Sie denkt seit Stunden daran. Sie denkt daran, wenn sie das Kind beobachtet, wie es Joghurt auf dem Tisch verschmiert. Sie denkt daran, wenn sie sieht, wie es seine Spielzeugautos gegen die Tür wirft. Wenn sie die Spielsachen zusammenklaubt, den Geschirrspüler einräumt, nach dem Baden den nassen Fußboden aufwischt — sie denkt die ganze Zeit daran.
An diesem Abend wird sie wieder ausgehen. Diesmal wird sie sich zwei Stunden genehmigen. Zwei Stunden, gerade lange genug, um zum Fluss zu gehen. Sie wird an Silhouetten vorbeigehen, an Gesichtern, man wird sie für eine freie Frau halten. Wer weiß, vielleicht wird sie sogar ein Mann ansprechen. Ein Mann, der sie für eine junge Frau hält. So sehr hat sie sich schließlich nicht verändert. Sie betrachtet sich in dem Spiegel im Aufzug, hat sich ihr Gesicht verändert? Ein Unbekannter wird in der Dunkelheit nichts merken und sie ein paar Schritte begleiten. Sie werden einige Worte wechseln, das wird bestimmt Spaß machen. Für einige Augenblicke kann sie etwas anderes sein als eine Mutter. Schlampe, Nutte, Rabenmutter, die Sätze der Frauen im Internetforum schießen ihr durch den Kopf. Sie will doch nur bis zum Fluss spazieren, sie will nur sehen, welche Farbe der Fluss nachts hat. Genießen Sie diese Jahre, sie gehen so schnell vorbei. Sie ist wegen des Flusses hierhergezogen. Bisher hatte sie sich etwas vorgemacht. Sie hatte geglaubt, der Vater des Kindes sei der Grund gewesen. Unsinn! Sie erinnert sich, dass der Syrienkrieg gerade angefangen hatte, als sie hierherkam. Wegen des Wassers hatte sie sich in dieser Stadt niedergelassen. Das Wasser, das von Nord nach Süd fließt. Le Rhône, das männliche, la Saône, das weibliche Element. Die beiden Flüsse vereinigen sich, la Saône ergießt sich in le Rhône. Oder umgekehrt. Die Brücken, die sie Hand in Hand überquert hatten, sie und der Vater des Kindes. Morgens frühstückten sie in den Cafés im Quartier Saint-Jean — Saft, Kaffee, Brioches aux pralines croquantes. Nachts versuchten sie, sich zu lieben.
Eines Morgens, nachdem sie Seite an Seite geschlafen hatten, war sie allein losmarschiert, am Ufer der Saône entlang. Das Wetter war schön gewesen, und sie war wie dieser Fluss, tief, schroffes Steilufer, bereit, in den erstbesten anderen Fluss zu münden. An diesem Morgen war sie glücklich gewesen. An ihn zu denken, an sie beide, an die Zukunft, die einladend vor ihr lag, hatte sie mit großer Freude erfüllt.
Sie hatte geglaubt, dass die Freude ein gutes Omen war, sie vermittelte ihr eine innere Gewissheit.
Ganz sachte schiebt sie den Schlüssel ins Schloss.
Ganz leise, mein Baby in seinem sauberen Bettchen. Ganz leise.