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Ein Strohmann

Niemand würde Ruben Ustyan für einen Visionär halten.

Nicht einmal Ruben selbst.

Im Jahr 2001 war Ruben (mit Betonung auf dem U, wie er aller Welt erklärt) nach Italien emigriert. In Armenien gab es weder Arbeit noch eine Zukunft. Obwohl Ruben sich für nichts zu schade war. Mit fast vierzig Jahren hat er schon alles gemacht. Ein bisschen Taschendieb, ein bisschen Dealer, ein bisschen Zuhälter. Nach Rom kam er durch einen Vetter und blieb wegen der vielen Touristen, die man auf der Piazza Navona melken konnte. Er, noch nie ein Freund der Ordnungskräfte, war der Erste, der einen Wutanfall bekam, als am 20. Juni Carlos Giuliani, ein Demonstrant gegen die Globalisierung, von einem Carabinieri erschossen wurde.

»Die Globalisierung ist schrecklich. Schrecklich. Damit muss so schnell wie möglich Schluss sein.«

Die Tatsache ignorierend, dass er zu dem Zeitpunkt auf ausländischem Boden mit internationalen Kunden Geschäfte machte – er stahl Spaniern, Japanern, Amerikanern und wem auch immer die Brieftaschen –, war Ruben Ustyan nicht nur ein Gegner der Globalisierung, sondern auch anderer großer Zukunftsvisionen.

Wie zum Beispiel der Behauptung von Alex Lewyt, dem Erfinder des Staubsaugers, im Jahr 1955, dass diese zehn Jahre später mit Atomenergie betrieben würden.

Wie der von Thomas Watson, dem Präsidenten von IBM , der 1943 behauptete, dass auf der Welt höchstens Platz für fünf Computer sei.

Nein, niemand würde Ruben Ustyan für einen Visionär halten. Aber seine absolute Unfähigkeit, etwas vorauszusehen, sollte sich am Ende als evolutionärer Vorteil für ihn darstellen. Ein paar Jahre nach seiner Emigration lernte er auf einer Urlaubsreise nach Spanien Aslan Orlow kennen. Wie es dazu kam? Das ist eine lange Geschichte, zu der ein zerstochener Reifen, eine Ziege und eine Wodkaflasche gehören. Belassen wir es bei einem Zufall.

Das Raubtier musterte Ruben Ustyan aufmerksam. Klein, fahl. Ein Rattengesicht, nur Haut und Knochen. Die Zähne waren zu groß für den Mund, was ihn zu einem ständigen Grinsen nötigte. Aslan sah in ihm einen Mann ohne jegliche Fantasie und übertrug ihm die Leitung eines Bordells in Puerto Banús.

»Dem Armenier können wir vertrauen«, sagte Orlow. »Der ist viel zu dumm, um es zu verkacken.«

Wortwörtlich sagte Orlow »dumm wie Bärenscheiße«, aber russische Redensarten lassen sich nur schwer übersetzen.

So verlief Rubens Leben ohne Glanz und Elend. Er machte die Buchhaltung. Mit den Frauen verfuhr er nach dem Rotationsprinzip: Wenn sie Anzeichen von Erschöpfung aufwiesen, verkaufte er sie an weniger feine Bordelle. Er orderte palettenweise Erfrischungsgetränke in Dosen. Ein erfolgreicher Geschäftsmann in den Jahren der Immobilienblase.

Als die Blase platzte, erfuhr Ruben das als Letzter. Glücksspiel und Prostitution sind die Laster, auf die ruinierte Männer am wenigsten verzichten können. Er erfuhr es erst, als sich schon die nächste Blase bildete.

»Was ein Glück, dass wir die Krise überstanden haben«, sagte Yuri zu ihm.

»Welche Krise?«

»Bring mir noch ein Bier.«

Yuri kam oft ins Bordell, er machte Botengänge, brachte den Kunden ihre Koks-Lieferung, solche Sachen eben. Als Orlows Schläger bekam er die Frauen gratis. Die Getränke musste er allerdings bezahlen. Ruben schätzte, dass trotz des Angestelltenrabatts achtzig Prozent von Yuris Lohn in seiner Kasse landete.

Bis Yuri plötzlich nicht mehr kam.

Und Rubens Gewinn- und Verlustrechnung nicht mehr aufging. Als er Yuri eines Tages in der Parfümabteilung vom Corte Inglés traf, in jeder Hand eine Einkaufstüte, stellte er ihn zur Rede.

»Yuri, was ist los mit dir? Ich hab dich seit Monaten nicht gesehen! Bist du sauer auf mich?«

»Ich mache solche Sachen nicht mehr. Ich bin verliebt«, erklärte Yuri und strahlte ihn einfältig an.

Ruben lachte. Yuri war sein wichtigster Gast. Wenn er außer für das Bier auch für die Frauen hätte bezahlen müssen, besäße Ruben inzwischen eine Yacht. Wer ihm wohl das Laster ausgetrieben hat? Dachte er noch immer lachend, bis sein Blick Yuris Finger folgte. Der zeigte auf eine große, schlanke Frau neben der Louis-Vuitton-Reklame. Auf dem Foto war die Schauspielerin Léa Seydoux mit einer Blume in der Hand abgebildet. Die Frau, die sich für das Parfüm interessierte und mit rosafarbenen Fingernägeln über die goldene Verpackung strich, sah aus wie sie. Aber hübscher und weniger französisch.

Ruben hatte seine liebe Mühe, den Mund zu schließen, als sie auf sie zukam.

»Das ist Lola, meine Frau.«

Dann machte Yuri ihm einen Vorschlag.

Seither sind Jahre vergangen. Sechs? Sieben? Ruben kann sich nicht erinnern. Es könnten hundert sein. Seit jenem Tag sind alle Tage gleich. Ruhiger. Aber auch langweiliger.

An jenem Tag erzählte Yuri ihm von seinen neuen Geschäftsplänen. Bei der Vorstellung, dass dieser Schläger mit den ewig blutigen Knöcheln mit Orlows Erlaubnis eine Strandbar aufmachen wollte, musste Ruben wieder lachen.

Als das Raubtier ihm zwei Wochen später mitteilte, dass er im Bordell aufhören und alles tun sollte, was Yuri von ihm verlangte, verging ihm das Lachen.

Und Yuri verlangte von ihm, ein Büro in San Pedro Norte anzumieten. Im Palomas Building. Ein innenliegendes, fensterloses Büro mit zwei Räumen. Ein Schreibtisch, ein Stuhl, nackte Wände.

Yuri drückte Ruben auf den Stuhl und stellte ihm zum Zeitvertreib einen Laptop auf den Tisch.

»Was soll ich tun?«

»Keine Ahnung. Nichts.«

»Und wenn jemand anruft?« Er zeigte auf das Telefon.

»Dann nimmst du ab.«

»Und was soll ich sagen?«

»Dass sie sich verwählt haben.«

Ruben kratzte sich am Hals und zündete sich eine Zigarette an.

»Und wie viel zahlt ihr mir dafür?«

Yuri sagte es ihm.

Es ist das Fünffache von dem, was er im Bordell verdiente.

Jetzt ist Ruben Yuris Angestellter.

Den größten Teil seines Arbeitstages sitzt er am Schreibtisch in seinem Büro. Spielt Tetris, schaut sich interessante YouTube-Videos an. Er ist fasziniert von einem koreanischen Gaukler, der seine Tricks nackt vorführt – zum Beispiel mit zusammengekniffenen Pobacken die Decke von einem Tisch zu ziehen.

»Ich könnte auch bei mir zu Hause arbeiten.«

»Du musst hier sein, wenn ich dich brauche«, antwortet Yuri.

Und es stimmt, fast täglich taucht Yuri mit einem Aktenkoffer, Unterlagen oder einem Notar auf. Er lässt ihn hier, da und dort unterschreiben. Ruben unterschreibt. Er verbringt die Woche mit Unterschreiben. Dokumente mit blauen Stempeln in blauen Mappen. Bescheinigungen, Darlehen, Anträge. Berechtigungsnachweise, Ausweise, Überweisungen. Verträge. Mahnungen. Vollmachten. Anmeldungen.

Und Urkunden. Viele, sehr viele Urkunden. An manchen Tagen bis zu dreißig.

Ruben hat sich die Kunstfertigkeit angeeignet, ohne einen Blick auf das jeweilige Papier zu unterschreiben. Mit der linken Hand spielt er weiter Tetris, während sich die rechte auf und ab bewegt. Yuri legt ihm das Papier vor und sagt: »Da.« Ruben unterschreibt, der Notar beglaubigt, Ruben hebt die Hand und weiter geht’s. Ohne ein einziges Mal den Blick vom Monitor abzuwenden.

Gelber Stein, Anmeldung, blauer Stein, Bescheinigung.

Ruben träumt davon, den Weltrekord von 4.988 Linien zu knacken. Im Augenblick ist er bei der Hälfte.

»Es wäre einfacher, wenn ich nicht so viel unterschreiben müsste«, protestiert er.

»Beklag dich nicht. Du bist wahrscheinlich der Mann, der die meisten Firmen der Welt verwaltet. Oder ganz Europas, keine Ahnung.«

»Wie viele?«, fragt Ruben nur mäßig interessiert.

Yuri überschlägt rasch im Kopf.

»Etwas mehr als siebentausend.«

»Dann bin ich ein Tycoon«, sagt Ruben stolzgebläht. »Wie Ramón Ortiz oder Donald Trump.«

»Klar, Ruben.«

Yuri klopft ihm auf die Schulter und steckt die Papiere wieder ein. Weiter hinten im Büro gibt es einen Raum mit verglasten Wänden. Darin stehen riesige Aktenschränke und ein Computer. Nur Yuri darf ihn betreten, nur er hat den Schlüssel dazu.

Jetzt ist Yuri tot.

Ruben war auf der Beerdigung, wie alle. Auch er hat Aslan Orlows unmissverständliche Warnung gehört. Es sind seltsame Gerüchte über Yuris Tod in Umlauf, und über die Mörderin, die beauftragt wurde, sich um die Frau zu kümmern. Obwohl ihn das nichts angeht. Er ist ein treuer Vasall der Bratwa, also kann ihm niemand etwas anhaben.

Deshalb geht er jeden Tag ins Büro.

Denn das ist sein Job.

Es weiß zwar nicht, worin genau der besteht, weil jetzt niemand mehr täglich kommt und ihm Papiere zum Unterschreiben vorlegt, aber die Macht der Gewohnheit ist groß. Zu Hause langweilt er sich, dort hat er niemanden zum Reden.

Außerdem ist da noch das Tetris-Spiel.

Also geht er hin, weckt mit der Maus den Computer und spielt an dem Punkt weiter, an dem er am Tag zuvor aufgehört hat. Er hat jetzt tausendzweihundert Linien und nur einen kleinen Fehler an einer Ecke – die verdammten roten Steine, die kann man nie richtig legen –, weshalb er darauf vertraut, dass er den noch ausbügeln wird.

Es klingelt.

Ruben reagiert nicht darauf. Sonst kommt ja auch niemand.

Es klingelt wieder, anhaltend.