2019
Eine Vermutung war mir Silvester aber doch durch den Kopf geschwirrt, ein Erinnerungsfetzen eigentlich nur, Kosovo ’99, der Versuch der Einflußnahme auf den Abdruck von Leserbriefen, ist das vielleicht der Anfang gewesen? Oder, umfassender formuliert, spiegelt sich darin der Anfang? Es interessiert mich, es herauszufinden. Es ist auch ein spätes Nachholen. Ich will die Briefe, um die ich mich vor 20 Jahren nicht geschert habe, jetzt lesen, ich will wissen, was an mir vorbeigerauscht ist, nein, woran ich in meiner Herrlichkeit vorbeigeschwebt bin, ich gehe in die Bibliothek und bestelle mir die Mikrofilme mit den Zeitungsausgaben der damaligen Zeit. Wie altertümlich: diese Filmrollen, die man über die Lichtquelle ziehen und in den Schlitz einer jeweils leeren Rolle stecken muß; dieses klobige Gerät mit Knöpfen zum Vor- und Zurückspulen, das mich an den Modelleisenbahntrafo meiner Kindheit erinnert, dieses Notizbuch, in dem ich eine Tabelle angelegt habe, mit einer Spalte für die Leserbriefe pro Kriegsbeteiligung der Deutschen und einer für die Briefe dagegen, für jeden Tag, an dem die NATO Serbien bombardiert hat, will ich die Zahlen eintragen. Ist eine Fleißarbeit nur. Ist eine, die ich auch in einfach strukturierten Kinderzeiten verrichtet haben könnte. Sei’s drum, sie führt zu Ergebnissen, das Resultat für die erste Leserbriefseite lautet, neun Abdrucke von Neunen sind kritischen Inhalts. Die zweite Seite dann: vier pro, fünf kontra, und Numero drei: zwei pro, acht kontra. Und so in etwa bleibt das Verhältnis; als es mir klar wird, spule ich, des rein Mechanischen meines Strichemachens nun doch schon überdrüssig, zügig vor, die zwei Monate, die es gewesen sind bis zum Ende des Bombardements, hat sich da vielleicht was geändert? Hat es nicht. Die kritischen Briefe überwiegen bei weitem. Demnach ist die Einflußnahme des Außenpolitikchefs ohne sichtbaren Erfolg geblieben. Ist meine Vermutung falsch gewesen. War die Zeitung noch nicht von sich abgekommen. Habe ich Grund, mich zu freuen, denn damals war ja ich es gewesen, der mit Stolz und Feuereifer dort gearbeitet hat, und das war nicht falsch. Das war schon recht. Welch nachträgliche Bestätigung, sich jetzt diese vielen abgedruckten widerspenstigen Leserbriefe zu Gemüte zu führen!
Aber die Freude wird überlagert von Beklemmung. Natürlich lese ich auch die Kosovo-Berichterstattung, auf die jene Briefe Bezug nehmen, warum sind sie denn so widerspenstig und teilweise gar wütend? Weil die Berichte, jedenfalls im Politikteil, so treu auf Linie der NATO sind. Im Feuilleton verhält sich’s ein wenig anders, da finden sich, zuweilen, auch nachdenkliche Stimmen, aber im Politikteil dominieren jeden Tag auf erschreckende Weise die Bellizisten, der noch warnende Innenpolitikchef steht allein, denn der Außenpolitikchef gibt die Marschrichtung vor, nach Belgrad, nach Belgrad, und alle Jungs folgen, oder er muß nichts vorgeben, und sie marschieren von selbst, ich weiß nicht, ich sehe nur, in der Zeitung im entscheidenden Politikteil schreibt mir eine fast geschlossene Formation entgegen, eine, die die Pazifisten auf der Straße und im Parlament buchstäblich verhöhnt, dabei war es doch ein Krieg ohne UN-Mandat, ein krimineller staatlicher Akt. Der erste Angriffskrieg eines Landes, dessen Bürger ich war oder bin. Mein altes Land hat so etwas nie getan. So ein Aggressor ist es nicht gewesen. Jetzt erst, beim Lesen der Berichte, wird mir dieser elende Rückschritt voll und ganz bewußt: daß ich heute in einem Staat lebe, der es gewagt hat, einen anderen Staat völkerrechtswidrig zu bombardieren.
Meine Zeitung hat jene Aggression bis auf Ausnahmen gutgeheißen, nicht ohne Stolz sogar: Die Luftwaffenoffiziere in den deutschen Kampfflugzeugen, schreibt ein Leitartikler, seien die ersten Soldaten in der deutschen Geschichte, die mit demokratischer Legitimation in den Krieg geschickt würden. Fast feierlich klingt das. Der Leitartikler, der also erklärt, daß Demokratien in Selbstermächtigung Kriege führen dürfen, weil es Demokratien sind, ist der jetzige Chefredakteur, und ich, der ich in der Bibliothek sitze, möchte den Leserbriefschreiber umarmen, der ihm erwidert, nach dieser Logik sind die amerikanischen Bomben in Hiroshima und Nagasaki demokratische Bomben und die französischen Massaker in Algerien demokratische Massaker gewesen.
Aber unsere humanistischen Gründe, rufen die kriegsführenden Demokraten, aber Milosevic der Schlächter! Ja der, sage ich – und andere in anderen Ländern, ­warum bleiben sie unbehelligt? Rhetorische Frage. Weil ein Schlächter nicht selten auch ein Günstling ist und es unklug und geradezu überflüssig wäre, in sein Territorium, über das man de facto schon verfügt, einzufallen; Milosevic war kein Günstling, Serbien war nicht verfügbar, aber der Kosovo ist es nach der herbeigebombten Abspaltung von Serbien geworden, heute befindet sich dort die größte US-Militärbasis auf dem Balkan; und da ich gerade bei der Verfügbarkeit bin, der damalige Außenpolitikchef der Zeitung war Dozent an Unis der Amerikaner und Autor in deren Blättern und Mitglied in deren Think Tanks, und sein Nachfolger ist ebensolch ein Mitglied – aber genug davon. Diese geostrategischen Interessen und persönlichen Verflechtungen sind ja schon hinlänglich beschrieben. Ich schreib weiter über den Journalismus, indem ich immer weiter nur über mich schreib.
Einmal fährt mir beim langsamen Vorspulen des Mikrofilms eine regelrechte Hitzewelle durch den Körper, das ist, als mir im Rahmen der Kriegsberichterstattung mein Name begegnet. Was habe ich geschrieben damals? Worüber? Wo bin ich gewesen? Ah, Klosterlechfeld, richtig, ich erinnre mich, ich war dort, wo die deutschen Tornado-Piloten beheimatet waren. Mir fällt auch gleich ein, daß die Reportageressortsekretärin mit war, aus Interesse und weil wir uns schätzten, seltsam, was für Petitessen das Hirn sofort parat hat. Die Hauptsache dagegen ist verschüttet, also nochmal, was habe ich geschrieben? Hoffentlich nicht auch sowas Angriffskriegsgefälliges, Gott Gütiger, bitte laß mich nicht sowas geschrieben haben! Mir ist immer noch heiß. Aber langsam läßt das nach. Es scheint mir in Ordnung zu sein, das Stück, es handelt davon, wie man in dem Ort, der mehr mit dem Krieg zu tun hat als jeder andere Ort in Deutschland, ganz wenig damit zu tun haben will, ja, es geht schon, was da steht, es ist mein Abbild der Wirklichkeit, der Leser kann draufgucken und sich selber was denken, ­Entwarnung, nichts ist passiert.
Und doch, wie blicklos ich vor 20 Jahren gewesen bin! Wie sehr mit meinen Reportagen beschäftigt. Keine Tendenz im Blatt, die mir bemerkbar gewesen wäre, weil ich so genau das Blatt gar nicht gelesen habe in meiner ­Seligkeit, in ihm alles, alles schreiben zu können.
Inzwischen ist das Abo in Kraft, und was sehe ich auf der Sportseite, die ich aus Neugier und Sentimentalität immer zuerst aufschlage? Eine Huldigung meines alten Chefs, er wird 80, tatsächlich, 80 schon. Unter anderem lese ich, er sei ein toleranter und wissender Chef gewesen, das stimmt so sehr, daß es heute fast schmerzt. Ich schreibe ihm auf eine Glückwunschkarte, die Zeit bei ihm sei schön gewesen, wie schön, merkte ich so richtig erst jetzt im Rückblick. Später, nach seinem ausführlichen brieflichen Dank, berichte ich ihm, wie es ist, wenn ich irgendwo zum Essen eingeladen bin und die Gastgeber sich jede Mühe geben mit ihrem Essen und es auch wunderbar schmeckt, dann brumme ich nämlich inmitten des allgemeinen Lobpreisens nur, ist eßbar; eine Abwandlung, Chef, Sie haben höchstens gesagt, ist druckbar, das war Ihre größte Anerkennung, das hat sich mir eingebrannt.
Die Zeit ist schön gewesen: Er kann gar nicht wissen, wie ich das meine und wie wehmütig mich das stimmt; ausnahmsweise mal ein großes, von mir so gut wie nie verwendetes Wort, Liebe, denn natürlich, der Mensch verachtet nur, wen oder was er geliebt hat, andere und anderes läßt ihn kalt, ich ertappe mich dabei, ein ­verdammter Weiterliebender zu sein, ein Ausgelieferter, ein Arm­seliger, der nicht anders kann, als dem Ver­gangenen, dem Durchschauten immer noch nach­zuhängen.
Könnte es nicht sogar geschehen, daß die Chefredaktion anruft und sagt, schreiben Sie jetzt weiter bitte, wir bitten Sie sehr, diese juristische Sache, die wir damals leider nicht hatten vor Ihnen ausbreiten können, ist beendet? Oh ja, theoretisch könnte jede Minute das Telefon klingeln, was mache ich dann? Werde ich dann nochmal weich? Das wäre ja noch schöner, nein, die Sentimentalität ist das eine, und die Realität ist das andere, ich tauge schon lange nicht mehr für die Arbeit bei Ihnen, würde ich sagen, genau diesen einen Satz, ich habe ihn mir zurechtgelegt, er ist so wahr, wie es ein Satz nur sein kann.
Ich Taugenichts wüte ja regelrecht, während ich den oder den Artikel in der Zeitung lese! Dieses Kennenlernabo ist wirklich Gold wert; wir haben den 25. Januar heute, das erste und letzte Datum, welches ich in meinem Buch nenne, denn das hat der Text verdient, der mich tat­sächlich mit der Faust auf den Tisch hauen läßt, er soll extra hervorgehoben sein, dieser eine Text vom 25. Januar, es ist ein Kommentar zum 75. Jahrestag der Befreiung Leningrads von der Blockade der Wehrmacht. Vom Ende eines gezielten barbarischen Aushungerns, eines Völkermords, es steht durchaus drin in dem Stück, daß es ein von den Deutschen begangener Massenmord war. Aber zugleich steht da, die Stadtbehörden Leningrads müßten sich fragen lassen, weshalb sie so wenig für ihre Bürger getan hätten. Und es steht da was von einer Filmsatire, deren Regisseur keine Chance gesehen habe, sie in die Kinos zu bringen, weil sie zeige, wie eine Familie während der Blockade Silvester feiere, es sei ihr gut ­gegangen, sie habe auf Kosten anderer gelebt, die Kritik des Regisseurs reiche bis in die Gegenwart.
Eine Nachfahrin derer, die jenen Massenmord begangen und dafür gesorgt haben, daß unter den Eingekesselten alle menschlichen Eigenschaften im Extrem hervorbrachen, Großmütigkeit und Ergebenheit, Gewalttätigkeit und Zärtlichkeit, Aufopferungswille und Verzweiflung, eine Nachfahrin derer, die nicht verhindern konnten, daß in einer Stadt voller Leichen immer noch Konzerte gespielt wurden, eine Nachfahrin derer, die es darauf anlegten, daß Leningrader dem Kannibalismus verfielen, diese Nachfahrin wagt es, die damaligen Stadtbehörden zu fragen, wieso sie so wenig für ihre Bürger getan hätten, das ist so, so –
Ich will etwas erzählen, aus dem Rußland der Jahrtausendwende. Ich war auf Taimyr, der Halbinsel im Norden, weil dort das erste vollständig erhaltene Mammut der Menschheitsneuzeit gefunden worden sein sollte, irre Geschichte mit einem französischen Abenteurer als Protagonisten, die jetzt aber nichts zur Sache tut. Zurück flog ich über Norilsk, wo Nickel abgebaut wird und die Luft einen wie ein Fangeisen umschließt, schwer und metallisch. Was jetzt gleichfalls unwichtig ist. Mit mir reisten eine Reporterin eines russischen Fernsehsenders, eine kleine energische Frau, die auch auf der Spur des Mammuts gewesen war, und ihr Kameramann, wir strandeten dort in der beschwertesten Stadt der Menschheit auf dem Flughafen, es tobte ein Schneesturm, der meterhohe Verwehungen brachte, ganz klar, über Tage würde es kein Fortkommen geben. Hunderte Menschen campierten schon im Empfangsgebäude. Wir hockten uns dazu, betteten uns auf unsere Outdoorjacken, redeten, guckten, lasen. Irgendwann bekamen wir Hunger. Aber nichts zu essen aufzutreiben. Kein Kiosk, kein Schalter geöffnet. Bei den Menschen, die schon länger hier ausharrten als wir, machte sich langsam Unmut breit, die Kollegin nahm ihr Mikro und interviewte sie. Und die Nacht verging, und am Morgen war immer noch alles zu, sämtliche private Vorräte waren aufgebraucht, und niemand vom Flughafen ließ sich blicken, es war, als hätte der Schneesturm alle Angestellten verschluckt. Die wunderbare Kollegin klopfte an Türen, telefonierte mit der Stadt oder dem Kreml oder was weiß ich mit wem, gabelte schließlich den Flughafenleiter auf und stellte ihn, mit angeschaltetem Mikro, zur Rede. Ich verstand nicht viel, nur, daß er herumlavierte und sie und uns alle vertröstete. Aber zwei Stunden später kam er unaufgefordert wieder. Fast verstohlen winkte er uns drei, und nur uns drei, herbei. Geschwind öffnete er eine unscheinbare Holztür. Wir folgten ihm durch einen verwinkelten, von Leitungen und Rohren durchzogenen, schummrig beleuchteten Gang und standen vor einer weiteren Tür, einer schwereren, stählernen. Sie wurde von innen geöffnet. Uns bot sich ein Bild, das ich noch heute wie geträumt empfinde, so surreal war es, so märchenhaft. In einem mit gediegenen Tapeten drapierten Raum stand eine weißgedeckte Tafel mit goldenem Besteck, wirklich, es war golden. Und goldumrandet Teller und Trinkbecher. Auf dem Tisch türmten sich Kaviar, Lachs und Fleisch. Aus Eiskühlern ragten Schampanskojeflaschen. Halt drauf, wies die Reporterin ihren Kameramann an, nicht doch, rief der Natschalnik, vergebens, alles wurde gefilmt, und am Ende auch er, samt seiner Verblüffung, daß wir nicht Platz nahmen, sie schenkte ihm absolut nichts, sie streckte ihm nochmal das Mikro entgegen und boxte ihn mit Fragen, dann verließen wir das wie aus einem Palast ausgelagerte Zimmer und marschierten dorthin zurück, wo das Volk auf blankem kalten Stein verharrte.
So ist es, Rußland. Und es ist nicht besser geworden seither. Der Sender, für den die Anbetungswürdige gearbeitet hat, war damals noch ein unabhängiger und ist jetzt auch längst ein vom Staat gesteuerter, wer oft genug dort war und die Augen offen gehabt hat, weiß Bescheid über all das.
Kurz noch eine Geschichte von dort, eine weniger spektakuläre von ganz früher, als ich noch Sportmann und das Land noch die Sowjetunion war: Ich wollte ein Interview vom als diktatorisch und abweisend geltenden Eishockey-Nationaltrainer, ich fuhr mit der Dolmetscherin raus zur Armeesporthalle. Und er verhielt sich so unangenehm wie befürchtet, er würdigte uns, während wir uns vorstellten, keines Blickes und brachte, in Richtung der Eisfläche, nur heraus, wir sollten warten, vielleicht nach dem Training. Dann sahen wir zwei Stunden zu, wie er all seine großen Spieler, diese Künstler, diese Zauberer traktierte, sie zurückpfiff, anblaffte, und diese Weltstars, die jede andere Mannschaft schwindlig spielten, hörten es sich mit gesenktem Kopf an und wiederholten, wiederholten, wiederholten, fasziniert beobachtete ich, wie ein Spielzug entstand, wie der Spielzug buchstäblich zum Handwerk wurde, wie die einzelnen Reihen ihn schon halbwegs geschliffen aufs Eis brachten, nur mein Interview bekam ich nicht. Der Mann pfiff das Training ab und ging an uns vorbei, als wären wir nicht anwesend. Wir ihm nach: Hallo, was ist mit dem Interview? Vielleicht morgen, beschied er, ohne den Kopf zu wenden. Und stapfte weiter.
Am nächsten Tag stellten wir uns, in einigem Abstand zu ihm, an die Bande und nickten ihm zu. Er nickte zurück, immerhin. Es dauerte wieder so lange, und es wurden wieder dieselben Abläufe geübt. Danach trat er zu uns, gab mir die Hand und sagte, nun habe er Zeit, ich solle beginnen. Wir redeten eine Stunde, oder anderthalb, ich war zu gefesselt von dem Gespräch, um auf die Uhr zu gucken, er beantwortete mir jede Frage, bis mir keine mehr einfiel. Verabschieden tat er sich erkennbar mit Respekt, und ich begriff, daß er mich hatte testen wollen die zwei mal zwei Stunden. Ob es mich wirklich interessierte, was hier in der Halle geschah. Ob ich wirklich zu erspüren gewillt war, wie diese Zauberei entstand, die alle Welt dann im Fernsehen bewundern durfte.
So ist es, Rußland. Nicht auf einen Nenner zu bringen. Aber es wird hier nur noch auf einen Nenner gebracht. Jeden Winter höre ich im Fernsehen, wie streng und unbarmherzig es im sowjetischen Eishockey zugegangen sei, dort auf dem Armeesportgelände, das kein Besucher habe betreten dürfen, dann murmele ich, ich war da, ich konnte rein und raus, wie jeder, der es einfach mal versucht hätte, aber das wißt ihr jetzigen Berichterstatter nicht, aber vielleicht wißt ihr, wie asiatische oder amerikanische oder meinetwegen auf dem Mond beheimatete Pianisten üben, genauso, sie werden traktiert und traktieren sich selber, die Produktion großer Kunst hat nunmal was Unbarmherziges, aber nur in den Berichten über diese Eishockeyspieler dort aus Moskau wird es so in den Vordergrund gerückt und noch mit Unwahrheiten verstärkt, die längst niemand mehr in Frage stellt, fest verankert sind sie mittlerweile, den Status einer Wahrheit haben sie erlangt.
Mein altes Blatt kommt, was Rußland betrifft, seit Jahren ohne Differenzierungen aus. Es ist zum Platz der Einseitigkeit geworden, zur Grube, in die alle Zusammenhänge und Hintergründe fallen, die Verständnis fürs russische Handeln wecken oder befördern könnten, nur ein ­Beispiel, ein kleines nur: Der russische Präsident, wie er als Alleinherrscher tituliert wird und als Zar, wie es immer heißt, sein Reich, als gäb’s in der deutschen Politik keine Richtlinienkompetenz, als wär’s nicht die Kanzlerin gewesen, die 2015 wie eine Zarin gehandelt hat; und wie er verspottet und bekrittelt wird, wenn er sich mal wieder irgendwo mit nackter muskulöser Brust gezeigt hat, der hat’s nötig, wird dann in der Zeitung und überhaupt im Westen gerufen, der muß wohl unbedingt auch auf die Art noch seine Macht demonstrieren. Ja, zum Teufel, es erscheint ihm sinnvoll, denn auf wen folgte er? Auf einen dicklichen, schwächlichen, trunkenen, torkelnden Präsidenten, dem die Oligarchen auf der Nase herumtanzten und die westlichen Politiker auch, die meisten Russen schämten sich, daß so einer ihnen vorstand. So ein Tatternder, der die Reichtümer des Landes verscherbelte. Jeder Nachfolger hätte sich grundlegend und dauerhaft von dem unterscheiden, hätte sich auf die eine oder andere Art auch körperlich stark zeigen müssen, jeder; man muß die jetzige Präsidentenpose nicht mögen, ich mag sie auch nicht, mir ist sie auch fremd, aber man könnte, wenn man wollte, vielleicht einmal nach ein paar triftigen und nicht gleich lächerlichen oder bösartigen Gründen gucken, ­warum der Mann sie von Zeit zu Zeit aufführt.
Die Nachfahrin hat mit ihrem Zynismus alles getoppt. Lies mal Granin, wüte ich am Küchentisch, lies seine Berichte von Überlebenden, damit du ein Gefühl für Scham bekommst, so schamlos, wie du geschrieben hast, so verlogen, ich kann noch lesen, auch zwischen den Zeilen, das hab ich nämlich gelernt, da bin ich auf ewig perfekt, der Regisseur hat keine Kino-Chance für seinen Film gesehen? Da ist’s ja wohl erstmal so, daß der ihm nicht verboten worden ist. Aber irgendwie doch, oder? Doch doch, denn der Regisseur hat keine Chance gesehen, keine Chance, auf die Art formuliert man, wenn man Repression durchschimmern lassen will, ohne sie belegen zu können. Und selbst wenn es ein Verbot gegeben hätte, selbst wenn – dann wäre das flinke Aneinanderfügen, das wie geölte Zusammenschieben eines von den eigenen Leuten begangenen Genozids und eines also nur auf Youtube laufenden Films genauso verwerflich. Abstoßend. Widerlich, die ganze Zeitung, in der das steht, die ganze mit ihren vielen tollen Texten, die da auch drin sind, sicher sind die drin. Nur nützen sie nichts mehr.
Ich bin noch nicht fertig. Ich bin im Juni mittlerweile, da ist noch ein Jubiläum, das der Landung der Alliierten in der Normandie, und was schreibt die Zeitung? Der Tag der Invasion markiert den Anfang vom Ende der Nazityrannei, von Terror, Vernichtungskrieg und Holocaust. Das war jetzt wörtlich zitiert. Ich will wörtlich wiedergeben, wie diese Zeitung, und sie steht ja für alle anderen großen Blätter unseres als vielfältig geltenden Landes, die Geschichte verfälscht. Wie sie peinliche Propaganda betreibt. Gab es nicht die Schlacht um Stalingrad? War die nicht der Anfang vom Ende? Verloren die Deutschen schon ab 1941 an der Ostfront nicht pro Tag 3000 Mann? Und verloren die Völker der Sowjetunion nicht 27 Millionen Menschen, trugen sie nicht mit Abstand die Hauptlast des Krieges? Kein Wort davon in jenem Kommentar. Übrigens auch keine Einladung der Russen zu den Feierlichkeiten in Frankreich. Und keine Erwähnung dieses Ausschließens in der Zeitung. So wird Historie buchstäblich umgeschrieben. Bald werden die jungen westlichen Leute, die so agitiert werden, nicht mehr wissen, wer in erster Linie ihre Vorfahren befreit hat und unter welch schrecklichen Verlusten das geschah.
Die westlichen Leute. So distanziert schreibe ich jetzt, obwohl ich seit drei Jahrzehnten im Westen lebe. Vorher habe ich drei Jahrzehnte in einem anderen Block gelebt; dieser Block war zerbrochen, obwohl er, laut Parole, auf ewig fest sein sollte, es lebe der unzerstörbare Bruderbund der sozialistischen Staaten, er lebe hoch! Welch Hilfe für heute, jenes lange Vorher, ich rieche jede neue Propaganda, von wo sie mich auch anweht, und springe beiseite; sollen sie nur schreiben, die USA sind unser verläßlicher Freund und Partner und werden es bleiben, sollen sie’s ruhig weiter tun, ich lächle über solche inbrünstig und tiefgläubig oder auch nur beschwörend ausgestoßenen Sätze, denn ich weiß es besser. Sie wissen es eigentlich auch. Gemeinschaften, Bünde entstehen und vergehen, jeder weiß es theoretisch, aber ich habe es praktisch erfahren, und als praktisch Erfahrener halte ich es jederzeit wieder für möglich, natürlich, auch das transatlantische Bündnis wird vergehen, irgendwann, so wie eines Tages, vielleicht sogar schneller als gedacht, das gesamte westliche Imperium ein verlorenes sein wird, weder warte ich darauf, noch plagt mich die Angst davor, ich bin jetzt wirklich in der größtmöglichen Freiheit, in der, erstmals von außen in den Raum blicken zu können, in dem ich lebe.
Erstmals? Aber ja. Es war doch hier zu lesen. Ich hab’s doch geschrieben. Ich hab wunderbaren Erfolg gehabt im Journalismus, und von dem Erfolg bin ich berauscht gewesen, mein Konsumgut, wenn man so will, glänzende Augen hat es mir gemacht. Vorbei. Der Punkt ist, in der Zeitung, in meiner alten und in jeder anderen großen, wird das System, das Bündnis, der politische Block von innen beschrieben, mit tiefer Vertrautheit und großer Selbstverständlichkeit, von innen schreiben heißt, bei aller Kritik doch auf den überlieferten grundlegenden Positionen des Westens zu bleiben und dessen Erzählungen weiterzuführen. Was denn auch auch sonst. Die Zeitung ist sein Kind. Ist sein fortwährendes Produkt. Ist seine letztlich sorgsame Stimme. Die ich nicht sein kann. Ich bin getrennt von ihr, weil ich nicht gebunden bin an ihn, weder durch Geburt und Erziehung noch durch Gehorsam, nicht einmal durch Gewöhnung, jetzt gerade, im Schreiben, begreife ich, wie groß die Distanz in Wahrheit ist.
Anpassungsleistung, das Wort fällt mir ein. Es ist wie ein generöses Übers-Haar-Streichen, alle Achtung, ihr Ostler, habt ihr fein gemacht, habt ihr prima durchgestanden, diese vielen Transformationen da bei euch; fast schon lustig finde ich das, war Anpassung nicht mal sowas wie ein Schimpfwort? Hat man sich im Westen nicht mal gewundert, wie die Brüder und Schwestern im Osten so lange so angepaßt hatten leben können? Und nun soll es plötzlich eine Leistung sein? Warum sollte ich sie erbringen? Um nicht zu stören? Um auch mal das Kopffell gekrault zu bekommen? Anpassungsleistung, gottogott.
Ich bin im Juni, ich habe jetzt ein halbes Jahr die Zeitung gelesen und bin ihr gegenüber darum immer gleichgültiger geworden: Was soll man auch noch spüren nach dem Lesen einer Folge von Artikeln der immerselben Art, was soll man sich noch aufregen? Ich könnte von jeder Ausgabe ein Beispiel bringen, nur wozu? Ich mag doch jetzt, am Ende meines Buches, nicht noch anfangen, jemanden zu langweilen, schon gar nicht mich selbst, drei Texte nenne ich und nicht mehr, wobei sich zwei von ihnen besonders ähneln, zwei Interviews aus den ersten Februar­tagen.
Im ersten sprechen drei etablierte Bundestagsabgeordnete über den Zustand der Demokratie, im zweiten eine Autorin und ein Sozialwissenschaftler über Ostdeutschland, und sie tun es jeweils aus einer großen Übereinstimmung heraus. Sie sind, von Kleinigkeiten abgesehen, einer Meinung. Auch sind sich die Fragensteller mit ihnen einig. Alle werfen sich geübt die Bälle zu, vom ersten Satz bis zum letzten: Das ist doch ein schönes Schlußwort, sagt die Autorin, nachdem der Sozialwissenschaftler etwas geantwortet hat auf die Frage, was machen wir jetzt? kurzum, man beratschlagt sich. Bestätigt einander. Lädt vorsichtshalber niemanden ein, der den Ball mal schärfer oder gar in eine andere Richtung feuern würde. Und das ist fast immer so. Es ist mittlerweile eine ungeschriebene Regel. Kurz denke ich während des Lesens des Ostdeutschland-Interviews, wie es eigentlich wäre, wenn jemand wie die Buchhändlerin aus Dresden in der Runde säße, die es nicht akzeptabel fand, daß auf der Messe vor anderthalb Jahren Stände rechter Verlage ausgeraubt und zerstört wurden, und deren dringliches Thema auch die Demokratie und Ostdeutschland ist, was hätte sie jetzt zu sagen, innerhalb eines solchen Gesprächs? Soll sie ihre Gedanken vortragen, dann könnte ich mir, als Leser eines wahren Widerstreits von Argumenten, eine Meinung bilden, aber es ist illusorisch. Es ist wirklich auch nur eine flüchtige Idee gewesen. Ich habe mich längst schon daran gewöhnt, daß mir immer nur die mehr oder minder Gleichgesinnten präsentiert werden. So bleibt es bei einer sich endlos wiederholenden und darum ganz vorhersehbaren Meinung. Bei einer fortwährenden internen Selbstversicherung und bei ­einer Frage, wieso soll ich ihr beiwohnen?
Im übrigen glaube ich, jenes Hermetische beruht auf Angst. Angst, einige von draußen hereinflatternde Argumente könnten vielleicht etwas Plausibles haben. Angst, in einer offenen Debatte nicht bestehen zu können; es ist eine in den Tiefen des Hirns lagernde Angst, die mit Festigkeit ummantelt wird und mit Unnachgiebigkeit, es ist eine Angst, die schon jener Jugendzeitungs­chefredakteur gehabt hat, der rief, solchen Dreck drucken wir nicht; der Mann schützte sich nur, schützte sich vor seiner Angst, von der er nichts wußte und die ihm doch im Körper steckte.
Aber zum dritten Text: Er nimmt Bezug auf eine Umfrage eines angesehenen Instituts, derzufolge nur 18 Prozent der Deutschen glauben, in der Öffentlichkeit noch frei reden zu können. 59 Prozent erklärten, im privaten Kreis sei es ihnen möglich. Und das, schreibt der Autor, sei die wichtigere Zahl. Weil sie nämlich bedeute, daß sich fast zwei Drittel der Deutschen in einem sozialen Umfeld befänden, das es ihnen erlaube, sich arglos ihrem Gegenüber zu öffnen. Eine frühkindliche Behaglichkeit sei das, die bei Erwachsenen normalerweise gar nicht mehr vorkomme, ein paradiesischer Zustand, der darauf hindeute, daß wir in einem glücklichen Land lebten. Das sagt der Autor tatsächlich. Das ist eigentlich schon wieder ergötzlich, wie er aus einem desaströsen Zustand einen höchst erfreulichen drechselt. Nur ist es eben gar nicht mehr ernstzunehmen. Kein Impuls bei mir, noch irgendwie näher darauf einzugehen, mich auseinanderzusetzen mit so etwas, ich lese es, lege den Kopf in den Nacken, mache vielleicht noch einen tieferen Atemzug als gewöhnlich und gucke auf Baumwipfel und Himmel, schön, wie die Wolken ständig ihre Form verändern, wirklich schön.
Neuerdings sehe ich manchmal meine Straßennachbarn aus den 80er Jahren vor mir, ein Künstlerehepaar, bei dem ich mit meiner Frau dann und wann saß und mit dem wir über Gott und die Welt und unser kleines Land und auch dessen Medien redeten, sie waren unendlich weit weg von denen. Es ging ihnen nicht mehr um Einzelheiten, die ich noch eifrig zu ändern trachtete, es war das Ganze, auf das sie ohne Verständnis und ohne ­Zutrauen blickten, damals verstand ich sie nicht.
Heute muß ich das Abo kündigen, beziehungsweise ich muß den Aboservice noch einmal darauf hinweisen, daß ich, schriftlich wie mündlich, schon gekündigt habe. Ohne die gewünschte Reaktion allerdings, zweimal habe ich um eine Bestätigung gebeten, zweimal keine erhalten, so wähle ich noch einmal 089 und 2183, die altvertraute und doch seltsam fremde Einwahl, ich nenne dem automatischen System wie verlangt in jeweils einzelnen Ziffern Kundennummer und Postleitzahl, und dann meldet sich ein junger Mann, und ich bitte ihn, die Sache nun zu regeln. Er verspricht es. Die übliche Frage stellt er noch, er fragt, was für Gründe ich für meine Kündigung habe, und ich sage, ach, ich glaube, das zu erklären würde bestimmt zu weit führen jetzt.
– Ende –