Die Fahrt nach Paris musste sein. Die Nachbarin anzusprechen kam natürlich nicht infrage. Als sie ihr das letzte Mal begegnet war, hatte sie ihren Gruß kaum erwidert. Sie entschied sich dafür, die Concierge zu fragen. Ob Paloma wohl einen Tag lang auf ihren Sohn aufpassen könne? Paloma sprach nur wenig Französisch, aber sie drückte den Kleinen immer an sich, wenn sie sich im Eingangsbereich trafen, A mamãe! A mamãe!, rief sie dabei lachend. Wenn sie dann kurz in ihrer Pförtnerloge verschwand, wusste der Kleine, dass er gleich eine Nascherei oder ein Stück Schokolade bekommen würde, die Concierge fuhr oft in die Schweiz, wo einige ihrer Verwandten lebten, und kam dann immer mit Taschen voller Emmentaler und Süßigkeiten zurück. Der Kleine klatschte in die Hände, er war süchtig nach Schweizer Schokolade geworden, stopfte sich den Mund voll, verschmierte sich Hände und Kinn. Ganz egal, dieses Stück Schokolade war ein Beweis für Palomas Zuneigung, ein Zeichen der Verbundenheit, die zwischen ihnen und der Concierge entstanden war.
Sie wiederholte für sich den Satz, den sie sich auf Portugiesisch zusammengesucht hatte. Poderia, uma manhã, guardar o meu filho, Paloma?
Im Flur vernahm sie ein leises, dumpfes Geräusch, wie sie es öfter hörte, wenn Paloma die Türgriffe polierte oder den Fußboden putzte, also riss sie schnell die Wohnungstür auf. Vor ihr stand ein Mann im dunklen Anzug.
Zum Reagieren hatte sie keine Zeit, schon stand der Gerichtsvollzieher in der Wohnung und musterte das Wohnzimmer mit dem ganzen Spielzeug.
Der Kleine saß schon in der Badewanne, das war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. Sie wusste, dass sie mit ein paar Rechnungen im Rückstand war, das würde sie schnellstmöglich regeln, ob er nicht vielleicht später noch mal kommen könne, zum Beispiel wenn sie richtig angezogen war, dann könne sie ihn anders empfangen als im Nachthemd …
Der Gerichtsvollzieher stellte seinen Aktenkoffer auf den Küchentisch, neben die Frühstücksreste und das mit Milch verklebte Fläschchen. Er zog ein Bündel Papiere heraus und zeigte ihr, wo sie unterschreiben sollte.
Das Kind im Badezimmer rief nach ihr, sie unterschrieb und bat den Gerichtsvollzieher zu gehen. Er antwortete nicht, hatte er sie überhaupt angesehen, seit er hereingekommen war? Es hätte keinen Unterschied gemacht, wenn sie nackt vor ihm gestanden wäre. Und die Rufe aus dem Badezimmer schienen auch nicht bis zu ihm vorzudringen.
Rückwärts gehend verließ sie das Zimmer, damit der Gerichtsvollzieher im Gegenlicht nicht unter ihrem Nachthemd ihre Beine und ihren Po sehen konnte. Sie legte ein Handtuch über die Schultern des Kindes und hob es aus der Badewanne.
»Wer ist das, wer ist das?«, fragte das Kind.
»Egal, das ist ein Monsieur, der gleich wieder gehen wird.«
Sie tupfte mit dem Handtuch die pitschnassen Haare ihres Sohnes ab.
»Aua, du tust mir weh«, beschwerte er sich.
Als sie aus dem Badezimmer kamen, stand der Gerichtsvollzieher bereits im Kinderzimmer und machte sich Notizen in ein Heft. Sie lief hinter ihm her, als er in ihr Schlafzimmer eindrang, sich über Computer und Scanner beugte, um sich die Marke und den Zustand zu notieren.
»Das ist mein Arbeitsgerät«, wiederholte sie, »mein Arbeitsgerät, ich arbeite freiberuflich.«
»Das behaupten alle«, meinte der Gerichtsvollzieher lakonisch.
Endlich hatte er gesprochen, der Gerichtsvollzieher war also doch ein menschliches Wesen.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie, um ihn für sich einzunehmen.
Er antwortete nicht. Sein Blick drang durch das Kind und sie hindurch und schweifte zum Fenster hinaus, um schließlich am gegenüberliegenden Gebäude hängenzubleiben.
Dann drehte sich der Gerichtsvollzieher mit einem Ruck um, schnappte sich Aktenkoffer und Papiere und verschwand; die Tür ließ er weit offen stehen.
Sie liefen hinter ihm her und sahen ihm nach, als er die Treppen hinuntereilte, hatte er nicht bemerkt, dass es einen Aufzug gab?