Das Kind schnarcht leise, als sie die Wohnungstür hinter sich zuzieht. Es ist in der ersten Schlafphase, die immer auch die tiefste ist. Es wacht nur selten vor zwei, drei Uhr auf. Und da wäre sie längst wieder zu Hause.
Die ersten Schritte auf der Straße. Immer dasselbe. Ihre Brust wird weiter, die Luft kann wieder zirkulieren.
Ihre Muskeln entspannen sich, einer nach dem anderen. Ihr Nacken erwacht, schmerzt, ihre Schultern. Ihre Beine, die mit jedem Schritt eine andere Stadt hervortreten lassen. Eine nächtliche Stadt.
Sie hat den Alarm auf ihrem Handy eingestellt. Alles im grünen Bereich.
Sie geht an den Kneipen am Ufer der Saône entlang, steuert den Uferdamm an.
An diesem Abend ist hier niemand unterwegs. Niemand ist unter der Brücke. Sie nähert sich einer Mauer, die voller Graffiti ist. Sie bleibt stehen und fährt die ausgefüllten Stellen, die Übergänge und die Linien mit dem Finger nach. Streicht über die Schattierungen der Farben auf dem kalten Mauerwerk, die verlaufenen Stellen. Die Buchstaben gehen ineinander über, sind abstrakt. So viele Zeichen, Schriftzüge, für Nichteingeweihte unlesbar. Gesprayt in aller Eile, aus Angst, erwischt zu werden.
Das hat sie als Kind ebenfalls geliebt, Angst zu haben. Einmal kletterte sie nachts aus ihrem Fenster. Mit Kreide schrieb sie Wörter auf das Trottoir in ihrer Straße oder in der Nachbarstraße, damit man ihr nicht auf die Schliche kam. Sie schrieb: »Achtung, Fantômette war hier.« Fantômette war eine Romanfigur, die tagsüber ein ganz normales Schulmädchen war, nachts aber mit Augenmaske und schwarzem Umhang auf Verbrecherjagd ging. Oder: »Vorsicht! Gauner unterwegs!« Am nächsten Morgen hatte der Regen alles weggewaschen. Oder aber die Blätter, die sie in aller Eile angeklebt hatte, waren zerfleddert und lagen als schmuddelige, weiße Papierfetzen auf dem Boden.
Es ist dreiundzwanzig Uhr. Sie hat noch Zeit, auf ein Bier in eine Kneipe zu gehen. Nur ein einziges. Um ihre letzte Flucht zu feiern.
Sie durchquert die Presqu’île, überquert den Pont Morand, der über die Rhône führt. Spaziert den Cours Franklin Roosevelt entlang, bis zum Boulevard des Brotteaux. Rechter Hand liegt ein Musikcafé, an dem sie seit Monaten jeden Tag vorbeigeht, das Métronome. Die schwarz-rote Fassade hebt sich von den aseptischen, bürgerlichen Kneipen des Quartiers ab.
Sie stößt die Tür auf und setzt sich in die Nähe des Tresens. Die Vorbereitungen für ein Konzert sind am Laufen. Hinten im Raum stimmen zwei Typen ihre Instrumente. Gitarre etwas lauter. Aus dem Verstärker kommt nichts. Ach was?
Ein kleines Dunkles bitte. Ein Barmann reicht ihr ein kleines belgisches Bier, dunkel und bitter. Das Bier fließt langsam durch all ihre Glieder, pumpt das Blut dorthin, wo es gebraucht wird.
Eine Gruppe von Studenten feiert das Ende irgendwelcher Zwischenprüfungen. Einige Pärchen tippen auf ihren Smartphones herum.
Ein Typ steht da mit dem Rücken an den Tresen gelehnt, dunkle Haut, braune Locken, die sich unter seiner Kappe hervorringeln. Es ist Chaze.
Die Klänge der Bassgitarren wummern schwer durch den Raum, eine undeutliche Coverversion von Bowie, ein Bowie für Anfänger.
Chaze ist neben ihr.
»Deine Tags sieht man ja fast überall …«
Sie lächeln sich an.
»Das an der Brücke ist immer noch da.«
»Willst du was trinken?«
Das Lokal füllt sich. Vor ihr wiegt sich ein tätowiertes Mädchen im Takt zur Musik. Langhaarige Typen schaukeln in ihren Lederjacken hin und her, nach links, nach rechts.
Es riecht nach Alkohol, nach Schweiß.
Sie schließt die Augen.
Und als sie sie wieder öffnet, erblickt sie die Frau. Hinten im Raum — es ist Paloma, die sie nicht minder erstaunt mustert.
Was zum Teufel hat Paloma hier zu suchen?
Die Concierge beugt sich zu ihrer Tischnachbarin. Dann blicken beide in ihre Richtung. Warum starren sie sie so an? Sie muss nach Hause, augenblicklich. Chaze hat nicht die Zeit zu protestieren, als sie ihn anrempelt und sein Bier umwirft. Schnell raus hier. Kann Paloma sie anzeigen? Ihr wird immer heißer, und das liegt nicht am Alkohol. Sie denkt an Beverly, an Lulubluette, an Chloé_28, die vielleicht gerade in den Armen von Manudad schläft … Die Concierge wird sicher gleich die Polizei verständigen. Schnell! Die Polizei klopft vielleicht bereits an ihre Wohnungstür oder bricht gerade die Tür auf. Das Kind wird aufwachen. Maman! Zu mir, zu mir!
Eine Straße, dann noch eine, am Spielplatz vorbeihetzen. Der große Boulevard, endlos. Vor dem Haus, in dem sie wohnt, stehen Polizeiautos in zwei Reihen geparkt. Mit blinkenden Blaulichtern auf den Wagendächern.
Einige der Nachbarn und Gaffer auf dem Trottoir bilden ein menschliches Absperrband. Sie drängt sich zwischen ihnen hindurch. Ein Polizist versperrt ihr den Zutritt.
»Ich wohne hier!«
»Im Moment darf hier keiner rein, niemand darf ins Haus!«
»Was ist passiert?«
»Ihren Ausweis!«
»Ich heiße Leroy, schauen Sie an den Briefkästen nach!«
Sie zögert kurz. Betrachtet den Polizisten, die Nachbarn, den Polizisten …
»Bei mir oben ist ein Kind!«
»Ihr Kind?«
»Es ist erst drei, ich bitte Sie, lassen Sie mich durch!«
»Wie bitte? Da oben ist ein erst dreijähriges Kind, ganz allein? Wollen Sie das behaupten?«
Sie nickt.
»Und sein Vater, ist der nicht bei ihm?«
»Nein.«
»Welches Stockwerk?«
Der Polizist zieht ein Funkgerät aus der Tasche, sie hört ihn sagen: »… das Kind, die Mutter …«, dann nur noch ein Knistern. Es ist bestimmt schon zu spät, viel zu spät. Das Kind ist tot, erstickt, verbrannt, das Kind lebt nicht mehr. Ihretwegen, wegen ihres Leichtsinns. Was hat sie nur getan? Was hat sie nur getan?
Ein zweiter Polizist kommt auf sie zu.
»Madame Leroy? Würden Sie uns bitte folgen?«
Polizisten gehen vor ihr durch den Eingangsbereich, dann die Treppen hoch. Die Treppen, die sie vor wenigen Stunden erst so fröhlich hinuntergerannt ist.
Im vierten Stock steht eine alte Dame im Bademantel vor ihrer Tür. Einer der Polizisten ruft ihr zu: »Bleiben Sie in Ihrer Wohnung, Madame, kommen Sie im Moment nicht heraus!«
Im sechsten Stock halten zwei Polizisten auf dem Treppenabsatz Wache.
Die Tür rechts. Hier ist es. Sie stellt ihre Handtasche auf den Boden, um nach ihrem Schlüssel zu kramen.
Sie schreit den Namen ihres Kindes, als sie die Tür aufreißt.
Nichts.
Dann taucht das Kind auf, nur in seinem Windelhöschen, und reibt sich die Augen.
»Was ist, Maman?«