamen: »Vor einigen Jahren zogen Siedlertrecks auch durch das Land der Thakiwaki. Unser Stamm verhielt sich den Weißen gegenüber neutral, weil wir keinen Krieg wollten. Aber das war ein Fehler, weil die Weißen gleich mehrere Kriege gegen uns führten. Einer davon war lautlos, indem sie Blattern, Pocken oder Masern einschleppten. Diesen Krankheiten waren wir hilflos ausgeliefert, und wir merkten viel zu spät, dass die Weißen diese Krankheiten ganz gezielt eingeschleppt hatten. In einem anderen Krieg wurde uns die Lebensgrundlage entzogen, indem man die Tiere tötete, von denen wir uns ernährten.«

Rossini, Kamalesh und Soulman hörten gespannt zu, wobei Rossini den Eindruck hatte, dass sich Soulmans Gesichtszüge verhärteten. Aber vielleicht lag das auch nur am Schein des Lagerfeuers, der das Gesicht des Schwarzen besonders grimmig erscheinen ließ.

»Das war – neben den viel zu engen Stiefeln – auch der Grund, weshalb Big Thunder heute so lange gebraucht hat, um einen Peleewa zu fangen. Sie sind fast alle verschwunden. Und jetzt beginnen sie, die Wälder zu roden.«

Rossini fiel der Feldstecher und die halb verbrannte Landkarte ein, die er an der Absturzstelle gesehen hatte. »Waren Sie deshalb mit diesen beiden Männern im Ballon unterwegs?«

Big Thunder hatte seinen Blick auf das Feuer gerichtet. »In unseren Wäldern wachsen Hickory- und Walnussbäume. Wir machten aus dem Holz des Hickorybaums unsere Bögen. Es gibt kein besseres Holz für einen Bogen. Und aus den gepressten Hickorynüssen gewannen wir ein Getränk, das wir Pocohiquara nannten. Die Weißen aber verwenden das Hickoryholz für die Griffe und die Stiele ihrer Hämmer, Spitzhacken und Äxte, und seitdem man überall nach Gold sucht, ist der Hunger nach diesem Holz so groß, dass sie jetzt auch unsere Wälder roden. Und da Walnussholz das beste Holz für Gewehrschäfte ist und die Weißen immer mehr Waffen benötigen, werden auch diese Bäume gefällt.«

»Aber wem gehören diese Wälder?«, fragte Rossini.

»Früher gehörten die Wälder niemandem. Genauso wenig wie die Prärie, die Flüsse oder die Berge. Aber nachdem 1830 ein Gesetz verabschiedet wurde, das die Umsiedlung und Ausweisung der Indianer auf eine legale Grundlage stellte, wurden viele Stämme aus ihren alten Territorien vertrieben. Die Cherokee bezeichneten diese Vertreibung als Nunna daul Tsuny, was so viel wie Pfad der Tränen heißt. Wenn heute ein Weißer Anspruch auf ein Stück Land erhebt, müssen die Indianer weichen.«

»Und wer hat Anspruch auf diesen Wald erhoben? Waren es die beiden Männer, die mit Ihnen im Ballon geflogen sind?«

»Nein«, antwortete Big Thunder. »Die beiden Männer haben im Auftrag eines großen Holzhändlers in Jasper gehandelt. Und sie haben mich als Scout engagiert, damit ich ihnen zeige, wo die verschiedenen Bäume wachsen. Ich bin hier aufgewachsen, ich kenne die Wälder.«

Soulman schüttelte den Kopf und warf Big Thunder einen enttäuschten Blick zu: »Deshalb macht man gemeinsame Sache mit den Weißen?«

Rossini, der keinen Streit wollte, versuchte das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken: »Und warum ist der Ballon abgestürzt?«

»Sie sind zu tief geflogen und haben einen Baum gestreift. Ich wollte nicht mit ihnen fliegen, aber sie haben mir viel Geld geboten, also bin ich mitgekommen.«

Kamalesh folgte den Ausführungen Big Thunders mit ungläubigem Staunen, obwohl er wahrscheinlich nur die Hälfte verstand.

»Aber weshalb haben sie überhaupt einen Ballon genommen? Wäre es nicht einfacher gewesen, das Gebiet zu Fuß zu erkunden?«

»Vielleicht«, sagte Big Thunder. »Ich habe nur gehört, dass die beiden Männer herausfinden sollten, wie man einen solchen Ballon bei der Landvermessung einsetzen könnte. Sie haben ja schon viele Flüge gemacht, aber ich war vorher nie dabei.« Big Thunder holte aus dem Tabaksbeutel das Blatt Papier, das er an sich genommen hatte. »Hier.«

Rossini sah, dass es sich dabei um die amtliche Bestätigung eines Notars aus Jasper handelte. »Hier steht, dass Bill Fletcher und Pat Robertson berechtigt sind, im Auftrag des Waldbesitzers Brady Robertson Ballonflüge durchzuführen.« Rossini warf Big Thunder einen fragenden Blick zu. »Dieser Pat Robertson war der Sohn des Waldbesitzers?«

Big Thunder nickte.

»Aber ich verstehe das nicht«, sagte Rossini. »Wozu braucht man für Ballonflüge eine Genehmigung? Und müssen Sie diesen Brady Robertson nicht informieren, dass sein Sohn tot ist?«

Big Thunder lachte sarkastisch. »Wenn ich das mache, bin ich ein toter Mann. Die Weißen würden mir die Schuld am Absturz geben und mich am nächsten Baum aufhängen.« Big Thunder sah einen nach dem anderen an. »Niemand darf erfahren, dass ich im Ballon war und den Absturz überlebt habe. Sie haben nie einen Ballon gesehen, und mich haben Sie mitgenommen, weil ich mich im Wald beim Jagen verletzt habe.«

Soulman und Kamalesh hörten gespannt zu. »Wie viele Leute wissen, dass Sie mit dem Ballon unterwegs waren?«, fragte Rossini.

»Keine Ahnung. Aber vielleicht ist es besser, wenn Sie mich ab sofort nicht mehr Big Thunder nennen.«

»Und wie sollen wir Sie nennen?«, fragte Rossini.

»Slow Turtle«, antwortete der Indianer, ohne lange zu überlegen.

»Slow Turtle?« Soulman war sichtlich irritiert.

»Ja, Slow Turtle. In der Sprache unseres Stammes heißt das Cjegktoonupa.«

»Also, Soulman statt Ringgold und Slow Turtle statt Big Thunder.« Rossini schüttelte den Kopf.

»Ringgold?«, fragte der Indianer erstaunt.

»Ach, nichts«, antwortete Rossini, der hoffte, dass sich nicht auch noch Kamalesh einen anderen Namen zulegte.

»Slow Turtle, Sie haben uns aber noch immer nicht erzählt, wo die Menschen hingekommen sind, die hier gelebt haben?«

Slow Turtle legte ein paar Äste in die Glut und wartete, bis sie Feuer gefangen hatten, dann sprach er mit fester Stimme: »Mein Großvater war der große Häuptling Makataimeshekiakiak, was so viel wie Black Hawk heißt. Black Hawk hat viele Verhandlungen mit den Weißen geführt, und er hat mich oft zu diesen Beratungen mitgenommen. Ich war vierzehn, als mein Großvater nach vielen Gesprächen einen Vertrag mit dem Gouverneur von Indiana, Noah Noble, abgeschlossen hat. Nach dem Ansturm weißer Siedler hatte Black Hawk gar keine andere Wahl gehabt, als diesen Vertrag zu unterzeichnen. Darin wurde den Thakiwaki Mais zugesichert, wenn sie sich im Gegenzug in das Gebiet jenseits des Patoka River zurückzogen. Als wegen der vielen Siedler aber auch dort die Lage immer unerträglicher wurde und man entgegen den Vereinbarungen viel zu wenig Mais lieferte, versammelte Black Hawk zweitausend halb verhungerte Stammesmitglieder um sich, um mit ihnen von ihren eigenen Feldern Mais zu stehlen. Aber die Siedler waren gewarnt worden, und so kam es 1832 zum Krieg zwischen den Thakiwaki und den amerikanischen Truppen. Ich habe an diesem Krieg als junger Kämpfer teilgenommen und gesehen, wie einhundertfünfzig unserer Leute von Soldaten getötet wurden. Mein Großvater konnte fliehen, wurde später aber gefangen genommen und als Häuptling abgesetzt. Ich habe ihn nie wieder gesehen, erinnere mich aber an die Worte, die später von ihm verbreitet wurden: ›Die Weißen skalpieren nicht den Kopf, sie tun Schlimmeres: Sie vergiften das Herz.‹« Slow Turtle machte eine Pause und starrte ins Feuer. Dann fuhr er fort: »Ich gehörte zu einer kleinen Gruppe von Thakiwaki, die nach der Umsiedlung unseres Stammes wieder hierher zurückgekehrt sind. Als Angehöriger des Bären-Clans war ich für die Sicherheit unseres Stamms verantwortlich und musste daher die Verhandlungen mit den weißen Siedlern und der Armee führen.«

»Deshalb sprechen Sie also so gut Englisch.«

Slow Turtle erzählte weiter. »Es war vor zwei Jahren, als sich zurzeit der fallenden Blätter die Kuh eines Mormonen in unser Lager verirrte. Der Besitzer der Kuh war in der Nähe mit einem Treck Richtung Westen unterwegs. Wegen des großen Hungers, der hier herrschte, hat ein junger Mann namens Enkoodabaoo die Kuh kurzerhand geschlachtet. Noch während des Festmahls tauchte ihr Besitzer mit fünf Soldaten auf und verlangte Enkoodabaoos Auslieferung. Ich versuchte zu vermitteln und bot als Ausgleich ein Pferd an, aber sowohl der Mormone als auch die Soldaten lehnten das Angebot kategorisch ab. Als Enkoodabaoo von einem betrunkenen Soldaten beleidigt wurde, kam es zu einem heftigen Wortgefecht, in dessen Verlauf der Krieger Sunukkuhkau von hinten erschossen wurde. Kurze Zeit später waren die fünf Soldaten und der Mormone tot. Nach diesem Zwischenfall blieb uns gar nichts anderes übrig, als unsere Zelte abzubrechen und weiterzuziehen.« Slow Turtle deutete auf die Krone des Hickorybaums, vor dem er die Innereien abgelegt hatte. »Nachdem wir Sunukkuhkau in diesem Hochgrab bestattet hatten, versuchten wir, uns an einem Ort in Sicherheit zu bringen, von dem wir hofften, dass ihn die Armee nicht kannte. Wir verbrachten dort den Winter und wiegten uns bereits in Sicherheit, als wir eines Tages von etwa zweihundert Kavalleristen aus Rache überfallen wurden. Wir verloren siebenunddreißig Stammesangehörige, darunter viele Frauen und Kinder. Einige Frauen und Kinder wurden auch verschleppt, wir haben sie nie wieder gesehen.«

Nachdem Slow Turtle geendet hatte, sagte keiner ein Wort. Man hörte nur das Prasseln des Feuers und irgendwo im Wald den Schrei einer Eule. Rossini war verstört und wusste nicht, wie er auf die Schilderungen Slow Turtles reagieren sollte. Es war noch keine drei Monate her, dass er Florenz verlassen hatte, und trotzdem waren die Erinnerungen an sein früheres Leben bereits so weit verblasst, dass er Schwierigkeiten hatte, sich bestimmte Gesichter oder Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen. Seine bisherigen Erlebnisse und die Gesellschaft dieser drei merkwürdigen Männer hatten sein Weltbild gehörig ins Wanken gebracht. Rossini war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte.

Während sie schweigend am Feuer saßen, stand Slow Turtle auf und betrachtete den Mond. Er griff nach einem Stein, ging ein paar Schritte Richtung Wald und legte den Stein auf den Boden. Dann sammelte er weitere Steine und begann, um den ersten Stein herum einen Kreis zu bilden. Mit seinem Messer schnitt er sich eine Haarsträhne ab und seinem Beutel entnahm er eine Prise Tabak. Er schloss die Augen, hob die Opfergaben zum Himmel und murmelte etwas von »Mutter Erde«, »Vater Sonne« und »Großmutter Mond«. Er kniete nieder und legte die Haarsträhne und den Tabak auf den Stein in der Mitte. Dann holte er die beiden Truthahnfedern, die er in den Boden gesteckt hatte, und stellte sich in die Mitte des Kreises. Mit geschlossenen Augen hielt er die Federn in die Höhe. Nachdem er sie auf den Stein gelegt hatte, begann er zu tanzen und zu singen:

»Ho yanga hi yanga hey yang yang

Ho yanga hi yanga hey yang yang

Wo yaa yaayaa yaayaa yaayaa

Yaa wo wowo wowo wowo

Wo yaa yaayaa yaayaa yaayaa.«

Nach der Zeremonie kniete er noch einmal nieder und steckte sich die schwarzen Federn ins Haar. Er trat aus dem Kreis heraus und wandte sich an seine drei Begleiter. »Jetzt hat Big Thunder wieder Flügel aus Licht«, sagte er und setzte sich ans Feuer.

»Slow Turtle, nicht Big Thunder«, korrigierte ihn Soulman.

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