Ein Abgrund

Noch nie stand Antonia Scott vor einer derart schweren Entscheidung.

Für andere Menschen wäre das Dilemma, in dem sie sich befindet, möglicherweise belanglos.

Nicht für Antonia. Man könnte sagen, ihr Verstand ist fähig, auf unterschiedlichen Zeitebenen der Zukunft zu arbeiten, aber ihr Kopf ist auch keine Kristallkugel. Man könnte sagen, Antonia ist imstande, Dutzende Informationseinheiten zeitgleich zu visualisieren, aber ihr Verstand arbeitet auch nicht wie im Film, wenn vor dem Gesicht des Protagonisten eine Reihe Buchstaben eingeblendet werden, um seine Gedanken zu visualisieren.

Antonias Verstand ist eher ein Dschungel, ein Dschungel voller Affen, die sich rasend schnell von Liane zu Liane schwingen und dabei allerlei mitreißen. Ihr Kopf ist voller Dinge, die in der Luft aufeinandertreffen, und Affen, die sich gegenseitig die Zähne zeigen.

Heute haben die Affen schreckliche Dinge dabei, und Antonia hat Angst.

Ein Gefühl von Angst kommt bei Antonia nur selten auf. Schließlich hat sie schon Folgendes gemeistert:

Ihre Cleverness rettete sie am Tag der Motorboote (sie ließ die vor ihr fahrenden zusammenstoßen) und im Tunnel ihre Kenntnisse (Ente auf Englisch). Was die Sache in Valencia anbelangt, ist unbekannt, wie sie (als Einzige) das Gemetzel überlebte. Sie hat sich immer geweigert, darüber zu sprechen. Aber sie hat überlebt. Und sie hatte keine Angst.

Nein, Antonia hat eigentlich vor nichts Angst, außer vor sich selbst. Vor dem Leben vielleicht. Schließlich besteht ihr Zeitvertreib darin, sich drei Minuten am Tag vorzustellen, wie sie Suizid begehen könnte.

Es sind ihre drei Minuten.

Sie sind ihr heilig.

Sie helfen ihr, nicht den Verstand zu verlieren.

Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt dafür. Aber anstatt in ihrem Ritual Frieden zu finden, sitzt Antonia vor einem Schachbrett. Weiße und rote Figuren wie im antiken englischen Spiel. Antonias Läufer steht kurz vor Schachmatt.

Die Roten spielen und gewinnen.

Eine einfache Entscheidung.

Nicht für Antonia.

Denn ihr gegenüber sitzt Jorge und starrt sie an. Seine grünen Augen versprühen all die Provokation und Gemeinheit, die in einem Meter zehn stecken können.

»Mach endlich deinen Zug, Mama«, sagt Jorge und stampft unter dem Marmortisch mit dem Fuß auf. »Mir ist langweilig.«

Er lügt. Möglich, dass Antonia nicht weiß, was sie tun soll. Aber eine Lüge erkennt sie.

Jorge wartet ungeduldig darauf, dass sie den Läufer bewegt und ihn besiegt, damit er ausflippen kann, weil er verloren hat. Oder dass Antonia stattdessen eine andere Figur bewegt und damit ebenfalls einen Wutanfall provoziert, weil sie ihn hat gewinnen lassen.

Das Aufleuchten ihres Handy-Displays holt sie aus ihrer Erstarrung. Ein rundes Gesicht. Sehr rothaarig und sehr baskisch. Die Vibration lässt die Figuren wild über das Schachbrett tanzen.

Jon weiß, dass sie bei Jorge ist. Ihr dritter Besuch, seit der Richter angeordnet hat, dass man ihr – entgegen der Meinung des Großvaters – eine zweite Chance geben sollte. Sie ist in der Probezeit. Jon würde nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre.

Antonia entschuldigt sich mit einem angedeuteten Schulterzucken und steht auf, um den Anruf entgegenzunehmen. Sie dreht ihrem frustrierten Sohn und der Sozialarbeiterin, die mit ausdruckslosem Gesicht in einer Zimmerecke sitzt und sich Notizen macht, den Rücken zu.

Auch wenn Antonia sich nur ungern unter einem Vorwand davonstiehlt, ist sie davon überzeugt, dass sie dieses Spiel nicht gewinnen kann.

Und das gefällt ihr noch weniger.