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Ein Container

Ungerührt sieht Antonia sie gegen den Gestank ankämpfen.

Sie riecht kaum etwas. Ihre Anosmie bedeutet nicht das völlige Fehlen des Geruchssinns. Fast alle ihre olfaktorischen Rezeptoren sind tot, ein paar wenige funktionieren aber noch. Sie nehmen die Ausdünstungen aus dem Container nur vage auf. Wie die Erinnerung an billiges, süßliches Parfüm.

»Geh da nicht rein«, hat Jon versucht, sie zurückzuhalten. »Das soll die Spurensicherung übernehmen.«

Antonia hört nicht auf ihn. Sie bückt sich, hebt die Taschenlampe auf, die dem Direktor aus der Hand gefallen ist, und betritt den Container.

Ihre Schuhsohlen haften am Boden. Er ist aus Holz, aber feucht und klebrig. Die Innenwände sind aus Stahl, aber ohne Rostschutz wie die Außenwände. Deshalb kann Antonia deutlich die Blutspuren erkennen. Hände, sie sich abgestützt haben und abgerutscht sind, wobei sie unregelmäßige Furchen auf den Lamellen hinterlassen haben.

Auf einer Seite ein Lüftungsgerät.

Das wird nicht versagt haben, sonst hätten sie nicht so lange durchgehalten , denkt Antonia.

Die Affen beginnen zu kreischen, schnappen sich Teile der Szenerie und versuchen damit, eine Geschichte zu erzählen.

Der übergelaufene Eimer auf einer Seite.

Der Wassertank in einer Ecke umgefallen, verbeult und voller Blut.

Das Messer auf dem Boden.

Es reicht .

Antonia kann das nicht zulassen. Sie muss den Ekel bezwingen – den rationalen, nicht den instinktiven – und steckt die Hand in die Hosentasche. Sie muss in dieser verpesteten Atmosphäre voller Fäulnispartikel, viele davon infektiös, den Mund öffnen.

Hast du es vergessen? Hast du den Fluss vergessen?

Hallt Mentors Stimme in ihrem Kopf wider.

Du kannst einen Fluss nicht bändigen. Du musst nachgeben .

Nein , antwortet Antonia.

Ich werde die Kontrolle nicht abgeben.

Ich kann es.

Diesmal schiebt sie sich drei rote Kapseln in den Mund. Sie muss sie mit den Backenzähnen zerbeißen, um die wertvolle, bittere Substanz freizusetzen. Im Training hat sie gelernt, rückwärts zu zählen und zwischen jeder Zahl zu atmen, womit sie jeweils eine weitere Stufe hinabsteigt zu dem Ort, an den sie gelangen muss. Aber die Menge der Droge ändert alles.

Sie zählt nicht bis zehn.

Sie steigt keine Treppe hinab.

Sie stürzt regelrecht in die Dunkelheit.

Antonia spürt, wie ihr Körper wie von einem Windstoß geschüttelt wird. Und dann folgt eine Helligkeit, die sie noch nie erlebt hat.

Sie ist wunderbar.

Sie ist erschreckend.

Sie ist chādanāca .

Auf Bengalisch: Das beängstigende Vergnügen, auf einem Dachfirst entlangzutanzen.

Es ist dieselbe Ruhe, die sie spürt, wenn die blaue Pille ihre Fähigkeiten zwar reduziert, aber nicht auslöscht. Zum ersten Mal, seit sie das Training begonnen hat, um eine Rote Königin zu werden, sieht Antonia, was an diesem Ort geschehen ist. Sie schlussfolgert es nicht nur.

Sie sieht es.

Und was sie sieht, ist ein Albtraum.

Sie sieht, wie die acht toten Frauen auf dem Boden des Containers in Sankt Petersburg ablegen. Jung. Vielleicht schön, das lässt sich nicht mehr sagen. Gefesselt mit Kabelbindern – die Leichen weisen noch Abdrücke an den Handgelenken auf. Die neunte ist nicht gefesselt, sie befreit die anderen. Sie haben Wasser und Essen, aber auf der Überfahrt muss etwas schiefgegangen sein. Sie streiten. Sie kämpfen ums Essen und die Ressourcen. Eine von ihnen sitzt verletzt in einer Ecke. Die anderen ignorieren sie einfach. Sie stirbt als Erste.

Dann noch eine, sie wird von den anderen zu der ersten Toten gelegt.

Sieben überleben die Reise. Aber der Container wird nicht abgeholt. Das Lüftungsgerät fällt aus. In ihrem verzweifelten Versuch, sich zu befreien, schlagen die Frauen an die Containerwände.

Als ihnen klar wird, dass sie ersticken werden, stürzen sie sich aufeinander. Im Lichtschein der Taschenlampe, die Antonia hin und her bewegt, kann sie die Blutreste unter den Fingernägeln, die herausgerissenen Haare, die zerfetzte Kleidung nicht sehen. Sie sieht die Frauen kämpfen, sie sieht, welche Verletzungen sie sich gegenseitig zufügen, wie eine Frau eine andere an die Wand stößt, bevor sie von einer weiteren erwürgt wird, wobei die kämpfenden Frauen den verbliebenen Sauerstoff immer schneller verbrauchen. Bis sie sich gegenseitig getötet haben.

Außer einer.

Antonia sieht, wie sich diese eine Frau, die kleinste, an das Lüftungsgerät klammert und mit den Fingernägeln daran kratzt.

Vielleicht.

Vielleicht.

Antonia stürzt zu der Frau, die rücklings auf dem heruntergerissenen Lüftungsmotor liegt. Sie ist blutüberströmt und hat eine grässliche Wunde auf der Stirn, womöglich ist auch ein Auge verletzt. Das Kleid, das früher vielleicht grün war, ist jetzt ein zerfetzter Lumpen, der nur noch an einem Träger hängt. Ihr linkes Bein ist in einem unmöglichen Winkel verdreht. Gebrochen beim Sturz mitsamt dem Lüftungsmotor, als sie keine Luft mehr bekam.

Nichts ist mehr wichtig.

Wichtig ist nur der schwache Puls, den Antonia ertasten kann, als sie ihre Finger auf ihren Hals legt.

Sie lebt. Noch .

Sie ergreift sie unter den Schultern, versucht sie hinauszuziehen, rutscht auf dem Blut aus.

Sie ruft nach Jon, mit seltsam metallen klingender Stimme. Die hat sie noch nie gehört. Das ist nicht ihre Stimme, glaubt sie.

Dann wird sie ohnmächtig.