Kapitel 1
- Benjamin -
Samstag
»Was zum Henker ist das?«, fahre ich Janice entsetzt an, die ein extrem haariges Etwas in ihren Händen hält.
Plötzlich sind es zwei haarige Dinger. Meine Freundin sieht mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost und meine Frage absolut überflüssig. »Na, das sind eure Kostüme.«
Mein Blick folgt ihrem und mir wird klar, was sie meint. »Du willst, dass Sushi« – mein zehn Monate alter Neufundländer, der mich gerade ansieht, als hätte ich nicht alle Latten am Zaun – »der von Natur aus mit reichlich Fell gesegnet ist« – ich deute auf die Perücke in Janice’ linker Hand – »dieses Teil trägt? Und das da« – ich zeige auf ihre rechte Hand – »soll ich anziehen?« Ich schüttle vehement den Kopf. »Das kannst du so was von knicken.«
»Ach komm schon. Alle spielen mit. Selbst Gina, die als eiskaltes Händchen geht. Wir haben uns solche Mühe gegeben, vor allem Mum und Kylee. Schau dich mal um. Balgreen House ist das perfekte Ebenbild des Addams-Anwesens.«
Ich bin mir nicht sicher, was mich mehr verstört, dass Sushi und ich Vetter Itts Doppelgänger mimen sollen oder dass sich Gina tatsächlich auf diesen Irrsinn eingelassen hat. »Wie darf ich mir Ginas Kostüm vorstellen?«
Janice grinst gemein. »Millie hat sie zu einer riesigen Hand gemacht. Das ist so witzig. Jedes Mal, wenn sie mir über den Weg läuft und ich ihr grimmiges Gesicht sehe, mach ich mir vor Lachen fast ins Höschen.« In einer beschwichtigenden Geste fährt sie beinahe feierlich fort: »Nicht, dass ich sie auslache. Ich will ja nicht riskieren, von ihr über den Haufen geballert zu werden. Aber ernsthaft, ihre Miene ist zum Schießen.«
»Wie hast du sie nur dazu gekriegt?« Zu meiner Überraschung hat es bei den beiden beim ersten Aufeinandertreffen so sehr gefunkt, dass sie eigentlich als Tweedledee und Tweedledum hätten gehen sollen. Wenn das Motto der Party doch nur Alice im Wunderland und nicht die Addams Family gewesen wäre.
Janice räuspert sich und wedelt verlegen mit den haarigen Kostümen vor meiner Nase herum. »Das wird nicht verraten. So, und jetzt nimm das hier und geh dich umziehen. In einer halben Stunde geht’s los.«
Abermals lasse ich meinen Blick schweifen. Janice hat recht. Die Kulisse hätte für den nächsten Teil der Addams Family herhalten können. Von der wunderschönen Eingangshalle ist nichts mehr übrig. Wie William mir vor ein paar Tagen erzählte, wurde Balgreen House von seinen Vorfahren auf dem Höhepunkt der georgianischen Architektur um 1760 erbaut. Jedenfalls erinnert rein gar nichts auch nur ansatzweise daran, wie toll es hier gestern noch ausgesehen hat. Überall stehen altertümliche Folterinstrumente aus dem Mittelalter herum. Millie, die als Maskenbildnerin am Theater arbeitet, hat sicher einen Deal mit der Requisite ausgehandelt, andernfalls wüsste ich nicht, wo sie all diese Gegenstände so schnell herbekommen haben könnten.
Okay, es gäbe noch eine Möglichkeit, aber darüber möchte ich ehrlicherweise nicht genauer nachdenken. Allein die Vorstellung, die Eiserne Jungfrau stamme aus dem Gewölbekeller von Balgreen House und gehöre somit zu den Besitztümern der McIntyres, beschert mir nicht wirklich ein wohliges Gefühl.
Der Kronleuchter ist über und über mit Spinnweben bedeckt und eine riesige Tarantula seilt sich geradewegs zu uns ab. Spinnen! Boah, ich hasse Spinnen. Ich schüttle mich instinktiv und versuche sie zu ignorieren, während sich Sushi gegen mein Bein lehnt. Entweder hat er meinen Gemütszustand bemerkt und will mir Trost spenden, oder er hat die Hose genauso voll wie ich und würde am liebsten in meine Jackentasche krabbeln. Nur leider würde das mit seinen knapp fünfzig Kilo und einer Schulterhöhe von schätzungsweise fünfundsechzig Zentimetern etwas schwierig werden. Also streiche ich ihm beruhigend über den Kopf und schaue mich weiter um. Sogar die Familienporträts der McIntyres sind mit dunklem Leinenstoff verhängt und lebendig wirkende Fledermäuse starren mich an, als würden sie sagen wollen: Stell dich nicht so an. Das wird ein Spaß!
Ich schnaube. »Ich sag dir was, ihr nehmt diese Halloween-Party eindeutig zu wichtig.« Davon abgesehen, dass wir gerade mal Ende August haben. Aber das war Kylees Idee – die Hausherrin.
»Es ist wichtig«, entgegnet Janice überzeugt. »Schon allein, weil wir etwas zu feiern haben.«
»Und dazu muss ich aussehen wie Vetter Itt?« Ich schiebe den Tragegurt meiner Reisetasche zurecht und kraule Sushi die Ohren, der zustimmend brummt. »Und mein armes Baby soll diesen Quatsch auch noch mitmachen? Nur über meine Leiche.«
»Das lässt sich bestimmt einrichten«, weht eine rauchige Stimme vom oberen Treppenabsatz zu uns herunter.
Janice ringt überrascht nach Luft, während ich dastehe und mir bei Kylees Anblick die Kinnlade herunterfällt. »Heilige Scheiße!«, platzt es mir heraus. Sushi drückt erneut seinen riesigen Kopf gegen meinen Schenkel, winselt leise vor sich hin und bringt mich beinahe aus dem Gleichgewicht.
»Du siehst fantastisch aus«, jubelt Janice. »Du bist einfach …« Ihre Hände flattern aufgeregt vor Kylee herum, die inzwischen die Stufen zu uns hinuntergeglitten ist. Anders kann man es nicht beschreiben. »Sag noch mal was.«
Kylee verschränkt ihre Arme – eine typische Morticia-Geste – und nickt uns mit einem aristokratischen Blick zu. Mit dunkler, distinguierter Stimme sagt sie völlig gelangweilt: »Ich kenne keine Kylee. Ich bin Morticia Addams und heiße euch recht herzlich in unserem Haus willkommen.«
Janice schaudert und reibt sich über den Arm. »Du meine Güte, du machst mir ’ne Erpelwelle.«
Ich grinse Kylee an und gehe auf das Spiel ein, indem ich mich höflich verbeuge und voller Bewunderung erwidere: »Es ist mir eine Ehre.«
»Cara mia!«, höre ich William, Kylees Ehemann, mit spanischem Akzent von oben rufen. »Wen hast du da wieder aufgelesen?«
Hat nicht viel gefehlt und ich hätte mich an meiner eigenen Spucke verschluckt. Janice kichert leise vor sich hin.
Als William neben Kylee steht, nimmt er ihre Hand und küsst sich an ihrem Arm entlang, ehe er mit liebestollem Blick haucht: »Geliebtes Weib. Albtraum meiner durchwachten Nächte. Ich würde alles für dich tun – morden, sterben … Sag, dass du mich liebst.«
Kylee streicht ihm mit den Fingerspitzen über das Gesicht und lächelt nur, bevor William stürmisch ihren Mund erobert.
Ich habe ja heute mit einigen seltsamen Dingen gerechnet, aber die Show der beiden schlägt meine Befürchtungen um Längen. William ist Mitte sechzig. Inzwischen weiß ich, dass er sich für Kylee auf alles einlassen würde. Aber ihm scheint das Theater unheimlichen Spaß zu bereiten. Und ich muss gestehen, ich finde ihre Art erfrischend, wie sie das Leben nicht zu ernst nehmen. Ihnen den Tag zu verderben ist das Letzte, was ich will.
»Also gut«, wende ich mich nun an Janice. »Gib schon her. Dann bin ich eben Vetter Itt. Aber Sushi bleibt, wie er ist.«
Janice grinst mich siegessicher an, greift in ihre Tasche und holt eine Sonnenbrille heraus, um mir diese ebenfalls in die Hand zu drücken. »Ich bin gespannt.« Daraufhin beugt sie sich um einen riesigen Korbsessel, der genauso aussieht wie der aus dem Film, und zaubert etwas großes Schwarzes mit acht Beinen hervor. Sushi knurrt das Teil an und macht ein paar Schritte zurück.
»Was zum Geier ist das denn?« Hilfe suchend schaue ich zu William.
Doch der grinst mich breit an und meint: »Das, mein junger Freund, nennt man eine Alternative.«
Janice breitet die spinnenähnlichen Beine aus. Nein, es sind Spinnenbeine und das Ganze soll ein Kostüm für Sushi sein.
Ich winke ab und baue mich schützend vor meinem pelzigen Freund auf. »Wie ich schon sagte, nur über meine Leiche.« Kylee holt Luft und mir ist klar, was ihr auf der Zunge liegt. Doch mit einem todernsten Blick bringe ich sie zum Verstummen, bevor sie auch nur ein Wort von sich gibt. Daraufhin neige ich den Kopf zur Seite und mustere Janice. »Du bist zwar noch nicht umgezogen, aber ich kann mir bereits denken, welches Mitglied der Addams Family du verkörpern wirst.«
Sie wirft das Spinnenkostüm auf den Korbsessel und stemmt die Fäuste in die Hüften. »Ach ja? Erzähl mal.«
Kylee und William, oder besser Morticia und Gomez, beäugen uns mit emotionslosen Mienen, ehe sie wie abgesprochen die Achseln zucken und von dannen schreiten.
Ich pruste. »Habt ihr das einstudiert?«
Ohne einen Blick zurückzuwerfen, winkt Kylee ab und meint: »Entferne dich, Ungläubiger. Wir besuchen jetzt unsere Ahnen.«
Janice lacht, lässt jedoch nicht locker. »Also? Wer denkst du, werde ich sein?«
»Das ist doch klar. Wednesday.«
Sie wackelt mit den Augenbrauen. »Ob du recht hast, wirst du nachher sehen.«
Ich hänge das haarige Kostüm über meine Tasche und schaue mich erneut um. »Sind die anderen schon da?«
»Joel und Ryan sind oben.« Sie zwinkert mir zu. »Sadie hat die Gemächer für uns hergerichtet.«
»Die gleiche Belegung wie vor zwei Wochen?«
»Jupp.«
»Gut, ich habe echt keine Lust, mir das Geturtel der beiden auch noch nachts anhören zu müssen.«
»Als ob du irgendetwas hättest hören können. Sie haben schließlich das grüne Zimmer.«
»Tja, irgendwas habe ich aber gehört.«
Janice reißt die Augen auf und läuft knallrot an, bevor sie auf dem Absatz kehrtmacht und murmelt: »Verdammt! Ich wusste, wir sind zu laut.«
Lauthals lachend steuere ich auf die Treppe zu. Als ich merke, dass Sushi keinerlei Anstalten macht, mich zu begleiten, drehe ich mich um und sehe, wie er immer noch auf seinem flauschigen Hintern sitzt und zum Kronleuchter starrt.
»Na, komm schon, mein Kleiner. Ich wette, Sadie hat dir oben ein Leckerli hingestellt.« Sadie ist eine Seele von Mensch und die Köchin der McIntyres. Allerdings ist in diesem Haus alles anders. Hier begegnen sich Bewohner und Angestellte auf Augenhöhe. Letztere gehören quasi zur Familie.
Sushi hebt die Lefzen und knurrt. Ich seufze, stelle meine Tasche samt Kostüm ab, lege die Sonnenbrille darauf und schaue mich nach einem langen Stock oder etwas Ähnlichem um. Neben einem gigantischen Kamin, der hier ganz sicher nicht hergehört, lehnt ein Schwert an der Wand. »Ich muss dir also erst beweisen, dass das Vieh unecht ist, hm?«, frage ich Sushi, der mir nur einen schnellen Blick zuwirft und sich sofort wieder auf den Feind konzentriert.
Ich schlendere zur Kamin-Attrappe und greife nach der Waffe. »Ach du Scheiße, das Ding ist ja echt!«, fluche ich, als ich mir beim Anheben beinahe einen Leistenbruch hole. Mit beiden Händen schaffe ich es dann doch und jongliere es zur Mitte der Eingangshalle. Ächzend wuchte ich es über meinen Kopf und stoße mit der Schwertspitze die pechschwarze Spinne an, die Sushi die ganze Zeit anknurrt … und die sich daraufhin bewegt.
»Fuck!« Mit einem unmännlichen Laut schmeiße ich das Schwert von mir, schnappe den bellenden Sushi am Halsband und eile mit ihm die Treppe hinauf. Im Vorbeiflug kralle ich mir Tasche, Kostüm und Brille.
Als wir die letzten Stufen erklimmen, höre ich Janice hinter uns herrufen: »Du weißt aber schon, dass sie nicht echt ist, oder?«
»Natürlich!«, entgegne ich leicht pikiert. Zu mehr komme ich nicht, da Sushi ein gänzlich anderes Ziel auserkoren hat: einen überdimensionalen Kürbiskopf, dessen Augen im Dunkeln flackern. Er zerrt nun mich hinter sich her, bis er bei besagtem Kopf ist, um jetzt diesen statt der Spinne anzuknurren.
Nur mit Überredungskünsten schaffe ich es, ihn in unser Zimmer zu locken. Na gut, um genau zu sein, mit einem seiner heiß geliebten Kauknochen, die ich für Notfälle wie diesen bei mir trage. Sushi ist ein gemütlicher und liebevoller Hund. Natürlich ist er verspielt und lässt sich mit allem Möglichen vom Wesentlichen ablenken. Aber er ist mit zehn Monaten ein Welpe. Zwar ein großer, aber immer noch ein Welpe – zumindest für mich. Denn er ist mein Baby. Ach, wem mache ich hier was vor? Ich kann ihm schlecht was abschlagen, wenn er mich mit seinen treuen braunen Augen ansieht, seinen riesigen Kopf auf meinen Schoß legt und herzerweichend winselt.
Okay, es gibt eine Sache, für die er wahrscheinlich alles tun würde. Der Grund für seinen außergewöhnlichen Namen.
Es geschah gleich am ersten Tag. Kaum dass wir bei mir zu Hause waren, schnüffelte er sich schwanzwedelnd durch sein neues Heim, derweil ich meine Einkäufe verräumte. Er musste mich beobachtet haben, denn plötzlich pflanzte er seinen felligen Hintern direkt vor den Kühlraum. Sein Blick wanderte ständig zu mir und zurück zur Stahltür.
Als ich mich nicht regte, bellte er mich auffordernd an. Ich dachte mir nichts dabei und ging zu ihm, um herauszufinden, was er erschnüffelt hatte. Also zog ich die Tür auf und wir linsten beide hinein. Sushi sitzend und ich über ihn gebeugt. Wir gaben sicher einen tollen Anblick ab. Er robbte sich auf seinem Podex weiter ran, bis er das erste Regal erreichte, und stupste eine Plastikschachtel an, die ich auf dem Heimweg beim Japaner meines Vertrauens gleich um die Ecke besorgt hatte. Ich wollte sie am Nachmittag genießen, während ich mich meiner Arbeit widmete. Falsch gedacht.
Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie sich mein kleiner Freund besagte Schachtel schnappte, aus der Küche türmte und sie in Windeseile hinter die Couch verschleppte. Ich frage mich heute noch, wie er dahinter gepasst hat, denn zwischen Sofalehne und Wand war keine Handbreit Platz.
Es knackte verdächtig, dann flog eine Hälfte der Verpackung über die Couchlehne und ich hörte ihn genüsslich schmatzen. Alles in allem dauerte die Aktion keine dreißig Sekunden. Während ich hektisch versuchte, das Sofa vorzuziehen, kehrte schlagartig Ruhe ein. Ich schielte über die Lehne und sah, dass Sushi meine kleinen Röllchen inhaliert hatte und mich nun frech angrinste. Ich sank auf die Sitzfläche und wusste nicht, ob ich lachen oder mit ihm schimpfen sollte. Dann schlich er mit hängenden Ohren zu mir und legte seinen Kopf auf mein Knie. Diesen Blick werde ich wohl nie vergessen. Er war eine Mischung aus Es tut mir leid, ich kann aber nichts dafür und Hab mich trotzdem lieb . Das war der Moment, in dem ich entschied, meinen neuen Begleiter Sushi zu nennen.
Hätte dieses süße Fellknäuel nicht bereits im Tierheim mein Herz erobert, wäre es spätestens da geschehen. Zum Glück hat er sein Fressgelage gut überstanden. Seitdem sorge ich immer dafür, dass mein Lieblingsjapaner Haruko einige Röllchen extra für ihn zubereitet. Ja, als ich im Restaurant war, um Haruko darum zu bitten, sah er mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Doch dann stellte ich ihm Sushi vor und er verfiel ihm Hals über Kopf.