Sie steht leise auf. Nur eine einzige brüske Bewegung, und das Kind würde aufwachen und erneut verlangen, dass sie bei ihm bleibt. »Zu mir, zu mir«, ruft es jedes Mal, wenn es spürt, dass sie sich entfernt. An diesem Abend hat sie ihre Hand lange auf dem kleinen warmen Schlafanzug liegen lassen und darauf gewartet, dass sich der kleine Körper entspannt und einschlummert. Sie lässt die Zimmertür einen Spalt breit offen, das Nachtlicht in der Steckdose brennt.
Als sich ihre Augen wieder an das Licht im Flur gewöhnt haben, hat sie das Gefühl, in einer anderen Wohnung zu sein.
In einer Wohnung ohne Kind, an einem Ort, nur für sie.
Aber es ist schon fast zweiundzwanzig Uhr, die Nacht wird kurz sein, gegen fünf, halb sechs wird der Kleine aufwachen und wieder »zu mir, zu mir« rufen.
Sie lässt die Rollläden herunter.
Auf der Straße die Busse, die Taxis, die Cafés …
Die Leute gehen aus, sie treffen sich, sind auf dem Weg ins Kino. Ein Pärchen überquert engumschlungen die Straße, was, wenn es der Vater des Kindes wäre?
Sie stellt den Wasserkessel auf, holt eine saubere Tasse aus dem Geschirrspüler. Sie hat eine ganze Stunde vor sich, vielleicht anderthalb. Da fällt ihr ein, dass sie ja noch Wäsche aufhängen muss. Und die Spülmaschine ausräumen. Wichtige E-Mails warten in ihrem Postfach.
Sie will France Inter hören, aber im CD-Fach steckt noch die CD mit den Kinderliedern, und die Melodie der »Schildkröten-Familie, die man nie, nie gesehen hat« schallt durch die ganze Wohnung, die Lautstärke war bis zum Anschlag aufgedreht. Sie stürzt sich auf das Gerät und schaltet es mit einer heftigen Bewegung aus. Lässt sich auf das Sofa fallen, das voller Spielsachen ist. Im Wohnzimmer sieht es aus wie in einer Kinderkrippe. Sie hat ihre Tasse mit dem heißen koffeinfreien Kaffee auf den Spielteppich gestellt. Ein Tabu, wenn das Kind anwesend ist! Sie erhebt sich und stellt die Tasse auf den Kaminsims. Da sie nun schon mal steht, räumt sie auch gleich noch das rote Bobbycar weg, mit dem sich ihr Sohn in den letzten Tagen praktisch ausschließlich fortbewegt hat. Sie schiebt es zwischen Wand und Sofa, ab in die Garage, murmelt sie vor sich hin. Das Gleiche macht sie mit dem kleinen Dreirad, dann mit dem Lauflernwagen. Stolpert über ein Feuerwehrauto — oder war es ein Legostein?
Sie hebt die bunten Klötzchen auf und legt sie in eine Stoffkiste. Sie sortiert, was auf dem Teppich liegt: auf die eine Seite die Bauernhof-Tiere, auf die andere die Spielzeugautos, die überall verstreuten Memory-Karten, die Instrumente aus dem Arztkoffer, die vermischt sind mit den Werkzeugen des perfekten kleinen Handwerkers: winzige Schraubenzieher und Hämmerchen, Küchengeräte, Besteckteile, zusammengewürfelte Teller, eine Plastiktomate kommt zum anderen Gemüse im Körbchen … auch ein paar Früchte stopft sie mit dazu, Ananas, Birne, ein blasses Ei, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Sie streicht die Decke auf dem Sofa gerade, platziert die Kissen darauf, richtet die Tischlampe wieder auf, deren Lampenschirm eine Delle abbekommen hat, bestimmt ein Ball, ach ja, die Bälle, sie sammelt die Bälle ein, versteckt sie oben im Flurschrank, damit das Kind nicht schon beim Aufwachen daran denkt und schon um fünf Uhr morgens auf den Köpfen der Nachbarn unter ihnen herumdribbelt. Liebevoll legt oder stellt sie die übrigen Spielsachen wieder an ihren Platz, räumt alles auf, denn am nächsten Morgen soll das Wohnzimmer wieder einladend aussehen, der Couchtisch schön sauber sein, damit das Kind Lust bekommt, ein Zeichenblatt darauf zu legen und zu malen, oder damit es sein Puppengeschirr an Ort und Stelle wiederfindet, die Messer bei den Messern, die Töpfe bei den Bratpfannen. Bei Tagesanbruch wird sich der Kleine auf seine Spielsachen stürzen, und ein neuer Tag beginnt. Da glaubt sie, im Kinderzimmer ein Wimmern zu hören, und verharrt reglos auf der Krabbel- und Lerndecke. Bitte nicht aufwachen! Nicht jetzt schon!
Der koffeinfreie Kaffee ist kalt, sie stellt ihn ins Spülbecken. Streckt sich. Der untere Rücken schmerzt vom dauernden Herumtragen des Kleinen. Maman, hoch, hoch. Sie ertappt sich oft in dieser Position, die Hände auf die Hüften gestützt, das Becken nach vorn geschoben, wie früher, als sie schwanger war. Sie ertappt sich manchmal dabei, dass sie von sich in der dritten Person spricht: »Maman macht jetzt dies, Maman muss noch jenes machen.«
Im Badezimmer ist die Wanne voller Spielsachen, Entchen, Angelruten, Gießkanne, sie bückt sich, sammelt eins nach dem anderen ein, legt die Sachen zum Trocknen auf den Wannenrand und kümmert sich dann um den Badvorleger und den Fußboden, beide pitschnass. Die feuchten Handtücher und die getragenen Sachen vom Tag wirft sie, ohne genauer nachzusehen, in den Wäschekorb. Sie putzt sich rasch die Zähne, nicht mal eine Minute lang. Die Wäsche. Beinahe hätte sie vergessen, dass sie noch Wäsche aufhängen muss. Sie öffnet die Trommel der Waschmaschine, zieht die feuchten Sachen heraus und legt sie in eine Plastikwanne. Die trägt sie in ihr Schlafzimmer. Der Wäscheständer hängt schon durch von der Ladung der letzten Maschine. Aber die Wäsche scheint halbwegs trocken zu sein, sie wirft alles wild durcheinander auf ihr Bett. Dann hängt sie die nassen T-Shirts, Babysöckchen, Lätzchen und Schlafanzüge auf.
Auf der Toilette schiebt sie mit dem Fuß den kleinen Schemel zur Seite, den das Kind braucht, um auf den Toilettensitz steigen zu können. Urinflecken auf der Klobrille, der Kleine ist erst seit ein paar Wochen sauber. Sauber, das sagt sich so leicht. Sie holt den Schwamm und eine Flasche Eau de Javel, besprüht damit den Sitz, dann den Innenrand der Klobrille. Wischt mit dem Schwamm nach und spült ihn dann im Badezimmer unter fließendem Wasser aus. Dieses Hin und Her wiederholt sie drei oder vier Mal. Mit dem Schwamm wischen, Schwamm ausspülen, mit dem Schwamm wischen. Dann fängt sie an, den Fußboden um die Toilette herum zu putzen, der ist auch verspritzt. Sie drückt den Schwamm aus und räumt ihn zusammen mit dem Javel in den Badezimmerschrank. Mit einem Seufzer der Erleichterung sinkt sie nun auf die Toilette. Doch sie kann nicht pinkeln. Summt ein Liedchen, das sie normalerweise ihrem Sohn vorsingt, um ihn zum Pinkeln zu bewegen: Pipi tropf tropf tropf … Regen tropf tropf tropf …
Einschlafen, hier und jetzt einschlafen, im grellen Licht der Toilette und mit dem stechenden Chlorgeruch von Javel in der Nase.
In ihrem Schlafzimmer tastet sie nach dem Schalter der Nachttischlampe. Schiebt den Wäschehaufen und die auf ihrer Bettdecke herumliegenden Stofftiere zur Seite, das Kind lässt sie gern dort liegen, nachdem es auf ihrer Matratze »Trampolinhüpfen« gespielt hat, während sie hektisch von links nach rechts gelaufen ist, um einen möglichen Sturz zu verhindern, und dabei immer wieder an die Bettpfosten gestoßen ist. Sie sollte dem Bengel einen Helm kaufen, also wirklich, und ihm den aufsetzen, sobald er die Wohnung betritt. Und für sich selbst Schienbeinschützer, wie Boxer sie haben.
Jetzt sollte sie noch mal ins Kinderzimmer schauen, ein letzter Kontrollgang. Um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist, dass er die Decke nicht weggestrampelt hat, dass es im Zimmer nicht zu warm und nicht zu kalt ist …
Aber da liegt sie schon mit ihrem schlechten Gewissen im Bett, auf der Brust ein Roman, von dem sie nicht mal mehr weiß, wie er anfing. Ein Roman, hundert Mal angefangen und nie zu Ende gelesen. Ein Roman, von dem sie sogar den Titel vergessen hat.
Schon kommt ein Wimmern aus dem Nebenzimmer. Maman, Maman! Nicht reagieren, sagt sie sich. Bis hundertachtzig zählen. Er muss lernen, von allein wieder einzuschlafen. Drei lange Minuten. Er muss es begreifen, freiwillig oder mit Zwang. Die Rufe werden immer herrischer. Mit fast zwei Jahren schläft man nachts doch durch, verflixt noch mal. Das Kind schreit, wütend, weil sie nicht herbeigeeilt kommt. Die Nachbarn, es wird die Nachbarn aufwecken, das ganze Haus. Morgen wird sie vorwurfsvolle Blicke hinnehmen müssen. Das ist die ledige Mutter aus dem sechsten Stock. Sie schafft es nicht, ihr Balg zum Schlafen zu bringen. Das kann ja heiter werden. Sie läuft in das kleine Zimmer, das Kind steht in seinem Gitterbett, mit hochrotem Kopf. Maman, hoch, hoch!
Es einfach nur beruhigen, streicheln, nicht hochnehmen. Die Botschaft muss klar sein: Nachts wird geschlafen. Kein Kuscheln und kein Fläschchen mehr. Kein Hinhalten.
»Ich bin da.«
»Zu mir, zu mir!«
»Psst …«