Sie saßen dicht an dicht, gefangen in diesem winzigen Wartezimmer.
Eine Frau zog vor aller Augen eine riesige Brust hervor, presste den Kopf des Säuglings in ihrem Tragetuch daran. Auf dem kleinen Sofa ließ eine verschleierte Mutter ihr Töchterchen vom Smartphone Kinderlieder hören. Roter, roter Teppich, trällerte es aus dem Gerät. Kein einziges Spielzeug im ganzen Raum, kein Buch, nicht einmal ein kaputtes Feuerwehrauto oder ein armseliges Plüschtier, das hier war ein Kinderarzt, der anscheinend meinte, Kinder bräuchten nicht zu spielen, ein Idiot, ganz klar, warum war sie für einen Idioten durch die halbe Stadt gefahren, hatte sie das wirklich nötig, diesen zusätzlichen Stress?
Sie hätte den paar auf Google gefundenen Bewertungen über Alain Gérard, Kinderarzt in Lyon im 5. Bezirk, Glauben schenken sollen.
Hatte Myriam M. am 12. Dezember, vor knapp drei Monaten, nicht geschrieben, dieser Facharzt habe sich geweigert, ihre Tochter zu messen und zu wiegen — unter dem Vorwand, sie sei schließlich als Notfall gekommen, wegen einer simplen Mittelohrentzündung. Er hatte ihr sogar unterstellt, wie Myriam M. empört schrieb, ihre Tochter würde nur »Theater spielen«, und schließlich habe er sie noch als »verwöhntes Prinzesschen« betitelt. Aber dieser Kinderarzt verstehe sich immerhin darauf, einem sein Kartenlesegerät hinzuhalten, das ja, und Myriam M. schloss mit den Worten: »Sechzig Euro für gerade mal drei Minuten, so ein Halsabschneider!«
Wie die Datenschutzrichtlinien von Google das hatten durchgehen lassen, und wieso der Kinderarzt, ob Halsabschneider oder nicht, es hinnahm, dass dieser Kommentar für jeden lesbar war, der seinen Namen in die Suchmaschine eingab, war eine andere Geschichte, doch Myriams Meinung hatte ihre erste Intuition bestätigt, der sie ehrlich gesagt ohnehin nie folgte. Auf ihre Intuition hatte sie ihr ganzes Leben lang nie gehört, eher im Gegenteil, und jetzt sah man ja, wohin das führte. Dabei war es eine Freundin gewesen, die ihr diesen Doktor Gérard empfohlen hatte, ja, sie hatte ihr per SMS geschrieben, bei Alain Gérard sei ihr Sohn in den besten Händen, denn er »arbeite mit KV-Techniken«. Die Mutter des Kindes wusste nicht, was genau sich hinter diesem Kürzel verbarg: kurze oder künstliche oder vielleicht etwa kognitive Verhaltenstherapie? Jedenfalls hatte sie schnell einen Termin bei diesem Spezialisten gemacht, und erst als sie am Vorabend im Internet noch schnell die Adresse überprüfen wollte, war sie auf Myriams Kommentar gestoßen.
Zu spät, der Termin war gemacht: sechzehn Uhr, und jetzt war es halb sechs, und sie warteten seit fast zwei Stunden.
Die Frau mit der Brust war schon drangekommen, das kleine Mädchen und seine Mutter ebenfalls, im Wartezimmer saßen nur noch sie beide und ein etwa vierzigjähriger Mann, den sie bisher kaum beachtet hatte. Wartete er auf seine Frau oder auf sein Kind? Im Moment zupfte er jedenfalls nervös an seinem kurzen Bart herum. Endlich ließ sich der Spezialist wieder blicken, und sie wollte schon aufstehen, als er plötzlich einen anderen Namen sagte, einen ganz anderen als ihren, und der Mann mit dem Bart erhob sich, und seine spitzen Lederschuhe quietschten auf dem Linoleumboden des Wartezimmers, als er dem Kinderarzt folgte. Ihr Sohn schaute sie fragend an. »Und der Doktor?« Mit leiser Stimme beruhigte sie ihn: »Gleich sind wir dran.«
Sie mussten noch eine ganze Stunde warten, und die verbrachte sie hauptsächlich damit, sich zu fragen, was ein vierzigjähriger Typ wohl in der Praxis eines Kinderarztes zu suchen hatte, auch wenn der auf dieses mysteriöse KV spezialisiert war. Litt er an speziellen Symptomen, die nur ein Facharzt für Kleinkinder behandeln konnte? War er vielleicht in der oralen oder analen Phase steckengeblieben? Machte er noch ins Bett? Sie stand auf und öffnete das einzige Fenster im Raum. Sie nahm das Kind auf den Arm, und sie betrachteten zusammen das, was es vor dem Fenster zu sehen gab: einen gepflasterten Innenhof, auf den andere, genauso stumme Fenster der umliegenden Gebäude zeigten, und mitten auf dem Hof ein Baum, ein riesiger Baum, dessen Blätter das Kind zu faszinieren schienen, das Zittern der Blätter bei Einbruch der Nacht.
Irgendwann tauchte der Arzt wieder auf. Er trug ein halboffenes Leinenhemd und eine helle Stoffhose, war braungebrannt und hatte entspannte Gesichtszüge, wahrscheinlich das Resultat einer überspannten exotischen Entspannungsmethode, wie sie annahm. Doktor Gérard gab ihnen zu verstehen, ihm zu folgen. Mit seinen muskulösen Fingern klopfte er auf seine Uhr, als wolle er deutlich machen, dass sie beide, Mutter und Kind, zu spät dran waren. Als würden sie und ihr Kind nicht schon seit Stunden auf diesen Moment warten, vor dem sie sich gleichzeitig auch fürchteten.
Er führte sie in ein Zimmer, das kein Fenster und auch keine Tür hatte, außer der, durch die sie gerade eingetreten waren und die sich hinter ihren Schritten wieder aufzulösen schien.
»Sie waren noch nie bei mir! Wieso jetzt?«
Sie hätte ihn gern gefragt, wo der Mann mit den spitzen Schuhen abgeblieben war, durch was für eine verborgene Tür oder über was für eine verborgene Treppe er ihn habe verschwinden lassen, genau wie die anderen Personen, mit denen sie im Wartezimmer gesessen hatte. Das Kind fragte sich das offenbar auch, denn es tapste zu einem Schrank und versuchte, durch die Metalltür zu spähen.
»Finger weg!«, schimpfte der Kinderarzt.
»Ich … also das heißt … eine Freundin von mir hat mir Ihren Namen gegeben … sie hat Sie mir empfohlen …«
Sie buchstabierte den Namen der Freundin, R.I.C.H.E.U.X, Hélène Richeux. Dieser Namen sollte eine Art Opfergabe sein, ein Zeichen für Gemeinsamkeit, sie war nicht seine Patientin, gut, aber sie war nicht rein zufällig hier, sie hatte seinen Namen nicht aus den Gelben Seiten, sie war nicht wie diese Myriam M., die einen bedeutenden Kinderarzt wie ihn wegen einer banalen Mittelohrentzündung belästigte, sie wusste, dass er ein Fachmann für KV war … Der Name der Freundin schien Dr. Alain Gérard nichts zu sagen, er wischte die Information mit einer Handbewegung beiseite, und weiter?
Das Kind kletterte auf ihren Schoß, als wenn es sich der Anwesenheit seiner Mutter in diesem Raum vergewissern wollte, als wenn es sich ebenfalls fragen würde, ob diese Szene hier wirklich real war.
Der Kleine leide unter Juckreiz, sagte sie, als wollte sie sich bei Alain Gérard dafür entschuldigen, er kratze sich, also manchmal, er habe Hautflecken, an den Beinen und Knien, Pusteln, die sich dann verkrusteten, beeilte sie sich hinzuzufügen, und an den Ellbogen ebenfalls …
»Und weiter?«
Sie war so verdutzt, dass sie die hingeworfene Frage des Kinderarztes quasi wiederholte: »Was weiter?«
Alain Gérard erstarrte. »Wer hat Ihnen gesagt, ich könne Wunder bewirken? Ich bin doch kein Zauberer!«
Der Kleine lachte. Er kannte dieses Wort, ein Zauberer, ein Clown, eine Zirkusnummer, das war es also, worauf sie seit Stunden gewartet hatten, was für eine unverhoffte Wendung!
»Ich dachte mir, dieser Juckreiz hätte vielleicht einen tieferen Grund … Und dann auch der Schlaf, er wacht immer noch jede Nacht auf …«
Alain Gérard kritzelte ein paar Sätze in das Kinder-Untersuchungsheft.
»Sechzig Euro.«
Und aus seinem Zauberhut zog er nicht etwa ein Kaninchen, nein, auch keine Taube oder wenigstens einen blütenweißen Schal, sondern ein dunkles Kartenlesegerät.
Sie holte tief Luft und dachte, um sich Mut zu machen, an Myriam M., die das auch schon erlebt hatte. »Kann ich Ihnen einen Scheck ausstellen?« Alain Gérard knallte das Gerät auf seinen Schreibtisch zurück, während sie ihr Scheckheft aus der Tasche kramte. Dieses Detail, nein, es war nicht nur ein Detail, es erinnerte sie an eine Anekdote, die über einen bekannten Psychoanalytiker erzählt wurde. Der wurde sehr ungehalten, als ein Patient nicht bar bezahlen wollte. Er riss seine Schreibtischschublade auf und warf ein großes Bündel Geldscheine in die Luft, die durch den ganzen Raum flogen. Dabei schrie er etwas wie: »Ich will Bargeld, nur Bares ist Wahres!«
Aber ganz genau konnte sie sich nicht an diese Anekdote erinnern, sie konnte sich Geschichten, egal ob witzig oder nicht, überhaupt schlecht merken.
Kurz darauf standen sie wieder auf der Straße. Sie schnallte das Kind in seinen Buggy, und es schlief sehr schnell ein. Der Buggy sauste geradeaus, immer geradeaus, die steilen Straßen von Croix-Rousse hinunter. Das braungebrannte Gesicht von Alain Gérard verfolgte sie, es schien sich über sie beide lustig zu machen. Wenig später schob sich das Gesicht des Typen mit den spitzen Schuhen vor das des Kinderarztes. Der Buggy sauste den Hügel hinunter, während das Gelächter der beiden Männer durch den Lyoner Abend vibrierte.