2017
In meiner Jugend habe ich einmal ein Handballspiel bestritten, aushilfsweise, in der Mannschaft eines Kumpels, in der einer fehlte. Ich warf zwei Tore, wobei man vielleicht nicht werfen sagen sollte. Es war eher ein Pritschen. Meine Hände waren zu klein für den Ball, oder meine Finger zu wenig kräftig. Aber der Trainer der Mannschaft lobte mich danach übern grünen Klee. Seht ihr, sagte er zu den anderen, die schon eine Weile bei ihm trainierten, er kommt her und macht euch gleich was vor, nehmt euch ein Beispiel an ihm; das war mir peinlich. Weil ich doch den Ball, im Gegensatz zu ihnen, nichtmal richtig in einer Hand halten konnte.
Solange ich dann Sportjournalist war, habe ich über Handball geschrieben, es war mir die liebste Sportart. Es war auch die erste, bei der sich für mich die Unterschiede zwischen Ost und West verwischten und ich eine Zuneigung für die gesamtdeutsche Mannschaft entwickelte, eigentlich ist Zuneigung untertrieben. Sie wuchs mir ans Herz. Das lag an den Spielern. Es waren handfeste, sympathische Typen, egal woher sie kamen, Handballer sind so, überall auf der Welt; ich erinnere mich an den russischen Trainer Anfang der 90er Jahre, es ging damals drunter und drüber bei ihm im Land, vor einer Weltmeisterschaft, war es die auf Island? hieß es, er und seine Leute hätten keine Kopeke mehr, ihr Verband sei pleite. Ich befragte ihn, den ich lange kannte und mit dem ich mich in einem Kauderwelsch aus Russisch, Englisch und Deutsch zu unterhalten pflegte, nach dem Problem, da bückte er sich, griff zu der Plastetüte, die er zwischen seine Beine geklemmt hatte, und öffnete sie, sie war voller Dollars. Nix pleite, rief er mit dröhnendem Lachen, nix pleite, er mußte die Kohle gerade von den Organisatoren oder den Sponsoren bekommen haben und hieb mir mit seiner Handballerpranke so auf die Schulter, daß ich den ganzen halben Tag schief herumging.
Da ich Island schrieb, noch eine Geschichte von dort, es sind so viele Geschichten, an die ich mich jetzt erinnere, ein alter Freund aus der Sportredaktion, der da auch schon lange nicht mehr ist, erzählt mir gern, wie ich zur Morgensitzungszeit angerufen hätte, um wie üblich die Berichterstattung des Tages abzusprechen, und wie der Chef leicht entsetzt in den Hörer gerufen hätte, 250 Zeilen über den neuen Boden der Halle in Rejkjavik, das ist zuviel, Birk, und wie ich wohl insistiert und wie er wieder gerufen hätte, neiiin, 250 Zeilen über den Hallenboden, neiiin, zuvieeel; jetzt hör doch auf zu spinnen, sag ich dann jedesmal zu dem Kumpel, ich hab niemals überhaupt über diesen dämlichen Boden da geschrieben, das denkst du dir alles nur aus. Nein. Doch. Nein. Doch noch was Wundervolles, ein Letztes, es war die schönste Jahreszeit auf Island, der Winter war gegangen, und silbriges Wasser strömte aus den Bergen übers schwarze Gestein meerwärts, Sonne und Mond erhellten die Insel, die ich in einer Nacht quer durchfuhr, manchmal stieg ich aus, lehnte mich an den Wagen und tat minutenlang nichts als in die pergamentene Landschaft zu sehen und dem unaufhörlichen Flüstern der vom Schmelzwasser bewegten Kiesel zu lauschen.
An das alles mußte ich denken, als im vorigen Jahr Europameisterschaft war und meine Handballer, immer noch meine, sensationell den Titel gewannen und die von meinem guten alten Förderer geleitete große Wochenzeitung einen geradezu wahnhaften Text brachte. Was verkörpere denn diese Mannschaft, im Vergleich zur Multi-Kulti-Truppe der Fußballer, fragte der Autor. Eine Mannschaft ohne jeden Spieler mit schwarzer Haut oder auch nur südländischem Teint sei das, einhundert Prozent kartoffeldeutsche Leistungsbereitschaft. Er listete komplett die Vornamen auf, Hendrik, Finn, Erik, Christian, Steffen und so weiter, alles deutsche beziehungsweise skandinavische; dieser Sport sei sozialdynamisch vor drei Jahrzehnten stehengeblieben und verweise auf eine selig verklärte deutsche Reihenhausvergangenheit der 80er Jahre; wenn Fußball die Kanzlerin sei, sei Handball die Vorsitzende der Alternative für Deutschland, er, also der Autor, werde ihr, also der Sportart, keinesfalls zuschauen.
Und er ist Philosoph? So bezeichnet er sich, ja, so steht es da, aber ich, der ich nur ein Geschichtenerzähler bin und außerdem ein Leser, ich sage, ein Hetzer ist der, ich habe in den vergangenen zwei Jahren in den Zeitungen manches lesen müssen, was, zurückhaltend gesagt, meinen Unmut hervorgerufen hat, aber noch nicht sowas, ich mag nun nicht mehr zurückhaltend sein, sondern sagen, daß dieser Mensch mit seinem auch sehr deutschen Namen einen hetzerischen Text über Deutsche geschrieben hat, man ersetze, um es ganz und gar zu begreifen, nur einmal die aufgelisteten deutschen und skandinavischen Namen durch arabische und verbinde sie mit irgendwelchen Stereotypen und verwende statt Kartoffel, Schimpfwort von Migranten für Deutsche, ein Schimpfwort für jene und gieße noch gehörig Süffisanz über den Text, auf daß sie zwischen jedes Wort sickere, Süffisanz, Soße der sich überlegen Dünkenden, die habe ich ja schon weggelassen bei der Wiedergabe, wozu sich noch mehr ekeln als ohnehin schon, mich ekelt vor diesem Artikel und diesem angeblichen Philosophen. Diesem Verbogenen, Verlassenen, Vertrockneten, Verlorenen. Dem Bankdrücker dem. Vollpfosten! Siebenmeterverwerfer! Du Wischmopp Du! Du Klatschpappe! Ehrengast! Kanzler­amts­knecht! So!
Und was ist mit dem Chefredakteur der Zeitung, in der er sein Schundstück hat veröffentlichen dürfen, was ist mit meinem alten, gleichaltrigen Förderer, dem ich bestimmt 20 Jahre nicht begegnet bin? Ist der mir auch zuwider? Nicht doch, wie denn, ich sehe immer noch, wie anregend damals die Arbeit mit ihm gewesen ist, ich sehe ihn gestikulierend vor mir, auch neben mir: Wie wir in einer ruhigen Stunde Tour de France gucken und er Pantani den Berg hochtreibt und ich Jan Ullrich, die waren nicht gedopt, solange wir so standen und sie voranpeitschten, ich halte meine guten Erinnerungen wach und halte ihm zugute, daß selbst er in seiner endlosen Arbeitsfreude gar nicht jeden Artikel vor der Veröffentlichung lesen kann, aber gegen eines komme ich nicht an. Gegen die Ahnung, ach was, gegen die Gewißheit, daß in einem Blatt, in dem eine Gruppe von Menschen verächtlich gemacht wird, nur weil sie deutsche oder nordische Vornamen trägt und einen überwiegend in Mittel- und Nordeuropa verbreiteten Sport ausübt, daß in der Redaktion eines solchen Blattes ja wohl eine entsprechende Atmosphäre herrschen muß, eine bestimmte Grundbereitschaft, sich solchen Materials überhaupt anzunehmen, und für die, verdammt wer ist denn für die verantwortlich, wenn nicht –
Das war, wie gesagt, vor einem Jahr, und es stand in einer Zeitung, zu der ich noch nie einen Zugang gefunden habe und die mir im Grunde egal ist. Aber meine ehemalige! Jetzt! Gestern war in Köln ein Parteitag jener Partei, mit der meine Handballer so fies in Verbindung gebracht worden waren, die Sicherheitslage war brisant. Viele Demonstranten, friedliche und aggressive, viel Polizei. Angestellte des Tagungshotels durften, um sich draußen keiner Gefahr auszusetzen, im Hotel übernachten, das habe ich woanders gelesen, und hier bei mir in meinem früheren Blatt? Lese ich auch einen fairen Bericht. Wie angenehm, sachlich wird mir mitgeteilt, was sich zugetragen hat, vor allem natürlich in der Halle, die halbwegs moderate Parteivorsitzende ist de facto abgesägt worden, steht auch in der Überschrift. In der Unterzeile aber, ich lese Unterzeilen und Bildunterschriften meist erst nach dem Haupttext, in der Unterzeile steht konträr zum Text: Das war schon ein spezielles Spektakel, wie sich die AfD in Köln gegen die Demonstranten da draußen zuammenrottet und gleichzeitig drinnen die eigene Parteivorsitzende kaltstellt
Wie bitte? Wer hat sich zusammengerottet, wenn sich schon jemand zusammengerottet hat? Die im Hotel tagenden Parteimitglieder oder die das Hotel blockierenden Parteigegner? Wenn schon das Wort zusammenrotten, wenn schon das, dann müßte man es ja wohl diesen ans Bein binden und nicht jenen, nicht? Und welch Süffisanz wieder, das war schon ein spezielles Spektakel. Im Text ging es doch auch ohne, mit dieser die Fakten verdrehenden süffisanten Unterzeile wird der ganze Text konterkariert, ich kenne die Abläufe. Der Autor war in Köln. Ein Autor, der irgendwo draußen ist, liefert in aller Regel keine Überschrift und schon gar keine Unterzeile. Diese zu fertigen, obliegt der Redaktion, in dem Fall dem Reportageressort. Die Diensthabenden dort haben nicht an sich halten können, die haben das Zeugs reingeschrieben, warum denn bloß? Wo ist ihr Verstand geblieben, wo ihr Gefühl? Wissen sie nicht, daß man als Leser instinktiv diejenigen in Schutz nimmt, die so erkennbar unseriös behandelt werden? Das sind doch die durchschaubarsten Prozesse im Hirn des Menschen, was ist nur los mit diesen Redakteuren, daß sie die einfachsten Regeln des Journalismus und der Psychologie mißachten, wohin treiben sie nur, und wovon werden sie ­getrieben?
Ich weiß es. Ich bin ja selber mal so getrieben. Als ich den Leichtathleten so angegangen bin, als ich ihn, der gerüchte­weise ein Wüterich und irgendwie auch ein Rechter sein sollte, in der Pressekonferenz so plötzlich ­diffamiert habe. Ich wußte damals nicht, was mich geritten hat, aber jetzt weiß ich es, ich wollte Position beziehen. Ich habe meine Position in eine Frage gekleidet, die gar keine Frage war. Ich wollte gar nichts von dem Hünen wissen, ich habe ihn mir gegriffen, um meine glasklare Einstellung zu demonstrieren; mir fällt noch eine zweite Begebenheit ein. Eine aus dem Studium. Ich versenkte mich damals im Hörsaal gern in die Sportseite der Jugendzeitung, ich hörte nur in den rein journalistischen Fächern Stilistik und Methodik zu, ansonsten war ich faul und auch immer mal wieder körperlich abwesend. Nur einer aus meinem Studienjahr war noch fauler und öfter abwesend, so ein Langer Dünner mit unsicheren Bewegungen, der fehlte zu oft. Wegen dem wurde eine Versammlung abgehalten. Wieso er dauernd schwänze. Wie er Jornalist werden wolle, ohne das nötige Rüstzeug. Ob es ihm nicht überhaupt am richtigen Bewußtsein mangele. Dieser und jener erhob sich und tadelte ihn, das verbale Auspeitschen war schon fast beendet – da stand auch ich noch auf und verabreichte ihm meinen Hieb, ich weiß nicht mehr, was für einen, ich kann mich meiner Worte nicht mehr erinnern, nur noch meines Redens an sich, schon während ich redete, hörte ich mir staunend zu: daß wirklich ich jetzt das Wort ergriffen hatte, ich!
Zwei Wallungen sind das gewesen, zwei unerwartete kurze Zuckungen nur, dann war es wieder vorbei. Aber ich hab’s mir gemerkt. Ich hab’s nicht vergessen. Natürlich weiß ich mehr als diese Redakteure jetzt in der Zeitung mit ihrem erbärmlichen Eifer, mit dem sie sich auf der Seite versammeln, die ihnen die richtige erscheint, und mit dem sie dort geradezu aufstampfen, es ist die richtige, richtige, richtige Seite, ich kenne aus den Zeiten der endlosen Genitivverbindungen die Details der Mechanismen des Demonstrierens des festen eigenen Standpunkts, ich erinnere mich und richte und lache nicht über die Leute heute, obwohl mir manchmal sehr danach ist. Es sind doch meine Nachfolger! Ich bin fern von ihnen, bin außerhalb des Geschehens, in dem sie sich gegenseitig übertrumpfen, ich kann sie auf nichts hinweisen, wer bin ich denn auch, nur sie lesen kann ich, und mir meinen Teil denken.
Schriftsteller bin ich, Schriftsteller. Sieben Jahre habe ich an meinen zwei dicken Bänden geschrieben, eine einsame und darum erkenntnisreiche Zeit, es braucht solche Einsamkeit, um hinter all die Dinge zu kommen, die draußen geschehen, und was es nicht braucht, sind Zeitungen. Sie stören nur das Erkennen, das sich während des Schreibens vollzieht, ich habe fast keine gelesen in den letzten Jahren. Jetzt aber, da Band II ausgeliefert wird, lese ich sie wieder, meine alte Zeitung, und mir fällt auf, wie einseitig die gesamte Berichterstattung geworden ist. Das ist ja alles nur noch in eine Richtung gebürstet! Das ist ja ein Dauerzustand geworden: einer Haltung Ausdruck zu verleihen und nicht mehr der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit um die Teile zu reduzieren, die nicht zur Haltung passen, und dafür die Teile überzubetonen, die sich mit der Haltung decken; ich bin nicht verblüfft über diese Entwicklung. Dieses Aussperren von Realität ist mir, ich muß überlegen, wann es mir geschehen ist, vor sieben Jahren schon. Schon Zweitausendzehn. Damals sind es ruhige Zeiten gewesen, und jetzt, da so viele Flüchtlinge gekommen sind, sind die Zeiten nicht mehr so ruhig, damals war wohl alles schon in der Redaktion angelegt, und jetzt ist es richtig zum Ausbruch gekommen und deutlich sichtbar geworden, es brauchte einfach die besondere historische Situation, um das Verborgene hervortreten zu lassen, nein wirklich, je länger ich über die Einseitigkeit nachdenke, umso weniger verblüfft bin ich über ihr Ausmaß.
Moment, Haltung? Das nehme ich zurück. Es ist ja ganz falsch, von Haltung zu reden. Wenn’s eine Haltung wäre, was Selbstdurchdachtes und Selbsterarbeitetes, was vielleicht unter Mühen Erworbenes, was Eigenständiges, würden doch von den Individuen so große Teile der Realität nicht so gemeinschaftlich, so geschlossen, so uniform ausgeblendet werden; so identitisch zeigen sich eigentlich nur Späne, die sich nach dem Magneten ausrichten, heiliger Journalismus, und wenn der Magnet, aus welchen Gründen auch immer, seine Lage verändert, folgen die Späne wieder, sie folgen.
Aber im Detail, was kann ich schon nicht mehr lesen, und was möchte ich endlich lesen? Die Flüchtlingshelferin, die stolz und glücklich über sich und die Menschen ist, denen sie helfen darf und von denen sie Dank erntet, die kenne ich nun zur Genüge, so oft ist sie mir vorgeführt worden, und mit so glühender Übereinstimmung. Aber da sind doch auch Helfer, die verzweifeln ob der maßlosen Forderungen ihrer Schützlinge und ob der Geringschätzung, die ihnen von denen entgegenschlägt; nicht von den wirklich Bedürftigen, wie sie betonen, nicht von den Ausgebombten, nicht von den Armseligen, denen Vater, Mutter, Kind genommen wurden, nicht von jenen bis in alle Ewigkeit Gezeichneten, sondern von –
Einschub, alle die gekommen sind, sind in der Zeitung und im Fernsehen und im Radio Flüchtlinge, das ist das Anfangs- und das Endwort. Es suggeriert Verfolgung, Todesangst und Hilfsbedürftigkeit, es appelliert an meine Anteilnahme, dabei ist es, derart pauschal gebraucht, ein irreführendes Wort, denn ein erheblicher Teil der Hergekommenen ist schlicht der Verheißung eines besseren Lebens gefolgt. Wirtschaftsflüchtlinge, heißt es jetzt manchmal, immer noch sind es also Flüchtlinge, Bedürftige; nur wie heißt das Museum oben in Bremerhaven, wo sich unsere Vorfahren auf die Schiffe drängten, um ins gelobte Amerika zu gelangen? Auswandererhaus. Unsere Vorfahren sind Auswanderer gewesen, von Amerika aus gesehen natürlich Einwanderer. Einwanderer.
– kurzum möchte ich einmal eine Geschichte über Helfer lesen, die desillusioniert sind vom Verhalten der von ihnen betreuten Einwanderer. Und weiter, ich bin nun ausreichend informiert über Flüchtlingskinder, die in der Kita oder in der Schule wie von selbst Deutsch gelernt haben, es ist schön, daß ihnen das gelungen ist, und es ist wohl auch nicht ganz unnormal bei kleinen Kindern, in deren Gehirnkasten naturgemäß noch viel Platz ist. Ich möchte dafür einmal eine Reportage über jene Erwachsenen lesen, die ihren Deutschkurs abgebrochen haben, ich möchte sie ausführlich beschrieben sehen, mit ihrer Herkunft, möglichst der wahren, mit ihren Wünschen und Versäumnissen. Ich möchte auch nicht immer nur von den Steinen lesen, die schwerfällige oder widerwillige Behörden den Betroffenen bei der Integration oder bei der Zuerkennung ihres Aufenthaltsstatus in den Weg legen, ich möchte einmal aufgeblättert bekommen, mit wieviel Geld von welcher Behörde Menschen dorthin in Urlaub fliegen, von wo sie doch vor kurzem geflüchtet sind, ich möchte erfahren, wie ihre Angehörigen leben, bei denen sie ja vermutlich wohnen, ich weiß nicht, wo sie wohnen während ihres Urlaubs, ich kann es nur vermuten, ich möchte schlicht aufgeklärt werden über diese seltsamen Vorgänge. Ich möchte auch wissen, was eigentlich mit den Flüchtlingen respektive Einwanderern geschieht, die ihre Unterkunft angezündet haben; von Rechten, die so etwas tun, weiß ich es, sie kriegen, so soll und muß es sein, ein Gerichtsverfahren, darüber wird regelmäßig geschrieben, aber wie ist es mit den ausländischen Zündlern? Ich habe noch keine umfassende Geschichte über sie gefunden. Nur immer mal kurze Meldungen; wenn ich die zusammenzähle, wird eine lange Liste draus, eine erstaunlich lange Liste von Leuten, von denen ich nicht einmal erfahre, ob sie, nachdem sie ihr Feuer gelegt haben, auch ein Verfahren kriegen, ich möchte nicht argwöhnen, daß sie ohne eines davonkommen, aber ich argwöhne es. Es ist genau jenes in Kurzmeldungen Gefaßte und sodann im Schweigen Versinkende, das meinen Argwohn hervorruft.
Ich möchte, nur weil ich dies alles geschrieben habe, nicht auch noch dazuschreiben müssen, was bei mir um die Ecke im Bus geschah. Eine Gruppe junger männlicher Migranten stieg ein. Die Jungs fragten den Fahrer, wo sie raus müßten, um zum See zu kommen. Der Fahrer zuckte mit den Schultern. Und drückte auf den Knopf zum Türenschließen. Die Jungs sprangen aus dem Bus, sie konnten nicht sicher sein, ob es überhaupt der richtige war, alles ging rasend schnell, schon fuhren wir wieder, und sie blieben unschlüssig zurück, ein paar Puten im Wagen brachten rachitische Laute hervor, die wohl arabisch klingen sollten, und einer, der, der es jetzt eben doch schreibt, lief vor zum Fahrer und fragte ihn, wieso er es den Jungs nicht gesagt habe. Wieso er sie habe auflaufen lassen. Was sie ihm getan hätten. Der Fahrer grinste. Er kriegte ein Arschloch, Sie sind einfach nur ein Arschloch zu hören; nun steht sie da, meine kleine Busballade, die kurze Erzählung meiner Lauterkeit, was für eine Zeit nur wieder, ich kritisiere das Ausblenden von Wirklichkeit und fühle mich genötigt, gleich ein gutes Wort über mich hinterherzuschieben und damit ein böses abzuwehren, nein ich bin kein Rassist, liebe Pistoleros, die Ihr das böse Wort wie wild durch die Gegend feuert, ich bin der Mann aus dem Bus.
Ihr schießt schnell, aber Ihr seid nicht aufmerksam. Ihr seid zu routiniert. Ihr habt Euch zu plüschig eingerichtet. Es hat, seit vor zwei Jahren die Migrationskrise ausge-brochen ist, keine parlamentarische Grundsatzdebatte zu diesem alles beherrschenden Thema gegeben, das Land ist in Aufruhr versetzt und vielfach gespalten, aber das Parlament vermeidet jede elementare Diskussion da­rüber, es diskutiert über alles Sonstige, nur nicht über das, wo­rüber die Menschen im Land sich fetzen, es übergeht das gesamte Problem. Und die Zeitung, sie übergeht das Übergehen, es scheint ihr bis heute gar nicht aufgefallen zu sein: daß dieses wichtigste demokratische Gremium ein Sich-Austauschen letztlich nur simuliert hat; ich bin, wenn ich von Simulieren einer Demokratie rede, eben kein Verächter derselben, sondern ein Verteidiger, ein Dazugekommener bin ich, der schätzt, was hier theoretisch stattfinden soll, und der guckt, was dann tatsächlich geschieht. Und es ist leider nur eine Art Volkskammer gewesen, die mir in den vergangenen zwei Jahren vor Augen geführt worden ist. Und wenn ich nicht was übersehen habe, ist es in der Zeitung, die doch nicht ND heißt, nicht, und nicht, und wieder nicht kritisiert und debattiert worden. Und weil das so ist, weil sich viele Menschen nicht wahrgenommen fühlen von der Politik und von dieser Zeitung, und von jener, und von der da, und von der, werden sie sich in Zukunft woanders mehr und lauter Gehör verschaffen als bislang schon. Gehässiger werden sie ­werden. ­Radikaler, wie viele unerhörte Massen in der Historie. Blutdürstig vielleicht gar, so etwas ist dann eben die Folge, sagt kalt ein Teil von mir, ein Teil, von dem ich weiß, daß er schnell verschwände, wenn tatsächlich Gewalt ausbräche.
Zurück zu den Geschichten, die ich so naheliegend finde, und kurz mal weiter weg, auf die Krim: Ist es vor drei Jahren nicht so gewesen, daß sich 83 Prozent der Bewohner am Referendum zur Vereinigung ihrer Halbinsel mit Rußland beteiligt und daß 96 Prozent von denen gesagt haben, ja, Rußland, nicht Ukraine? Was liegt eigentlich näher, als dorthin zu fahren und sich mit möglichst vielen Leuten darüber zu unterhalten, wie ihr Alltag aussieht und was sich für sie verändert hat seit der Abstimmung und was sie denken über ihre damalige Entscheidung und über das Land, dem sie sich angeschlossen, und über das Land, aus dem sie sich verabschiedet haben; man bräuchte vielleicht zwei, drei Wochen für eine ordentliche Recherche, an deren Ende man hoffentlich ein tiefenscharfes Bild vom Innersten der Krim bekäme, ich würde fahren, wenn ich noch Reporter wäre. Nur nicht sofort. Vorher würde ich für drei, vier Tage nach Ramstein gehen; tönen die Politiker nicht immer, wir müssen Fluchtursachen bekämpfen, Fluchtursachen bekämpfen, und liegt beziehungsweise steht dort in Ramstein nicht eine Fluchtursache? Ist es nicht sogar die einzige, die wir hier ganz schnell beseitigen könnten? Diese Relaisstation, die die US-Amerikaner brauchen, um einen Drohnenkrieg in der arabischen Welt zu führen, wieso kümmert sich niemand darum, daß sie abgeschaltet wird? Oder kümmert sich wer? Oh ja, zuerst würde ich darüber schreiben, und dann darüber, und darüber, und darüber, die Themen liegen doch auf der Straße, goldene Zeiten für Reporter, das schreibe ich dem Chefredakteur, der einmal Stellvertretender Chefredakteur gewesen ist: Es sind goldene Zeiten für Reporter.
Ich schreibe es ihm in einem Brief, in dem ich ihm anbiete, wieder für die Zeitung Reportagen zu schreiben. In dem ich mich anbiete. Weil doch einer all diese auf der Hand liegenden Geschichten schreiben muß. Weil ich mir denke, das sind doch keine dummen Leute dort, die können doch nicht noch länger so einspurig fahren, die Zeit ist doch reif für Themen, wie ich sie im Kopf habe. Das denke ich wirklich. Zugleich mache ich mir nicht vor, mir nichts vorzumachen. Natürlich rede ich mir die Lage in der Zeitung schön, und das tue ich, weil ich den Stand meines Kontos und den Zustand meines Körpers und meines Geistes kenne. Ich bin in so ziemlich jeder Hinsicht ausgebrannt nach der langen Schreibzeit, ich kann nicht gleich das nächste große Buch schreiben, Dostojewski der Gott hat es fünfmal hintereinander geschafft, aber ich Sterblicher muß mich erholen und muß gleichzeitig Geld verdienen, denn mein Geld ist so alle, wie ich es bin, das ist die Wahrheit.
Das Nötigste verdienen und gleichzeitig wieder zu Kräften kommen, ich hatte schon verschiedene Ideen. Einmal bin ich hin zu einem Fahrer der Straßenbahn, die nicht weit von dem Wald, in dem ich wohne, durch die Landschaft fährt, denn ich konnte mir gut vorstellen, in seiner Kabine zu sitzen und durchs Grüne zu rauschen. Aber der Fahrer sagte, sie brauchten niemanden. Sie hätten gerade ein paar Studenten als Aushilfen angelernt. Bedröppelt zog ich ab. Während ich den Waldweg entlangging, war mir, als hörte ich vom Boden fremde Geräusche, das waren doch nicht meine Schritte, das war doch nicht ich, der hier so ging und der eben diesen Fahrer nach einem Job gefragt hatte; ich habe Urkunden zu Hause und einen schönen Literaturpreis, es mußte wer anderes sein, der jetzt hier so herumstapfte.
Naheliegend war es dann gewesen, jenen Brief zu schreiben. Einfach wieder das Vertraute machen, das mir immer leicht von der Hand gegangen war. Außerdem brauchten sie doch meine Reportagen, das war doch auch die Wahrheit, das war die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, ich wiederholte sie mir. Aber es nützte nichts. Ich hatte ja wohl nicht aus Jux und Tollerei gekündigt! Ich war und bin doch in Brast über diese Zeitung! Wie ich mich gerade an mir selber störe! Wie ich uneins mit mir bin! Das ist noch nie der Fall gewesen; selbst als ich im Trabi saß und nicht wußte, welche Redaktion ich ansteuern sollte, war ich mir meiner völlig sicher, letztlich bin ich immer meinem Bauchgefühl gefolgt, und es hat mich nie getrogen, nie. Und ist es eben nicht auch eindeutig gewesen, das Bauchgeühl? Laß, hat es gesagt, schreib diesen Brief nicht. Aber ich hab ihn geschrieben. Ich hab nicht weiter gewußt, und jetzt sitze ich hier im Wald und erhoffe mir Hilfe vom Chefredakteur, er müßte mir sagen, Sie sind wohl verrückt geworden, was sollen wir noch mit Ihnen, und was wollen Sie mit uns, tut mir leid, es gibt hier keine Verwendung mehr für Sie.
Aber der Chefredakteur weiß ja gar nichts von meiner stillen Raserei gegen die Zeitung. Er wird es nach meiner Abkehr von damals gewiß auch mit Befriedigung sehen, daß ich plötzlich wieder vor der Tür stehe; er verzichtet darauf, mir selbst zu antworten, und läßt seinen früheren Stellvertreter, der jetzt gleichfalls ein Chefredakteur ist, mit mir telefonieren. Man freue sich. Der Reportagechef sei schon informiert. Ich möge Themen mit ihm absprechen, und dann möge ich loslegen.
Wir treffen uns, wir plaudern. Der Reportagechef sagt, eigent­lich dürften ja nur fest Angestellte für die Reportageseite schreiben, aber bei mir mache man eine Ausnahme; achja, sage ich, ich erinnre mich, es gibt ja diese Regel, hatte ich gar nicht mehr dran gedacht. Es schmeichelt mir, daß sie sie meinetwegen brechen, es sind Worte, die ich gerade gut gebrauchen kann. Aber ich muß noch etwas klären mit ihm. Ich muß ausschließen, daß sich wiederholt, was damals geschehen ist, ich muß es bereden, es ist die Basis für einen Neustart. Stockend beginne ich. Damals, wissen Sie noch, die Reportage über die Neonazis, die zu Unrecht verurteilt wurden und die zum Teil nichtmal Neonazis gewesen sind, es ist halb eine Frage und halb eine Aussage. Was war da, fragt er, ich erinnere mich nicht so recht, dazu guckt er auch irritiert, tut er nur so? Glaub ich nicht. Ich glaube nicht, daß er spielt, obwohl er schon sehr elegant spielen kann, ich mag ihn, und wen ich mag, dem halte ich lieber was zugute, als daß ich ihm was unterschiebe. Nur stocke ich nun noch mehr. Für ihn liegt die Geschichte also fern. Was für mich dauerhafte Bedeutung hat, steht ihm allenfalls noch verschwommen vor Augen, hätte ich mir auch denken können. Ist ja schon sieben Jahre her. Sieben Jahre hat er täglich eine neue Seite produziert, hunderte Themen hat er ins Blatt gehoben – und da komme ich Anstrengender ihm mit dieser einen alten Geschichte! Ich hätte gar nicht damit anfangen sollen! Ich kann ihm doch nicht heute noch vorhalten, folgendes habe ich geschrieben, und auf folgendes haben Sie gedrungen, wir sind doch auf ganz verschiedenen Ebenen heute, das funktioniert doch nicht, mit jemandem reinen Tisch machen zu wollen, für den der Tisch rein ist, man nervt ja dann nur, man ist nichts als ein Quälgeist, so wird meine Rede immer stockender und leiser, ehe sie ganz versiegt.
Drei, vier Geschichten sprechen wir ab, dann blödeln wir noch etwas herum und verabschieden uns, und ein paar Minuten später verspüre ich eine Art Hohlheit, wie oft, nachdem viel geredet und kaum was gesagt wurde. Ich denke mir auch, der Tisch kann gar nicht rein gewesen sein für ihn. Wie viele Reporter werden ihm denn aufgrund schwerwiegender politisch-inhaltlicher Einflußnahme gesagt haben, schmeißen Sie meinen Text in die Mülltonne? Keiner sonst wird es getan haben, vermute ich, also muß er sich erinnert haben, er muß. Aber er wollte sich nicht mehr damit beschäftigen. Er wollte nichts aus seinem täglichen Getriebe in Frage gestellt sehen, er hat freundlich abgewartet, bis mir die Puste ausging, und dann haben wir beide ein bißchen gelärmt, und er ist gegangen, um die nächste Seite zu produ­zieren, und ich bin zurück in meinen Wald gefahren.
Die erste Geschichte ist Ramstein. Das muß sein, es drängt mich dorthin, weil vor gar nicht langer Zeit eine Reporterin oder Redakteurin, eine neue wahrscheinlich, denn ich kannte ihren Namen nicht, weil die in Ramstein gewesen war und eine ganze Seite darüber geschrieben hatte, daß die US-Amerikaner dort ein neues Krankenhaus bauen, das größte und schönste an all ihren Standorten auf der Welt, es war die reinste Huldigung, die Repor­tage der Frau las sich wie vom Pentagon in Auftrag gegeben. Da setzt du jetzt deine dagegen, sagte ich mir, ich hatte sie sowieso irgendwann schreiben wollen, und nun erst recht, nun die gleich mal als erste.
Sofort greifen die alten Recherchemechanismen. Ein Gesprächspartner führt mich zum nächsten, ich gelange sogar auf die Militärbasis. Jemand fährt mich herum und zeigt mir, wo sich die Einrichtungen befinden, die für den Drohnenkrieg wichtig sind, perfekt, nach einer ­Woche habe ich alles Material zusammen. Aber nun sitze ich hier, und die alten Schreibmechanismen scheinen außer Kraft. Ich sitze schon den fünften Tag und habe die Reportage immer noch nicht fertig, das kenne ich nicht, früher haben zwei Tage locker gereicht. Aber heute kaue ich nur so herum. Und gestern schon, und vorgestern, und vorvorgestern. Von der ersten Minute an. Weil ich eben nicht locker bin. Ich berste ja fast vor Absichten. Die amerikafolgsame Autorin will ich korrigieren. Mir selber will ich guttun; sicher, ich bin hier wieder angetreten, aber ich hab keine Schere im Kopf, sondern ich schreib, was ich schreiben muß, eigentlich will ich sogar, daß es nicht veröffentlicht wird, ich will mir zeigen, daß ich nicht eingeknickt bin, ständig denk ich beim Schreiben, ob sie das jetzt wohl bekritteln werden? oder das? ja sollen sie! sollen sie! ich weiß gar nicht mehr, was ich schreib, ich denk nur noch daran, welche Wirkung es hervorrufen könnte, selige Zeiten, als der Kopf frei gewesen war, als er einem leeren Blatt Papier geglichen hatte, jetzt ist er besetzt mit einer geradezu monströsen Motivation, der des Gegenhaltens, ein schwerer Stein im Hirn, und nur, um keine Schere drinzuhaben. Aber Stein schlägt nicht Schere, das Hirn funktioniert nicht mit diesem Gewicht, und ich muß den Text doch abgeben, er muß doch jetzt in die Redaktion, morgen soll er in der Zeitung stehen, guckt nur, wie krampfig er geworden ist.
Doris Koch ist Buchhändlerin. Seit 31 Jahren führt sie im Zentrum Ramsteins ihren Laden, und sie führt ihn gut, nach der Mittagspause warten schon Kunden, daß sie ihn aufschließt; den größten Zulauf aber hat sie unzweifelhaft an einem Samstag vor einem Jahr gehabt, da traten nämlich hunderte Demonstranten vor der Scheibe von einem Fuß auf den anderen, weil sie dringend mal mußten und nirgendwo Dixis bereitstanden. Doris Koch öffnete ihnen den Seiteneingang und lotste sie zu ihrem Klo. Beschwerte sich am Montag darauf bei der Gemeindeverwaltung. Bekam die Auskunft, wohl aus Kostengründen hätten die ­Organisatoren auf Toiletten verzichtet.
Sie erzählt es recht erzürnt und bestimmt fünf Minuten lang, dabei war die Frage gewesen, was sie von der jährlichen, für den 9. September wieder anberaumten Demo gegen die nahegelegene Air Base halte, auf der doch diese für den US-Drohnenkrieg unabdingbare Relaisstation stehe.
»Und inhaltlich so?« – »Na, wenn die Drohnen nicht von hier angefunkt würden, dann von woanders.« – »Vielleicht würde man, wenn man es hier verböte, auch woanders sagen, wollen wir lieber nicht?« – »Aber die Air Base ist doch so eine Art amerikanisches Hoheitsgebiet.« – »Nein.« – »Exterri­torial?« – »Schon deutsch. Nur verpachtet. Kündigungsfrist beträgt zwei Jahre.« – »Ach, das wußte ich gar nicht.«
Es steht im Aufenthaltsvertrag für ausländische Truppen auf deutschem Gebiet, aber wer stöbert schon in so einem Vertrag, man braucht entsprechende Hinweise. Und mehr noch braucht man Menschen, die Geheimnisse offenlegen oder auch nur Vermutungen erhärten, was Ramstein betrifft, ist Brandon Bryant, ein Ex-Drohnenpilot, der wichtigste. Per Knopfdruck hatte er, von einem fensterlosen gekühlten Container auf der Luftwaffenbasis Cannon in New Mexico aus, 13 Menschen erledigt. Seine gesamte Einheit kam bis zu seinem Ausscheiden auf 1626 »targeted killing operations«, gerechte Strafe für lauter Terroristen? Bryant hatte Blut zu spucken begonnen, war schließlich in dem Kabuff in Bewußtlosigkeit gefallen, nach Erlebnissen wie diesem: Die letzten zehn, neun, acht Sekunden einer Hinrichtungsaktion, aaaab jetzt! kann er die Flugbahn seiner Rakete nicht mehr ändern, da rennt ein Kind in den Zielbereich. Erschrocken wendet er sich an seinen für die Bilderfassung zuständigen Nebenmann, und der Nebenmann sagt, ist ein Hund. Komisch, schluckt Bryant, ein Hund mit zwei Beinen.
Der Tod, wie gesagt, wurde von New Mexico aus gelenkt. Der Soldat Bryant aber legte genauestens dar, warum er zuvor Ramstein passieren mußte und muß. Es ist schlicht wegen der Erdkrümmung, kein Steuerungssignal kann direkt von Amerika nach Arabien gelangen. Und so schickt der Pilot – oder was sich Pilot nennt – seine Befehle über Glasfaserkabel nach Deutschland, wo sie transformiert und zu dem Satelliten gesendet werden, der sie an die schon kreisende Drohne leitet, es dauert alles in allem keine anderthalb Sekunden.
Was sich Pilot nennt klingt arg despektierlich? Bitte sehr, entspricht dem Selbstverständnis innerhalb der US-Luftwaffe. Drohnenteams genießen dort die geringste Wertschätzung, auch das weiß man von Bryant. Echte Piloten sehen es als Strafe an, in solche Verbände versetzt zu werden, und oft ist es tatsächlich eine. Man sollte als Drohnenpilot bei der Arbeit besser keinen »Flight Suit« anziehen, wenn man nicht verlacht werden will. Ertönt aber gehässiges Lachen schon aus den eigenen Reihen, so lacht man in den Zielländern noch ganz anders. Man sieht in den Drohnen Zeichen einer nichtswürdigen Hinterhältigkeit, einer Furcht, von Angesicht zu Angesicht zu kämpfen. Man bindet sich, in demonstrativer ­Gegenbewegung, Bomben um den muskulösen Körper und sprengt sich und die erreichbare feindliche Welt in tausend Stücke. Und wie gehabt reden dann westliche Politiker und Journalisten jedesmal von feigem Attentat, dabei sind diese Männer alles, nur eben nicht feige.
»Verlogen« nennt der Strafrechtler Eberhard Kempf auf seine leise, ruhige Art solche Sprechblasen, aber zu ihm später, erst zu einem Mann mit etwas anderer Attitüde, der heißt Wolfgang Jung, ist fast 80, wohnt unweit von Ramstein in Kaiserslautern und redet und schreibt nahezu atem- und pausenlos, »morgens um sieben«, sagt seine Frau, »setzt er sich zum Arbeiten hin, und mittags muß ich ihn mehrmals rufen, daß er vielleicht mal zum Essen kommt«.
Jungs tägliches Werk ist der Newsletter »Luftpost«; wer etwas erfahren oder auch nur nachlesen will über die Drohnensache und die Air Base und das gesamte US-Militärgebiet um Kaiserslautern, findet es hier, bis hin zu Zahlen über Munitionslager – 1500 Bunker mit insgesamt 500000 Tonnen Aufnahmekapazität in Miesau und Weilerbach –, die man im ersten Moment geneigt ist, als geheim einzustufen. Aber das sind sie nicht. Es steht alles im Internet, eingespeist von den US-Militärs selbst. Jemand muß nur ausdauernd genug sein, es zu finden; wieso ist Jung das, weil er in seinem Alter sonst nichts zu schaffen hat?
Einst war er Lehrer, Lebenszeitbeamter. Aber er war auch Mitglied der DKP. Er sollte Berufsverbot kriegen, damals stand der Briefträger zitternd vor seiner Frau und barmte, während er ihr die schon aufgeschlitzten Briefe übergab, Sie wissen, daß nicht ich das war, Sie wissen es, ja?! Auch folgte ihm allerwege ein Polizeiauto, auch wurden Plakate gefälscht, um ihn der Teilnahme an zweifelhaften Veranstaltungen zu bezichtigen. Das stasimäßige Vorgehen mündete in einer vom Gericht ausgesprochenen 15prozentigen Gehaltskürzung für drei Jahre. Verfassungswidrig, wurde später entschieden, Jung erhielt das Geld zurück. »Aber aus dieser Zeit stammt bei mir eine andauernde Wut. Ich soll mich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gestellt haben? Ich? Unsere Regierenden brechen den Amtseid, den sie geschworen haben, und zwar jeden Tag, an dem hier dank ihrer Billigung diese Relaisstation arbeitet, mit deren Hilfe Unschuldige umgebracht werden.«
Jung spielt auf ein im Grundgesetz festgeschriebenes Verbot an: Deutschen Hoheitsträgern ist es untersagt, völkerrechtswidrige Handlungen oder Zustände auf oder über deutschem Hoheitsgebiet widerspruchslos zu dulden oder gar zu unterstützen. Und genauso deutlich, nur spezieller, heißt es im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien aus dem Jahre 2013: »Extralegale, völkerrechtswidrige Tötungen mit bewaffneten Drohnen lehnen wir kategorisch ab.«
Jenseits der Worte ließ man die Amerikaner einfach gewähren. Man fragte sie als Bundesregierung lieber nicht nach Einzelheiten, als sie 2011 die Errichtung ihrer Station ankündigten. 2013 dann enthüllte die SZ Substantielles über Ramsteins Rolle im Drohnenkrieg. Nervosität brach aus in Berlin, zumal gerade Obamas Besuch bei der Kanzlerin bevorstand, eine gefährlich gute Gelegenheit, ein paar Dinge mit ihm erörtern zu müssen. Und siehe, nur eine Verantwortliche, die damalige Staatssekretärin im ­Auswärtigen Amt, Emily Haber, drang in den ­Vorbesprechungen darauf, sich zusichern zu lassen, daß keine US-Stellen in Deutschland an gezielten Tötungen beteiligt seien. Sie wurde überstimmt. Wörtlich steht im entsprechenden Vermerk: »Bundeskanzleramt und Verteidigungsministerium plädieren hingegen dafür, Druck aus Parlament und Öffentlichkeit ›auszusitzen‹.«
Und das ist der Kern der Geschichte, sie handelt in Wahrheit von fehlender Souveränität im Staate. Nicht des Staates. Ein eigener Staat existiere überhaupt nicht, die BRD sei bloß ein elendes Anhängsel der USA, rufen ja die Reichsbürger, aber so weit sie seit dem Abschluß des Zwei-plus-Vier-Vertrages auch daneben liegen und so abstrus sie sich auch verhalten mögen, sie kriegen regelmäßig Bestätigung und neue Nahrung, von derart handzahmen Politikern.
Alexander Neu, der kein Reichsbürger, sondern Bundestagsabgeordneter der Linken ist, nennt diesen vorauseilenden Gehorsam seiner Kollegen, auch in ihrem Beisein, schon mal Vasallenverhalten. Dann schlägt ihm Empörung entgegen. Aber wenn es ihm immer wieder begegnet, das nämliche Verhalten? Er war auf der Air Base, mit dem Verteidigungsausschuß: »Da sitzt an einem großen runden Tisch der Oberkommandierende und erzählt uns, wozu die Drohnen gut sind, und zwar fürs Erkennen von Waldbränden. Circa acht bis zehn zivile Nutzungen führt er aus, und bloß Ströbele und ich sagen irgendwann, Tschuldigung, und fragen nach dem Militärischen, niemand sonst.« Und ähnlich bei der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und noch in diesem und jenem Think Tank, wo er manchmal zu Gast ist: »Dort gilt es als selbstverständlich, daß wir im Gefolge der Amerikaner weltweit intervenieren sollten, vor­geblich, um Menschenrechte zu befördern. Wenn ich dann einwende, es ist völkerrechtswidrig, es sorgt nur für failed states, stoße ich auf größtes Erstaunen. Ich kann an den Gesichtern ablesen, wie alle sich ­fragen, was, in Gottes Namen, will der denn jetzt.«
»Und weiter? Kriegen Sie Antworten?«
»Man wird ignoriert, oder man wird angegrinst. Man ist sehr allein in solchen Runden.«
Man macht sich, wenn man Alexander Neu ist und die komplette Übernahme und die selbstgewisse Weitergabe transatlantischen Denkens so hautnah erlebt, keine Illusion, die Relaisstation könne abgeschaltet werden. Die zuletzt gezündete regierungsamtliche Nebelkerze, geworfen vom Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, lautet, man habe die Zusicherung der Vereinigten Staaten, daß »Aktivitäten in Deutschland im Einklang mit geltendem Recht erfolgen«. Und außerdem sei es auch nicht statthaft, »generell von einem völkerrechtswidrigen Verhalten« zu sprechen, man könne das »nur auf den Einzelfall bezogen tun«.
Halt, ruft da aber Wolfgang Jung zwischen seinen »Luftpost«-Blättern. Er schaut durch die aus Berlin heranwehenden Schwaden und sagt eben nicht, so eine Einzelfallprüfung sei ja in der Praxis unmöglich, denn deutsche Spezialisten müßten jede Minute im streng geheimen Teil der Air Base, und auch noch in Creech in Nevada, von wo die Todessignale kommen, unmittelbar neben den Amerikanern sitzen und ihnen buchstäblich auf die Finger schauen, kann man vergessen, nein: Er nimmt diesen funktionierenden Gehilfen Roth wörtlich und sagt, dann mach doch mal, Bundesregierung! Nimm die Prüfung vor, die du selber ins Spiel gebracht hast! Und erklär uns auch gleich, wie du sie vornehmen willst, erklär es uns, wir hören!
Er sitzt da in seiner Stube, ein wacher Einzelkämpfer, ideell verbunden mit den Linken im Parlament, und ist auf einmal fuchsteufelswild – ihretwegen. Weil sie, anders als er, nicht erkennen oder nicht erkennen wollen, welche Vorlage dieser Staatssekretär ihnen da eigentlich mit seinen Antworten auf ihre kleine Anfrage im November 2016 geliefert hat. Weil sie seitdem keinen Versuch unternahmen, den Mann festzunageln. Weil sie, letztlich, lockerlassen.
Und doch gibt es, fernab von ihm und ihnen, jemanden, der sich einen Einzelfall gegriffen hat, jener schon erwähnte Eberhard Kempf. Genau genommen ist der Fall ihm von der Open Society Justice Foundation angeboten worden, das geschah, weil man einen besonders renommierten deutschen Strafrechtler wollte und er einer ist, unter anderem vertrat er den Banker Ackermann.
Sein jetziger Mandant ist der Sohn eines somalischen Kamelhirten. Der Körper des Alten wurde am 24. Februar 2012 vom Geschoß einer US-Drohne in Stücke zerrissen. Er hatte einfach Pech, der Hirte, denn er befand sich zufällig in der Nähe eines gewissen Mohamed Sakr, der Mitglied der Terrorgruppe al-Shabaab gewesen sein soll und bei dem Angriff auch massakriert wurde, nebenbei bemerkt: Das britische »Bureau of Investigativ Journalism« hat in monatelanger Arbeit die Zahl der zivilen US-Drohnenopfer nur in den Ländern Jemen und Pakistan nur für die Zeit von 2002 bis 2014 rekonstruiert, sie lautet 1147. Und jetzt die dort in jenen Jahren per Fernbedienung getöteten Terroristen: 41. Macht ein Verhältnis von 28:1.
Wichtig und exemplarisch für Eberhard Kempf war und ist, daß in Somalia im Februar 2012 kein bewaffneter Konflikt herrschte. Die Grenzen zwischen legal und illegal im Grunde also klar gezogen sind. Und nun zwei Rechtsauffassungen kollidieren, »unsere kontinentale, nach der es strafbar ist, einen völlig unschuldigen Hirten und selbst jemanden wie Sakr einfach umzunieten, und die us-amerikanische vom ›war on terrorism‹, einer Geburt nach 9/11, derzufolge alles erlaubt ist, was ansonsten nur als Notwehr zulässig wäre«.
Ramstein fällt in die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft Zweibrücken, darum stellten Kempf und seine Kollegen dort im September 2015 Strafanzeige gegen unbenannte US-Amerikaner und unbenannte Mitarbeiter sowohl des Bundeskanzleramtes als auch des Bundesverteidigungsministeriums. Zweibrücken wiederum schickte den Vorgang vorsichtshalber mal nach Karlsruhe, zwecks Prüfung, ob nicht vielleicht doch ein bewaffneter Konflikt vorgelegen haben könnte, dann wäre die Bundesanwaltschaft zuständig. Karlsruhe aber sah keine Veranlassung, den Hirtenjungenfall zu übernehmen. Und mehr noch, beziehungsweise noch weniger, Karlsruhe erklärte, überhaupt und prinzipiell keinen Tatverdacht erkennen zu können, Kempf referiert dies alles gedämpft, in warmem schwingendem Ton, der einen an Bruno Ganz erinnert.
»Klingt, naiv gesagt, wie ein Freibrief für Zweibrücken, alles abzuschmettern.«
»Es ist nicht naiv.« Im Mai 2017 schrieb ihm die Staatsanwaltschaft, man werde keine Ermittlungen aufnehmen, da man keine Anhaltspunkte dafür habe finden können, daß Mitarbeiter deutscher Regierungsstellen in das Geschehen auf der Air Base einbezogen gewesen wären; »landläufig gesprochen: es hatte ja niemand den Finger am Abzugshahn«.
»Aber wie will man Verantwortlichkeiten herausschälen? Erscheint furchtbar kompliziert.« – »Eigentlich ist es nicht so schwer. Es basiert auf hundsgewöhnlichem Strafrecht. Denken Sie vielleicht an Wachmänner vor einer Bank. Die Bank wird überfallen, die Wachen gucken zu oder drehen sich weg. Ein klarer Fall von Beihilfe.« – »Das vergleichen Sie?« – »Das vergleiche ich. Gerade ein bestimmtes Regierungshandeln muß der rechtlichen Prüfung standhalten, alles andere ist vordemokratisch.« – »Demzufolge machen Sie weiter?« – »Wir haben Beschwerde eingelegt.« – »Aber sorry, Sie werden damit auch kaum Erfolg haben, oder?«
Eberhard Kempf ist, logischerweise, klug genug herauszuhören, was da mitschwingt, Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz jedenfalls in diesem Fall, auf seine feine, jetzt Wort für Wort wägende Art antwortet er: »Die Frage ist vielleicht, inwieweit ich mich als Staatsanwaltschaft von festgefügten politischen Sichtweisen zu lösen bereit bin. Inwieweit ich mir vorstellen kann, daß sich deutsche Regierungsmitarbeiter in dem, was sie bisher taten, strafbar gemacht haben könnten. Wahrscheinlich muß da eine Riesenhemmschwelle überwunden werden.«
Das Stück endet, wo es begonnen hat, in Ramstein selbst. An den Toren der Air Base und vor dem Bürgerhaus demonstrierten am ersten Aktionswochenende vor zwei Jahren 1500 Leute. Im vorigen Jahr waren es 5000, die genügten nicht, wie beabsichtigt eine Menschenkette von Ramstein nach Kindsbach zu schließen. Mehr als 5000 mögen diesmal ­erscheinen, so hoffen und bangen die Organisatoren, doch auch wenn 10000 anträten, es wäre keine Größenordnung. Es gibt schon noch eine Friedensbewegung im Lande, aber ihr Einfluß ist gering, und das, sagt Alexander Neu, rühre daher, daß sie ziemlich überaltert sei.
Womöglich dachte er, im Guten, nur im Guten, an Konrad Schmidt. Der ist 69 und hat schon vor anderthalb Wochen angefangen, eine 800 Meter lange Wasserleitung zu der Wiese zu legen, auf der die von weither angereisten Demonstranten jetzt campen. Sein Bart ist weiß und langt ihm bis auf die Brust. Früher hat er Friedensradfahrten gemacht, von Paris bis nach Moskau, von Flensburg bis zur Zugspitze, teils mit Sohn im Kindersitz. Vorbei. Heute die Jugendlichen stehen eher weniger auf derartige Radeleien, sie wollen überraschen und überrascht werden, auch im Politischen, aber ist das wirklich ausschlaggebend, das weiterwurschtelnde Alte, das spaßtriefende Junge, die seit Menschengedenken ­übliche Kluft zwischen Generationen?
Mal ein paar scheinbar zusammenhanglose kurze Gedanken: Trump, Bösewicht, hat BILD und Times gesagt, die womöglich schlechteste Entscheidung in der Geschichte seines Landes sei der Angriff auf den Irak gewesen, er verglich es mit dem Werfen von Steinen ins Bienennest. Vielleicht übertrieben, schlechteste Entscheidung ever. Doch von der Tendenz her? Wahr. Ist nur fast nirgends thematisiert worden. Daß keiner seiner Vorgänger so Kritisches hat hören lassen. Speziell Powell schweigt. Er und seine berühmten Belege, und die Bundesregierung und ihr Vertrauen auf US-Zusicherungen, wie hieß sie gleich, die einen verheerenden Krieg früher auftrat? Nayirah, Prinzeßchen. Zeigte, wie irakische Soldaten kuwaitische Frühgeborene aus ihren Brutkästen genommen und zum Sterben auf kalten Boden gelegt haben sollen, herzzerreißend. Nayirah, Tochter des kuwaitischen Botschafters in Washington, gebrieft von der PR-Agentur Hill & Knowlton. Nicht zuvor. Nach ’91 kocht Terror hoch. Stürzen die Twin Tower. Bekommt Obama seinen Friedensnobelpreis. Läßt Obama zehnmal mehr Drohnen los als Bush. Setzen Flüchtlingsströme ein. Werden die hier Ankommenden mit Teddybären beworfen. Ist das Gewissen rein und das Satellitensignal unsichtbar. Wird Pascal Luig, Sprecher von »Stopp Ramstein«, ernsthaft gefragt, wieso Stopp, die Musik, die die machen, ist doch ­riesig.
Im übrigen sitzt Luig in Berlin. Alexander Neu sitzt in Köln, Eberhard Kempf in Frankfurt am Main, Konrad Schmidt in Kaiserslautern. Selbst von den einfachen Aktionsteilnehmern ist kaum jemand direkt aus Ramstein. Die meisten Einheimischen halten sich fern, und ihr Bürgermeister, Ralf Hechler, erklärt bezüglich der Demo für sie alle wie für sich selber: »Geht auch wieder rum – wie man hier in der West­pfalz sagt.«
Es ist eine strukturschwache Gegend. Es gibt kaum Städte. Die Jugend zieht weg. »Sehn Sie sich’s mal an«, sagt Hechler, »der letzte macht das Licht aus«, und er sagt es mit einer Mischung aus Schauder und Stolz, denn sein Ramstein ist ja die glückliche Ausnahme. Er hat im Jahr eine Gewerbesteuereinnahme von vier Millionen Euro, und er hat im Ortsverbund 70000 Hotelübernachtungen, von denen hängen nach seiner Kenntnis zwei Drittel mit der Air Base zusammen.
Wobei er nicht Air Base sagt, sondern, putzigerweise, Flugplatz. Er springt auch gleich zu seinem Computer, um mit Zahlen nachzuweisen, wie wenig Verkehr auf dem Platz herrscht: »Wir haben 4500 Flugbewegungen im Quartal, nur mal zum Vergleich, in Frankfurt am Main sind es, Moment: 1342. Und zwar am Tag.«
Der Vergleich ist natürlich ein nicht recht passender, im Grunde seines Herzens weiß er es selber. »Unsere Leute«, sagt er an anderer Stelle und schließt wiederum sich mit ein, »sind im Wohlstand aufgewachsen und dadurch sicher etwas unkritischer als andere«, unkritisch gegenüber den US-Militärs, die ihnen, durch ihre bloße Anwesenheit, den Wohlstand ermöglicht haben.
Und in welcher Dimension es geschah und geschieht: 17000 richtige Einwohner hat die Gemeinde Ramstein-Miesenbach, hinzu kommen 7000 Amerikaner, die außerhalb der Base wohnen, in von Einheimischen vermieteten Häusern. Weitere 2500 Wohneinheiten befinden sich innerhalb des Zauns, der um die Startbahn, die Hangars, die Relaisstation, das Ramstein Inn, die High School, die 80000 Quadratmeter große Shopping Mall gezogen ist, man fährt, wenn man einmal reingekommen ist, wie durch eine amerikanische Stadt, nur eben, daß dies hier zu erheb­lichen Teilen von deutschen Handwerkern erbaut und von deutschen Servicekräften bewirtschaftet und voll und ganz von deutschen Energie- und Wasserwerken versorgt wird.
Es ist das alte Lied, man beißt nicht die Hand, die einen füttert, und so reagiert der Bürgermeister auch gereizt, wenn Leute von außerhalb, aus völlig anderen Lebenszusammenhängen, ihm und den Seinen erklären wollen, sie sollten doch endlich auch mal mit am Zaun rütteln: »Wir sind hier keine Idioten. Wir sind keine Schulbuben. Man braucht uns nicht zu belehren, wie die Welt idealerweise funktionieren müßte.«
Fast schön, sein Geschimpfe. Wohltuend im Vergleich zum Lavieren in der Politik, daß im Ort niemand versucht, einem ein X für ein U vorzumachen. Oder daß der Ramsteiner, wenn er’s versucht, am Ende doch von seiner eigenen Ehrlichkeit überrumpelt wird. Beiläufige, faktisch unwichtige Frage an die Buchhändlerin Doris Koch: »Vermieten Sie eigentlich auch an die Amerikaner?« Wie aus der Pistole geschossene, fast empörte Antwort: »Nein!« Zwei oder drei Sekunden vergehen, in denen sich auf ihrem Gesicht eine Verwunderung, fast ein Schrecken darüber abzeichnet, was ihr gerade entfahren ist, und sie murmelt: »Wir haben noch unser Elternhaus. Die Eltern sind tot, und ihr Haus ist vermietet, doch, ja.«
Gut, der Text ist nicht ganz schlecht. Er ist nicht nur krampfig. Aber absichtsvoll ist er, nicht weniger absichtsvoll als die Krankenhaus-Reportage der Frau; aber lassen wir deren Geschichte, sie war ja nicht wesentlich, sie verlieh mir nur den letzten Schub, im Grunde trieb mich die Scham, daß ich mich wieder für diese Zeitung zur Verfügung gestellt hatte, fuhr die nicht grundsätzlich einen geradezu devoten transatlantischen Kurs? Ja. Na eben. Trump als Bösewicht, ansonsten stimmen die Werte dort drüben, was für eine Beschönigung, bloß nicht dieses Lied mitträllern, bloß nicht in diese Parole einstimmen.
Eine auf kölsch gesungene Liedzeile war mir beim mühsamen Schreiben durch den Kopf geschossen, plant mich bloß nicht bei euch ein; ein wiederkehrendes stummes Singen von nun an, plant mich bloß nicht bei euch ein. Und eine zweite Zeile, die sich auch noch einstellte, ich hab mit eurer Logik nichts am Hut, mehr hatte ich von dem Song in meinem ersten Leben nie verstanden. Ich hatte die Musik laut aufgedreht und die zwei halbwegs hochdeutschen Sätze mitgegrölt, das hatte mir ein prima Gefühl gegeben, eines von Widerständigkeit und gar Verwegenheit in Zeiten weitgehend braven Schreibens; danach waren die Zeilen mitsamt der Musik in die tiefsten Spalten des Gedächtnisses gesunken. Waren verschwunden gewesen. Und nun sind sie also hochgeschossen, nun lief diese bubihafte Selbstbeschwörung zum zweiten Mal, ihr kriegt mich nicht, singe ich voller Trotz immer nur in Zeiten, in denen sie mich doch haben, aber ja, sie haben mich, darum singe ich, sie hätten mich nicht, während ich es begreife, setzt erst das wahre Erschrecken ein.
Die diensthabende Reportageredakteurin ruft an. Sie hat den Text noch nicht gelesen, aber der Chefredakteur – der zweite, wie ich ihn bei mir nenne, weil er im Gegensatz zum ersten vor allem Administrator ist und nur selten Schreiber – sei schon durch mit dem Lesen und sei erbost zu ihr gestürmt und habe gesagt, so geht das nicht, das wird auf keinen Fall veröffentlicht. Ja, sage ich, und denke mir, ganz recht, im Grunde deines Herzens wolltest du es doch so. Außerdem entspricht der Text doch deinen eigenen Maßstäben nicht, du bist ja wohl unter deinem Niveau geblieben, allein schon, weil du nur die eine Seite gehört hast und die andere nicht. Aber während ich es denke, kriege ich einen Rappel. In der Zeitung wird doch so oft nur noch eine Seite gehört, und über die andere wird gerichtet, ich erinnere mich an eine lange Reportage über die Demonstrationen in Dresden, in der nicht ein einziger Demonstrant zu Wort gekommen war, nicht ein einziger, und das hat man gedruckt. Und meine Reportage jetzt fliegt raus; weil ich die Amerikaner, und nicht die Terroristen, als feige schildere? Weil Obama, anders als üblich, nicht als Friedenstaube daherkommt? Weil Flüchtlinge, ich habe ja der Einfachheit halber schon Flüchtlinge geschrieben, mit Teddybären beworfen werden? Weil da eine Linie aufscheint zwischen dem hier so gefeierten Präsidenten und ihnen und weil überhaupt die ganze Diktion eine unpassende ist? Ich weiß es nicht. Ich muß es auch nicht wissen. Ich muß einfach nur nachholen, was ich, ich selbst versäumt habe.
Dem Reportagechef, der mich anruft, sage ich, klar, Außen- und Verteidigungsministerium fehlen, interviewe ich noch, andere Stimmen, besorg ich noch, das ganze Ding hat Schlagseite, seh ich selber, die muß raus, ich weiß wie’s geht. Und das sage ich nicht nur. Ich weiß es wirklich. Ich habe so viele stimmige Reportagen geschrieben, daß ich diese hier doch wohl auch noch hinkriegen werde, das bin ich mir schuldig. Jetzt nicht aufzugeben. Das Dingens mit ein paar geübten Griffen ins Lot zu bringen.
Der zuständige Staatsminister im Auswärtigen Amt steht für ein Gespräch nicht zur Verfügung. Jemand anderes aus dem Hause? So frage ich die Pressestelle. Im Moment leider nicht, antwortet sie, aber wenn ich konkrete Fragen hätte, könne ich diese gerne schicken. Das tue ich, die ersten Fragen lauten:
Herr Roth erklärte vor einem Jahr auf die Anfrage der Linken im Parlament, die Bewertung von Drohneneinsätzen sei immer von den Umständen des Einzelfalls ­abhängig. Ist bislang von regierungsamtlicher deutscher Seite aus ein Einzelfall untersucht worden? Wenn ja, wie wurde die Prüfung vorgenommen, wenn nein, wie könnte eine Prüfung vorgenommen werden? Sie müßten – nach meinem Verständnis – geheime Dokumente des US-Militärs einsehen, bzw. mit Personal in Ramstein das Vorgehen des US-Militärs unmittelbar beobachten, halten Sie das für möglich? Streben Sie es an?
Und mehr konkrete Fragen. Auf die mir die Pressestelle Erklärungen aus der Bundespressekonferenz schickt. Das Material, schreibe ich zurück, sei mir bekannt und enthalte keinerlei Antwort auf meine Fragen, ich wüßte gern, ob ich mit einer substantiellen Antwort noch rechnen dürfe. Abermals Verweise auf Bundespressekonferenzen, eigentlich egal, was man fragt, sie sagen stets dasselbe, nichts. Vielleicht das Verteidigungsministerium? Oh ja, ich will korrekt sein, ich frage auch dort an, obwohl ich genau weiß, daß sie auch dort ausweichen werden. Und so ist es. Ein Oberstleutnant teilt mir mit, daß nach eingehender Prüfung vergleichbarer Anfragen regelmäßig das Auswärtige Amt geantwortet habe und eine Zuständigkeit des Verteidigungsministeriums nicht vorliege, falls ich ihn zitieren wolle, bitte namenlos, als ›ein Sprecher des Verteidigungsministeriums‹; sie haben also eingehend geprüft und herausgefunden, daß sie nicht zuständig sind, da kann ich mich nicht enthalten, ihm zu mailen:
Sehr geehrter Sprecher des Verteidigungsministeriums, ich danke Ihnen für Ihre ins Humoristische lappende Antwort, über die Sie selber hoffentlich so lächeln können wie ich.
Ende des Katz-und-Maus-Spiels, über dessen Bedeutung es keinen Zweifel gibt, denn beide Parteien haben ihren Austausch von Beginn an nie als etwas anderes betrachtet als eben das: ein Spiel. Ein Vortäuschen. Es wird betrieben, weil es zu den Regeln gehört, Reporter fragt gewissenhaft und hoffnungslos, Sprecher antworten gewandt und belanglos, Erkenntnisgewinn gleich null, war vorher klar gewesen, wie hatte ich das eigentlich früher gehandhabt, wenn ich, selten genug, mal mit einem ­Ministerium zu tun gehabt hatte?
Einmal mit dem für Verteidigung, ich recherchierte über Radarsoldaten aus Ost und West, über Männer, die im Kalten Krieg in der NVA und der Bundeswehr fast schutzlos und viel zu lange gefährlicher Strahlung ausgesetzt gewesen waren und danach an Krebs erkrankten und die, sofern sie nicht längst unter der Erde lagen, um Schadenersatz rangen und darum, daß sich ihr Ministerium überhaupt für sie verantwortlich erklärte, natürlich war es verantwortlich, aber es lavierte, es wimmelte ab, und ich stellte es bloß, auch indem ich jenes maschinenhafte Ausweichen der Subalternen mir gegenüber exakt beschrieb, das war ein bißchen garstig von mir, aber nicht im Ansatz so garstig, wie jene Genormten und ihre Vorgesetzten zu den Verstrahlten waren.
Und jetzt? Könnte ich den Mailwechsel mit den verwechselbaren Pressestellenangestellten in den Text einfließen lassen. Sie demaskierten sich doch auch wieder ganz allein, diese Leute, wenn ich sie nur ließ, wie nebenbei mußte alles geschehen, wie von selbst, doch wie soll sich was wie von selbst ergeben, wenn die Fragen und Anforderungen, die Sperren und Mutmaßungen im Kopf aneinanderstießen: Sollte die Reportage nicht ausgewogener werden? Aber die Mails verstärkten das Ein­seitige! Aber wenn sie mir nunmal vorlagen? Wenn der ebenso feste wie verschämte Wille der hiesigen Politiker und ihrer Apparate, die Amerikaner ja nicht zu behelligen, nun eben noch deutlicher zum Ausdruck kam? Aber schon die Ur-Reportage war zu gewollt! Aber eigentlich stimmt sie, je länger ich darüber nachdenke, umso mehr stimmt sie, was denn sonst, was weiß ich denn, was genau dem administrierenden Chefredakteur nicht gefallen hat an meiner Reportage, das weiß ich doch nicht, ich habe keine Ahnung, was ich jetzt streichen und was ich hinzufügen soll, ich schiebe das Thema das verdorbene erstmal beiseite und greife mir das nächste, ich beginne eine neue Recherche und treibe sie immer weiter, weiter als nötig ist, so vermeide ich Tag für Tag auch dieses Schreiben, früher hätte ich schon in die Tasten gehauen, jetzt wandere ich zu immer noch einem Interviewpartner, denn jeder könnte wichtig werden und mir vielleicht noch weiterhelfen, und sei es mit einem mir bislang unbekannten Detail, ist ja wohl auch ein Zeichen von Alter und Erfahrung, daß man, statt gleich draufloszuhämmern, sich lieber noch ein wenig umguckt, nicht.
So weit ist es also gekommen. Ich hatte nie Angst vorm Schreiben, und jetzt habe ich welche. Kann ich mir nur selbst ankreiden. Wie alt und erfahren, und wie dumm, ich tat doch alles sehenden Auges, es gibt für mich nunmal kein richtiges Schreiben im falschen Blatt.
Während ich auf dem Weg zum nächsten Interview bin, klingelt das Handy. Der zweite Chefredakteur ist dran. Ich möge alles bleibenlassen, erklärt er ohne Umschweife, möge auch keine neuen Themen vorschlagen, ich dürfe nicht mehr für die Zeitung arbeiten, aus juristischen Gründen. Was denn für juristische Gründe, frage ich perplex. Könne er mir nicht sagen. Und warum nicht? Könne er mir nicht sagen. Man wäre durchaus interessiert, daß ich weitermache, aber bis auf weiteres sei es nicht möglich. Und was bedeutet bis auf weiteres? Könne er auch nicht sagen. Und schon verabschiedet er sich. Das Ganze hat keine zwei Minuten gedauert. Wie bizarr, denke ich mir, das ist jetzt eben wirklich der bizarrste Anruf gewesen, den du in deinem beruflichen Leben bekommen hast.
So ziemlich der unhöflichste auch. Die Unhöflichkeit ist so stark, daß sie mich nicht im mindesten trifft. In der belebten Fußgängerzone, in der ich stehe, geht sie durch mich hindurch, und ich setze mich wieder in Bewegung, zu dem Café hin, in dem ich meine Gesprächspartnerin weiß, natürlich trete ich zu ihr und interviewe sie, denn erstens ist es eine alte Frau, der man nicht absagt, während sie schon wartet, und auch erstens bin ich ein geborener Preuße, ein protestantischer Heide, der seine Recherche zu Ende bringt, auch wenn sie zu nichts mehr nütze ist.
Später rätsele ich über die juristischen Gründe. Mir kommt der Oberstleutnant in den Sinn und wie ich ihn verhohnepipelt habe von meiner einzigen, meiner privaten Mailadresse aus und doch im Namen der Zeitung der ehrenwerten, vielleicht hat er angerufen in der Zentrale? Vielleicht hat er wissen wollen, ob das wirklich ein Mitarbeiter ist, der ihm so geschrieben hat? Und da könnten sie in der Zentrale gesagt haben, iwo, kein richtiger, und mich aus dem Verkehr – ach was! Schmarrn! Verschwörungstheorie! Es muß sich ganz anders verhalten, und wie es sich verhält, kann ich schlicht nicht durchschauen. Muß ich auch nicht. Ist letztlich egal. So seltsam der Vorgang sein mag, er kommt mir zupaß. Ich bin wieder draußen. Ich habe nichts veröffentlicht. Mein Name ist nicht wieder aufgetaucht in der Zeitung. Laßt mich froh und munter sein.