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Eine Verpackung

Zweihunderttausend.

Das ist die Zahl der Container, die jährlich im Hafen von Málaga umgeschlagen werden.

Drei Millionen.

Das ist die Zahl der Tonnen.

Elf.

Das ist die Zahl der Zollbeamten, die im Hafen arbeiten.

Jon zeigt dem Sicherheitsmann am Terminal seine Marke, und der öffnet die Schranke.

»Wer ist hier verantwortlich?«, fragt er durchs Autofenster.

»Fahren Sie geradeaus, direkt neben dem Trichter ist das Büro.«

»Neben was?«

»Einem riesigen Trichter, mit dem das Schüttgut verladen wird«, erklärt Antonia.

»Die Blechhütte neben dem Kran.«

»Danke«, sagt Jon. Erst nach links. Dann nach rechts.

Von Marbella nach Málaga sind es sechzig Kilometer. Jon hat sie in vierzig Minuten geschafft. Dreiundzwanzig davon hat Antonia gebraucht, um Woronins Exportfirma ausfindig zu machen.

»Die läuft auch nicht auf seinen Namen«, erklärt sie. »Sie gehört zu einer Holding mit Sitz auf Barbados. Ich habe sie durch eine Filiale in Macau gefunden, Yuris Haus ist in deren Besitz.«

Früher oder später müssen Kriminelle auch mal sesshaft werden. Irgendjemandem müssen die Häuser, in denen sie leben, die Autos, die sie fahren, die Kreditkarten, die sie in Juwelierläden und Restaurants zum Glühen bringen, ja gehören. Aber Gesetze werden von Menschen gemacht, und Menschen sind fehlbar. Es ist nicht illegal, dass Yuri in einem fünf Millionen teuren Haus lebt, das einem ausländischen Unternehmen mit Sitz in einem Steuerparadies gehört. Solange das Unternehmen nichts dagegen einzuwenden hat, sind alle zufrieden.

Die Einrichtung könnte illegal sein. Wäre sie es nur. Aber Eigentum ist es nicht.

Also bleibt ihnen nur, den Brotkrümeln zu folgen, um sich im Wald zu orientieren.

Der Wald ist aus Stahl.

Ein gigantisches Gelände. Zwölf Quadratkilometer aus baskischem Beton, vollgestellt mit riesigen Stahlkisten von sechs Metern Länge. Zu je fünf aufgestapelt. In den Primärfarben.

Vor wenigen Jahren hat ein Privatunternehmen, Noatum Maritime, die Konzession für das Container-Terminal erworben. Seither hat sich der Containerumsatz multipliziert. Ein endloses Kommen und Gehen von Waren, der zunehmende Umschlag geht zu Lasten der naheliegenden Häfen.

Der Terminal-Direktor steht vor seinem Büro. In der einen Hand ein Laptop und in der anderen ein Walkie-Talkie. Er trägt eine orangefarbene Schutzweste und einen weißen Helm. Er ist rundlich und hat so helle Haut und so blondes Haar, dass du erwartest, er spräche dich gleich in einer fremden Sprache an. Bis du ihn mit einem Angestellten reden hörst.

»Aliquindoi in Zone H4, okay? Wenn morgen Karaboudjan eintrifft, brauchen wir Platz. Sie sollen erst die H5 füllen.«

Er wendet sich ihnen zu.

»Sie sind von der Polizei, nicht wahr? Womit kann ich Ihnen dienen? Der Zoll hat heute schon geschlossen. Ich wollte auch gerade gehen.«

»Wir rauben Ihnen nur zwei Minuten Ihrer Zeit«, sagt Jon. »Also, wir untersuchen gerade, womit sich eine gewisse Importfirma beschäftigt: Lemondrop Málaga Limited. Wenn Sie uns da weiterhelfen …«

»Ich fürchte nein«, unterbricht ihn der Blonde. »Um die Importdokumente einzusehen, müssen Sie sich an den zuständigen Zollbeamten wenden. Da müssen Sie morgen wiederkommen.«

Der Mann dreht sich um und entfernt sich raschen Schritts in Richtung Büro.

»Weiß Ihre Frau, dass Sie ein Verhältnis mit einer Ihrer Angestellten haben?«, ruft Antonia ihm hinterher.

Der Mann bleibt abrupt stehen, ein Fuß schon auf der Türschwelle. Der Rücken stocksteif.

Er macht kehrt.

»Das ist eine verdammte Lüge, Señora«, murmelt er vor sich hin und schaut sich dabei nach allen Seiten um.

»Erweiterte Pupillen, beschleunigter Puls. Ich würde sagen, nein«, sagt Antonia zu Jon.

»Ich auch«, bestätigt Jon, steckt die Hände in die Hosentaschen und hebt die Schultern.

Der Mann kommt näher.

»Hören Sie, das dürfen Sie niemandem erzählen! Ich will meine Töchter nicht verlieren.«

»Das ist uns egal. Wir interessieren uns nur für die Aktivitäten von Lemondrop Málaga Limited«, erwidert Antonia.

»Ihre Sexgeschichten interessieren uns nicht. Wenn Sie uns helfen, halten wir den Mund«, lautet Jons Angebot.

Der Mann fährt sich mit der Hand übers Gesicht, das jetzt rot angelaufen ist. Er kann einem leidtun, wie ein Hündchen, das immer wieder um den Tisch herumläuft. Fehlt nur noch das Schwanzwedeln.

Die Entscheidung fällt ihm leicht.

»Ist ja gut, verdammt noch mal, ist ja gut«, willigt er ein und klappt das Laptop auf. »Wie heißt die Firma, sagten Sie?«

Jon wiederholt ihm den Namen.

»Ja, das sind Kunden des Terminals«, sagt der Direktor nach kurzer Suche. »Sie haben tatsächlich gerade einen TEU in der heißen Zone stehen.«

»TEU

»Twenty-feet Equivalent Unit. So nennen wir den Standardcontainer, denn der ist zwanzig Fuß, also sechs Meter lang. Da sie alle dieselbe Größe haben, kann man sie ganz einfach von einem Schiff auf den Lastwagen oder den Zug verladen. Übrigens, dieser hätte schon vor ein paar Tagen verladen werden müssen. Seltsam.«

Antonia und Jon wechseln einen Blick.

»Wir sind gleich da«, sagt der Direktor, während er auf die Bodenmarkierungen für die Zonen leuchtet. »Hier entlang.«

An diesem wolkenverhangenen Nachmittag ist es früh dunkel geworden. Jon und Antonia folgen ihm mit einigem Abstand. Weit genug entfernt, damit Jon seine Neugier befriedigen kann.

»Wie hast du das gemacht?«, fragt er leise.

»Was?« Antonia stellt sich dumm.

»Du weißt schon.«

Sie zuckt mit den Schultern.

»Jedes Mal, wenn du so was fragst, fühle ich mich wie ein dressierter Affe.«

»Komm schon. Du willst es doch auch.«

Antonia seufzt. Und beginnt müde zu erklären.

»Er trägt seinen Ehering nicht, der Abdruck ist deutlich zu erkennen. An seinem Hemd steckt der zweite Knopf im dritten Knopfloch. Du hast ja gehört, was er zu seinem Angestellten gesagt hat. Er ist ein Mann, der auf Kleinigkeiten achtet, er hätte es im Laufe des Tages bemerkt, spätestens auf der Toilette, also hatte er das Hemd vor Kurzem aufgeknöpft. Außerdem habe ich seine Schuhsohlen gesehen, als er wegging.«

»Und?«

»Auf der linken klebt die Verpackung eines Kondoms. Vielleicht fällt sie ab, bevor er nach Hause kommt. Vielleicht nicht.«

Jon muss sich ein Auflachen verkneifen. Er wird ihn bestimmt nicht darauf aufmerksam machen. Und er weiß, Antonia auch nicht. In solchen Momenten ist Inspector Gutiérrez glücklich. Er würde mit niemandem tauschen wollen. Schade, dass sie so selten sind.

»Hier ist er«, sagt der Ehebrecher und leuchtet vor sich auf den Boden.

Der Container steht unten, obendrauf zwei andere. Als sie vor ihm stehen, liest der Mann ihnen den Passierschein vor.

»GD 772569. Eingetroffen vor drei Tagen aus Sankt Petersburg. Die Abholung war für den Tag seines Eintreffens terminiert, deshalb steht er hier in der Zone der Schnellabholung, ist aber nicht abgeholt worden. Das kostet den Importeur einen Zuschlag.«

»Hat er schon die Zollkontrolle passiert?«

»Nicht alle Container passieren den Zoll. Es sind zu viele, und es gibt zu wenige Zollbeamte. In Algeciras ist es noch schlimmer. Wir haben zweihunderttausend TEU im Jahr, die dort fünf Millionen. Das Personal ist extrem knapp.«

Jon klopft auf das dunkelblaue Metall.

»Die Verstärkung ist jetzt da. Öffnen Sie ihn.«

Der Direktor schüttelt den Kopf.

»Das kann ich ohne Zollbeamten …«

»Ach, scheren Sie sich zum Teufel«, blafft Jon und zieht und drückt an dem schweren Eisenriegel. Wie geht das Ding nur auf, verdammt.

»Sie verstehen das nicht. Selbst wenn Sie etwas finden, die Gesetzeslage ist da absolut eindeutig …«

Das Kreischen des sich drehenden Stahlriegels übertönt den Protest des Bürokraten, der sich umgedreht hat und frustriert die Hände gen Himmel hebt.

»Ich wasche meine Hände in Unschuld«, wiederholt er. »Ich wasche meine Hände in Unschuld.«

Jon löst den Riegel aus der Halterung. Er muss kräftig ziehen. Ein weiteres schrilles Kreischen. Als sich die Containertür in ihren Angeln dreht, fallen Salpeter-Brocken herab.

Gestank schlägt ihnen ins Gesicht.

Stechend. Giftig.

So etwas hat Jon noch nie gerochen. Fäkalien. Urin. Die süßliche Fäulnis verwesender Körper. Eine Mischung aus allem, nur tausend Mal schlimmer.

Der Direktor schlägt die Hand vor den Mund, um seinen Brechreiz zu bezwingen, aber zu spät, das Erbrochene läuft ihm durch die Finger und tropft auf seine Schuhe.

Jon hat mehr Glück. Er kann sich noch umdrehen und am Container abstützen, bevor er seinen gesamten Mageninhalt erbricht. Der Brechreiz ist so brutal, dass er fast die Kontrolle über seinen Körper verliert.

»Geh da nicht rein«, sagt er zu seiner Kollegin. »Das soll die Spurensicherung übernehmen.«

Antonia ist schon auf dem Weg zu der dunklen Öffnung.