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Zwei Sekunden

Antonia kniet neben dem dampfenden Körper und erkennt, dass er noch atmet. Sie will es Jon sagen, kommt aber nicht mehr dazu. Sie hört ein metallisches Geräusch, ein sanftes Klong . Als würde man eine Blechschublade schließen. Wie aus dem Nichts taucht neben Jons Gesicht ein anderes Gesicht auf. Ein Arm umklammert seinen Hals.

Die Taschenlampe fällt zu Boden und erlischt beim Aufschlagen mit einem Zischeln.

Jetzt ist es vollkommen dunkel.

Antonia kriecht über den Boden und tastet nach der Taschenlampe, während die Dunkelheit zum Leben erwacht und sich mit bedrohlichen Geräuschen bevölkert.

Ein wildes Knurren.

Ein Reiben von Stoff an Haut.

Ein Schlag. Metallisch.

Ein Poltern.

Ein Moment der Ungewissheit. Stille.

Verdrängung der verpesteten Raumluft, als ein Körper zu Boden fällt.

Ein Keuchen.

Ein Schritt.

Noch ein Schritt.

Antonias Finger ertasten endlich den Reflektor der Taschenlampe.

Es sind nicht die einzigen Finger. Plötzlich geht das Licht an, worauf Antonias Hand gespenstisch rot leuchtet.

»Loslassen«, sagt eine Frauenstimme.

Antonia lässt die Taschenlampe los.

Für einen Sekundenbruchteil kann sie im Lichtschein, der sich auf ihrem weißen T-Shirt reflektiert, das Gesicht einer jungen Frau mit hartem, stechendem Blick erkennen, der die Dunkelheit in zwei Hälften schneidet.

Dann lehnt sie sich zurück und leuchtet Antonia, die sich aufrichtet und hinkniet, direkt in die Augen.

Im Lichtkegel wird eine Pistole sichtbar. Ihr Lauf ist nur knapp sechs Zentimeter von Antonias Stirn entfernt.

Die verdreht die Augen.

Eine 9-mm-Makarow.

»Wer?«, fragt die Frau.

Der Tonfall lässt keine Zweifel aufkommen. Antworte oder ich töte dich. Aber Antonia sieht sich nicht zum ersten Mal mit dem Lauf einer Waffe bedroht. Weder das erste noch das zehnte Mal. Sie hat auch keine Zweifel. Niemals Angst zeigen, niemals nachgeben.

»Wer bist du?«, erwidert sie die Frage.

Der Pistolenlauf kommt nähert und berührt leicht ihre Stirn, obwohl Antonia sich nicht bewegt, nur hektisch blinzelt, während sie überlegt, was zu tun ist.

»Wer?«, wiederholt die Frau.

Ihr Finger krümmt sich um den Abzug. Sie ist im Begriff abzudrücken. Sie hat nur ein paar Sekunden.

Für andere Menschen mögen zwei Sekunden nur ein winziger Bruchteil sein.

Nicht für Antonia Scott.

In zwei Sekunden wägt Antonia drei mögliche Reaktionen ab, darunter:

Sie verwirft alle drei. Jeglicher Versuch, die Frau unbewaffnet anzugreifen, ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Die Unbekannte hat gerade zwei kräftige Männer überwältigt und getötet – Antonia kann sie atmen hören –, und noch einen anderen, größeren. Nicht dass er dick wäre.

Sie versucht auszurechnen, wie lange die Policía Nacional in diese abgelegene Gegend braucht. Sie geht in ihrem fotografischen Gedächtnis die Seite des Dossiers durch, das Mentor für die Mission ausgearbeitet hat. Möglicherweise bis zu fünf Minuten. Wie viel sind vergangen, seit sie angerufen hat? Dreieinhalb, mit einer Fehlerquote von zehn Sekunden.

Ihre einzige Chance besteht darin, Zeit zu gewinnen. Am Leben zu bleiben, bis die Kollegen eintreffen. Mentor nennt es die VAA -Taktik. Verwirren. Ablenken. Ausfragen.

»Ich würde nicht abdrücken«, sagt Antonia. »Das wäre ein schwerer Fehler.«

Die Frau schaltet die Taschenlampe aus, Dunkelheit senkt sich zäh und lastend auf die beiden herab.

Sie ist fertig. Und will nicht, dass ich sie erkenne .

»Ich nicht sprechen gut Spanisch«, sagt sie.

»Mein Russisch ist auch nicht perfekt«, erwidert Antonia auf Russisch. Mit tadellosem Moskauer Akzent.

Die Stimme wird sanfter, beinahe freundlich, als sie auf Russisch zu reden beginnen.

»Du bist Polizistin?«

»So was Ähnliches. Meine Kollegen werden gleich da sein.«

Als hätte das Universum auf ein Zeichen gewartet, sind von draußen Polizeisirenen zu vernehmen.

»Ich habe es nie verstanden, wenn das im Film geschieht.« Die Stimme aus der Dunkelheit kommt jetzt eher von rechts. »Der Protagonist ist ihm ausgeliefert. Die Sirenen heulen, und der Bösewicht verschwindet. Abdrücken dauert genauso lange wie Nicht-Abdrücken.«

Antonia lächelt angesichts dieser unanfechtbaren Logik.

»Wirst du es machen? Wirst du uns töten?«

Sie hört Schritte, sie spürt die Luftverdrängung. Plötzlich erklingt die Stimme der Frau an ihrem linken Ohr. Sie betont die russischen Silben mit irritierender Weichheit.

Direkt hinter ihr.

»Du hast Glück, Polizistin. Ihr steht nicht auf der Speisekarte.«

Überrascht zuckt Antonia zusammen.

Gleich darauf ist hinter ihr nur noch Dunkelheit.

Sie ist weg .

Sie steht auf, holt das Smartphone aus ihrer Jackentasche und schaltet die Lampe ein. Jon liegt am anderen Ende des Raumes auf dem Boden. Antonia kniet sich neben ihn, zwickt in die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger und drückt mit der anderen Hand kräftig auf die Stelle zwischen Nase und Mund.

Mit einem Schmerzenslaut kommt Jon wieder zu sich. Seine Unterlippe ist aufgeplatzt, und in seinem Bart klebt Blut.

»Was machst du?«

»Wiederbelebung durch Akupressur.«

»Tut ziemlich weh.«

»Das soll es ja auch«, sagt Antonia, die bereits aufgestanden und zu dem Schwerverletzten gegangen ist. »Hilf mir, ihn umzudrehen.«

»Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?«

Ruben Ustyan liegt im Sterben.

Antonia weiß das.

Sie weiß auch, dass ihm das Drehen auf den Rücken sehr große Schmerzen verursachen wird, denn sie hat sich seine Wunden genau angesehen.

Sie rechnet fest damit.

Jon weiß das nicht, er muss es auch nicht wissen. Es gibt Entscheidungen, die sie alleine treffen muss.

»Hilf mir«, wiederholt sie.

Sie drehen Ruben um.

Der Armenier schreit auf, mit rauer Stimme. Das Benzol, das sie über seinen Körper gegossen haben, hat vierzig Prozent seiner Haut verbrannt, die Epidermis ist zerstört und die Fettschicht angegriffen. Auf seinem Rücken ist ein Großteil der Nervenenden versengt, aber in den Außenrändern, wo die Polyesterkleidung mit der Haut verschmolzen ist, funktionieren die Schmerzrezeptoren noch. Es ist dasselbe Prinzip, das Antonia vorher bei Jon angewandt hat, nur erbarmungsloser. Die Nerven werden gleichzeitig aktiviert, sie senden Millionen Alarmsignale ans Gehirn, steigern die Herzfrequenz, erweitern seine übel zugerichteten Atemwege und verstärken die Schädelverletzungen. Bedauerlicherweise verringern sie auch seine Lebenserwartung: von sieben Minuten auf wenige Sekunden.

Er versucht sich aufzurichten. Antonia ergreift seine Hand, obwohl das Berühren der verbrannten Haut (kross, heiß und rau von außen, rissig wie eine ausgetrocknete Pfütze, glitschig bei Berührung von innen) großen Ekel in ihr hervorruft.

»Ganz ruhig, Señor Ustyan«, sagt sie.

»Ich habe nichts getan. Ich habe nichts getan. Sagen Sie Orlow, dass ich nichts getan habe.«

»Der Rettungswagen ist gleich da. Keine Sorge«, sagt Jon.

Draußen ist das Gebrüll der Polizisten zu hören. Inspector Gutiérrez steht auf, hebt die Arme und verweist auf seinen Rang und seine Position, denn er will keinen Schuss kassieren.

»Hat er das getan? Orlow? Hat er die Frau geschickt? Wissen Sie, wie sie heißt?«

Ruben hustet, hechelt. Er kämpft um jeden Atemzug. Seine Stimme klingt wie ein Reibeisen. Er starrt Antonia mit weit aufgerissenen Augen an.

»Tschjornaja Woltschitsa.«