Sie hatte sich im Rathaus an die Abteilung »Kindertagesstätten« gewandt, aber es gab keinen freien Krippenplatz. Für gerade mal knapp zehn Prozent der Nachfrage gebe es Plätze in dieser Stadt, und das bei einer exponentiell ansteigenden Geburtenrate, man könnte fast meinen, sämtliche Pariserinnen kämen zum Gebären hierher, in die Sonne, war der geistreiche Kommentar der Sachbearbeiterin gewesen. Andere Frauen seien da vorausschauender, sie hätten sich schon Monate vor der Geburt des Kindes auf die Warteliste setzen lassen, ja sogar gleich nach der Zeugung!
Sie hingegen, sie käme von wer weiß woher, und vor allem könne sie ja nicht mal ein Arbeitsverhältnis vorweisen.
Aber sie ließ nicht locker, schließlich hatte sie ihren ersten Antrag schon vor über einem Jahr gestellt. Sie sei alleinstehend, habe hier keine Familie und keine Betreuungsmöglichkeit. Wie könne sie unter diesen Umständen überhaupt wieder arbeiten?
Oh, wenn man sich zu helfen weiß, komme ein Kind gar nicht so teuer. Man müsse nur die Mahlzeiten selbst kochen und natürlich keine Fertiggerichte kaufen, die ohnehin zu fett und zu teuer seien. Und schließlich habe sie jetzt doch alle Zeit der Welt, um auf den Markt zu gehen und frische Lebensmittel zu kaufen, sie könne sich auch auf Flohmärkten umschauen oder in den Emmaus-Läden einkaufen, in denen es alle möglichen gebrauchten Sachen gab. Wenn man ein bisschen herumstöbere, finde man Sachen für einen Apfel und ein Ei, kleine Anoraks, niedliche Hosen und sogar Stiefelchen, die Sachbearbeiterin hatte letztes Wochenende ein Paar gefütterte Stiefel für ihre Jüngste ergattert, für knapp fünf Euro.
Die Mutter des Kindes hatte zu allem genickt, ja klar, natürlich, frische Produkte vom Markt seien sehr wichtig, das sehe sie ja ein, und sie habe auch grundsätzlich nichts gegen günstige Schnäppchen vom Flohmarkt oder aus einem Garagenverkauf, aber sie habe doch immerhin ein Studium und lange Berufserfahrung vorzuweisen, sie könne nicht länger in dieser Situation beruflicher Untätigkeit verharren …
»Aber Sie haben doch gerade gesagt, Sie hätten gar keine feste Stelle«, rief ihr die Sachbearbeiterin in Erinnerung.
Sie arbeite freiberuflich. Und sie müsse dringend frühere Kunden zurückgewinnen, neue akquirieren … Und diesen Rhythmus könne sie nicht länger beibehalten, sie brauche diesen Krippenplatz dringend, auch wenn es nur ein oder zwei Tage pro Woche wären, würde die Sachbearbeiterin denn bitte begreifen, dass sie kein soziales Netz habe? Das sagte sie mehrmals. Zuerst sehr klar und schließlich mit kraftloser Stimme: »Kein soziales Netz.«
Dann fasste sie sich ein Herz und fragte, ob im Rathaus nicht vielleicht eine Grafikerin gebraucht werde? Sie habe Referenzen, die früheren Auftraggeber könnten ihre Qualifikation bestätigen.
Sie solle sich wieder beruhigen! Es gebe keinen Grund, sich aufzuregen. Viele Frauen seien schließlich in der gleichen Situation wie sie, die Sachbearbeiterin sehe den ganzen lieben langen Tag nichts als solche Fälle, ledige Mütter, alle klagend, genervt und nervig. Ihre Anfrage sei nicht ungewöhnlich, nicht vordringlich, sie solle mit ihrem Kleinen nach Hause zurückgehen und die Zeit mit ihm genießen, sie gehe ja so schnell vorbei!
Man drückte ihr eine Broschüre über Kindergeld in die Hand, versicherte ihr, sie habe Rechte, es gäbe Beihilfen, vielleicht eine Mindestsumme zur Wiedereingliederung, die könne man ja mitnehmen. Und warum dieser horrende Mietpreis? Sechzig Quadratmeter? Aus dieser Wohnung müsse sie ganz schnell ausziehen, sich etwas Passenderes suchen, eine Zweizimmerwohnung, sie könne sich ja ein Schlafsofa zulegen, zu zweit brauche man keine zwei Schlafzimmer. Sie könne auch einen Antrag auf eine Sozialwohnung stellen, sie müsse sich auf ihr neues Leben als Mutter einstellen. Man gab ihr Listen, Faltblätter mit Namen von Verbänden, Adressen von Stellen, wo sie Eltern treffen könne, die in der gleichen Situation waren wie sie.
Bei jedem neuen Behördengang musste man sich neu rechtfertigen, seine Situation genauestens schildern. Frauen hinter einem Schreibtisch oder am Telefon stellten Fragen, drangen in ihre Intimsphäre ein. Sie sagte ihnen, was sie wissen wollten, antwortete, versuchte, das Chaos in Worte zu fassen. Wenn sie dann endlich das ganze Problem eingehend beschrieben hatte, ihr ganzes Leben, erhielt sie weitere Telefonnummern, weitere Adressen, auf der anderen Seite der Stadt, wo sie hinfahren solle, mit dem Bus, mit der Straßenbahn, natürlich mit dem Kleinen, und dort würde alles wieder von vorne anfangen, mit denselben Fragen, denselben Geschichten.
Das Kind war bei diesen Szenen immer dabei, es spürte ihre Verzagtheit, ihre zunehmende Anspannung, wenn ihr bei bestimmten Sätzen fast die Tränen kamen, aufmerksam verfolgte es die rückhaltlose Offenlegung. Sie schämte sich, schämte sich für das Kind, schämte sich für sie beide, für dieses Familienalbum, in das sie notgedrungen Einblick geben musste und aus dem anscheinend alle eine Kostprobe haben wollten, ein Polaroidfoto, um sich daran zu ergötzen.