Warum liegt sie hier, auf dieser Decke auf dem nackten Boden? Sie zieht ihre eingeschlafene Hand unter dem warmen Körper des Kindes weg.
Der Kleine hustet mehrmals. Ein kühler Luftzug weht in sein Zimmer. Das Flurlicht ist an geblieben, das Häschen-Nachtlicht hat nicht aufgehört zu flackern.
Sie überprüft den Heizkörper: eiskalt. Morgen muss sie die Hausverwaltung anrufen. Stärke zeigen. Die Heizung ist in den Nebenkosten enthalten. Es gibt keinen Grund, schon wieder den ganzen Winter zu frieren. Das Beste wäre wohl, einen Klempner zu rufen, aber an wen soll sie sich wenden, und wie viel würde das kosten? Sie geht ans Fenster. Der Metallrahmen ist undicht. Ein Leintuch über das Fenster hängen. Es fällt ein paar Mal herunter, aber dann schafft sie es, den Stoff einigermaßen zu befestigen.
Sie muss so schnell wie möglich aus dieser teuren und schlecht isolierten Wohnung ausziehen. Dieser Wohnung, in die sie mit dem Vater des Kindes eingezogen ist, für die sie sich die Miete geteilt hatten. Allein geht es nicht mehr. Aber wer würde an sie etwas vermieten? Sie hat kein festes Einkommen mehr und hangelt sich als Freiberuflerin von einem Auftrag zum anderen. Sie muss sich ein neues Netzwerk aufbauen, in dieser neuen Stadt. So schnell wie möglich aktiv werden. Aber zuerst einen Tagesplatz für das Kind finden. Herauskommen aus diesem Zustand, in dem Tag und Nacht verschwimmen.
Sie öffnet die Tür des Kleiderschranks im Vorzimmer. Nimmt eine vom Vater zurückgelassene XXL-Weste heraus. Das Kind schläft in seinem Zimmer, mit offenem Mund, die Fäuste locker, den Kopf nach hinten gelegt. Sie deckt seinen Bauch und seine Beinchen mit der Weste zu. Sie könnte sie ihm auch über das Gesicht legen. Das Kind würde nichts spüren, es würde langsam ersticken. Sie streicht über seine glatte Wange, die frische junge Haut. Ich liebe dich, mein Schatz, schlaf gut.
Das Kind hustet erneut, versucht, sich aufzusetzen.
Sie nimmt ein kleines Kissen und schiebt es unter sein Kopfkissen, damit sein Köpfchen etwas höher liegt. So, jetzt bekommst du besser Luft.
Der Computer ist noch im Stand-by-Modus. Unten rechts auf der Bildschirmleiste liest sie, dass es drei Uhr dreißig ist. In die Suchmaschine tippt sie ein: ALLEINERZIEHENDE MUTTER + PROBLEME.
Foren, dutzende von Foren.
Hunderte von Ratschlägen für »Single-Mamas«.
Single, das klingt weniger düster als allein.
Single, das peppt das Image der unverheirateten Mutter auf, der verlassenen, im Stich gelassenen und abservierten Frau, es rückt etwas ab vom beklagenswerten Klischee der ledigen Mutter, der Teenie-Mutter, die ihren Buggy einsam und traurig über einen kaputten Gehweg in einem desolaten Landstrich Nordfrankreichs schiebt. Single — das klingt wie aus der Werbekampagne eines Supermarkts, der mit Annoncen und Sonderangeboten auf einen neuen Artikel aufmerksam machen will.
Die Single-Mama wird als Kämpferin präsentiert, als die Superfrau der Achtzigerjahre, die sich ein neues Privileg erkämpft hat: Neben ihrer Berufstätigkeit und dem Zwang, ewig jung bleiben zu müssen, zieht sie ihre Kinder allein groß. Sie ist frei, jetzt endlich wirklich völlig frei. Was gibt es da zu jammern? Die Single-Mama ist manchmal sogar so weit gegangen, dass sie ihr Baby ganz allein gemacht hat, es war ihre Entscheidung, ihr Problem, jetzt soll sie auch die Verantwortung übernehmen und sich auf einiges gefasst machen.
In den Foren wetteifern die Frauen darum, wer am originellsten ist, sie tauschen Ideen und Ratschläge aus. Man muss doch zeigen, dass man als Frau sehr wohl aktiv im Leben stehen und gleichzeitig alleinerziehende Mutter sein kann. Dass man es hinkriegt, trotz aller Schwierigkeiten, trotz aller Mühe. Man hält durch. »Klar ist es hart, aber wenn ich meine Kleinen lächeln sehe, ist alles andere vergessen«, schreibt Babette51. »Es gibt Momente, die sind wirklich nicht leicht, aber was würden wir ohne sie machen?«, setzt Magic_mum noch eins drauf.
Im Internet formiert sich eine große Kette weiblicher Solidarität, und die Mütter Courage überbieten sich gegenseitig. Man hat sie gewollt, die kleinen Schätzchen, man hat sie herbeigesehnt, sie haben schließlich nicht darum gebeten, geboren zu werden. Jetzt heißt es Kopf hoch, Verantwortung übernehmen und seiner Rolle gerecht werden.
Sie antwortet Magic_mum: »Was wir ohne sie machen würden? Na, dasselbe wie vorher, oder? Arbeiten, halbwegs passable Rentenansprüche erwerben, sieben Stunden am Stück schlafen, wieder ein gesellschaftliches Leben führen, Sport treiben, ins Kino gehen, lesen und natürlich träumen … Ist Träumen nicht die schönste Sache der Welt?«
Die Strafe folgt auf dem Fuße. Magic_mum rastet aus. Offensichtlich hat man es mit einem Troll zu tun, mit einer Person, die sich gehenlässt, die nur an sich selbst denkt, und vor allem mit einer unglaublich egoistischen Mutter, denn wie kann man lieber vor sich hin träumen, statt sich seinem eigen Fleisch und Blut zu widmen? Hat diese Person jeden Realitätssinn verloren? Und ist sie sich überhaupt bewusst, was für ein Glück es ist, ein gesundes Kind zu haben? So viele Frauen sind nicht in der Lage, schwanger zu werden, und schaffen es nicht mal, ein Kind zu adoptieren!
Sie öffnet ihre E-Mails. Die Spam-Mails von Vertbaudet und King Jouet löscht sie sofort. Ah, eine Mail von einem Kunden. Ob sie am Layout des Projekts vielleicht noch ein paar Änderungen vornehmen kann? Man sollte auch die grafische Gestaltung noch mal überprüfen und das Seitenlayout. Außerdem braucht er noch Alternativvorschläge für den hinteren Umschlag. Die paar Nachbearbeitungen, von denen der Kunde spricht, werden sie mehrere Stunden Arbeit kosten. Aber es kommt nicht infrage, ein höheres Honorar anzusprechen, wie sie das noch vor ein paar Jahren getan hätte. Wenn sie diesen Vertrag verliert, hat sie überhaupt nichts mehr. Und keine Zeit für Akquise. Grafiker gibt es in rauen Mengen. Diejenigen, die sich aufs Internet spezialisiert haben, kommen noch etwas besser weg als Leute wie sie, die aus dem Verlagswesen kommen.
Sie liest zum x-ten Mal die Zusammenfassung des Buches, das sie formatieren soll: Es geht um Waffen- und Drogenschmuggel und um die Mafia, die Handlung spielt in den neunziger Jahren in Albanien.
Sie streckt die Beine unter dem Küchentisch aus, der zugleich auch ihr Schreibtisch ist. Steht auf und schaltet den Wasserkessel ein.
Vorbei die Zeiten, in denen man ihr fünfzehnhundert Euro pro Titel bezahlt hat. Jetzt bekommt sie pauschal siebenhundert, und je mehr Zeit sie für ein Projekt braucht, desto weniger rentabel ist es. Wenn sie ihre Unkosten abzieht, bleiben ihr noch dreihundert, dreihundertfünfzig Euro. Ohne Anspruch auf Urlaub oder Arbeitslosengeld.
Selbstständigkeit. Dafür haben sich vor einigen Jahren viele entschieden. Für sie wäre es eigentlich nie infrage gekommen. Sie hat zu viel Berufserfahrung, ist zu teuer, und die paar Agenturen, die überhaupt noch Leute fest einstellen, ziehen weniger qualifizierte Mitarbeiter vor, denn die sind definitiv billiger.
Und doch hatte auch sie mal ihre kurze, aber große Zeit. Vor fünfzehn Jahren, nach Abschluss ihres Studiums an der Grande École für angewandte Kunst, kurz: Arts Déco genannt. Da hatte sie einen eigenen Stil, ihre unverwechselbare Handschrift. Damals arbeitete sie für große Agenturen, zeichnete für komplette Werbekampagnen verantwortlich.
Für ein paar Stunden herrscht Ruhe in der Wohnung, sie ist allein mit ihren Farben, ihren Pinseln, sie erstellt das Logo mithilfe des »Illustrator«-Zeichenprogramms, bearbeitet das Layout in InDesign.
Bis zum nächsten Tag warten, erst dann das Projekt an den Kunden schicken. Niemals mitten in der Nacht, das wirkt unprofessionell. Ein Teil von ihr ist erleichtert, dass ihre Arbeit getan ist, der andere jedoch wird nervös und versucht, nicht an die Aufträge zu denken, die ihr entgehen, an die Rückstände, die sich auf allen Ebenen ansammeln, an die Müdigkeit, gegen die sie ankämpfen muss, wenn der Kleine in einer oder zwei Stunden wieder aufwachen wird.
Und selbst wenn er schläft, glaubt sie ihn dauernd zu hören, ein Wimmern, ein Schreien, ein Appell.