Lola

Es war einmal ein Mädchen, das alles hatte .

Das hat sie zu Yuri gesagt.

Aber nicht an dem Morgen, als er starb. Solche bedeutungsvollen, wichtigen Momente kurz vor dem Verlust eines geliebten Menschen gibt es im echten Leben nie. In der Fiktion kann ein Vater seinem Sohn eine unumstößliche Wahrheit offenbaren und Sekunden später einem Herzinfarkt erliegen. Oder von einem Tornado hinweggefegt werden.

Im echten Leben sagte Lola zu Yuri:

»Ich gehe einkaufen!«

Yuri antwortete etwas Unverständliches aus der Gästetoilette, die er nur für eine Sache benutzte, die Lola ihm im großen Bad nicht erlaubte (Yuri aß sehr gern scharf).

Das war alles. Nicht mal ein trauriger Kuss, kein »Ich liebe dich«.

In der Rückschau war Yuris Ermordung etwas, das man hätte kommen sehen, das man hätte verhindern können. Es ist sehr leicht, die Vergangenheit vorherzusagen, wie alle Ökonomen, Kolumnisten und ihresgleichen wissen, die der gestrigen Schlagzeile nur ein »Das war ja klar« hinzufügen müssen.

Aber Lola hatte Yuri oft genug gewarnt.

»Wir haben alles. Was willst du denn noch?«

Was will jemand, der schon alles hat?

Mehr, wie alle Welt.

Solche Momente der Vernunft gab es bei Lola eher selten. Wie ihre Absicht, Englisch zu lernen, eine Diät zu machen oder ins Fitnessstudio zu gehen. Fünfundneunzig Prozent ihrer guten Vorsätze wurden auf »morgen« verschoben. Stimmt schon, Lola machte Yuri nur selten Druck.

Die naive Lola, die glaubte, in ihn verliebt zu sein. Oder es wirklich war. Apropos Liebe: Ist es etwa nicht dasselbe, zu glauben, verliebt zu sein, und es wirklich zu sein?

Lola glaubte, verliebt zu sein. Und sie glaubte, dass sie beide ihr Leben ändern müssten. Vielleicht hat sie deshalb die Pille weggeworfen und jedes Kondom im Haus mit einer feinen Nadel angestochen. Weil sie schwanger werden wollte.

Und das wurde sie.

Im Glauben, dass Yuri dann endlich seinen Arsch hochkriegen würde.

Und natürlich kriegte er ihn hoch. Nur dass dieser Idiot sie nicht einbezogen hatte. Er tat es im Alleingang, was wirklich keine gute Idee war.

Und jetzt sitzt Lola in der Klemme.

Die Gier, dieses Immer-mehr-Wollen, hat dazu geführt, dass Lola verfolgt und bedroht wird. Aber sie könnte auch der Schlüssel zu ihrer Rettung sein. Es geht nicht darum, die Ironie im Leben zu suchen, das wäre zu einfach. Ironischerweise.

Es wird Abend, es ist nach sieben Uhr, und die Sonne hat sich in der Meereswiege schlafen gelegt. Lola geht die Calle Enrique del Castillo hinunter und biegt in die Avenida Ramón y Cajal ein. Dann nach links. Hinter drei Telefonläden befindet sich das Geschäft von Edik Gusew.

Draußen hängt ein Schild Instant Cash , aber was es drinnen gibt, wissen alle, die etwas loswerden wollen.

Gusew ist ein Hehler und ein Hurensohn. In beidem ist er spitze.

Er ist ebenfalls ein Bekannter Yuris. Freund wäre zu viel gesagt, Yuri hat ihn immer freundlich behandelt, blieb aber auf Distanz. Denn selbst Yuri – der jeden sozialen Scheißhaufen auf der Straße einsammelte, wenn er die Sprache Tolstois sprach – war durchaus imstande zu erkennen, dass Gusew reinstes Gift ist.

Beim Öffnen der Tür erklingt ein Ding Dong , das niemanden aufmerksam macht. Lolas Blick schweift über die Toaster – Wie neu! – , die Espressokannen – Schnäppchen! – und ein lächerliches Sonderangebot! neben einem CD -Aufnahmegerät.

Da taucht Gusew auf.

Er erkennt sie nicht gleich. Lola ist nicht geschminkt, ihr Haar ist stumpf und schmutzig. Unter den Augen zeichnen sich Schatten in der Größe von karibischen Hängematten ab.

»Wie schön, Sie zu sehen, Señora Woronin«, sagt er nach kurzem Zögern. »Sie sind hübscher denn je.«

Gusew ist ein kleiner, dicker Mann mit einem Gesicht, das früher wohl in einer Schießbude als Zielscheibe herhalten musste, so viele Krater hat es.

»Hallo, Gusew.«

Beide mustern sich skeptisch. Lola weiß, dass sie ihn in eine heikle Lage bringt, wenn sie unangemeldet in seinem Laden auftaucht.

»Wir haben Sie bei der Beerdigung Ihres Mannes vermisst.«

»Ich konnte leider nicht kommen.«

»Sie war gut besucht. Alle waren da.«

Mehr braucht Lola nicht zu hören. Gusew ist verpflichtet, Orlow sofort zu informieren, wenn er sie sieht. Sollte das Raubtier ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt haben, kriegt er vielleicht auch eine Belohnung. Aber Gusew ist kein Idiot. Er weiß, dass Lola das ebenfalls weiß. Und deshalb weiß er auch, dass sie es nicht riskiert hätte, wenn es nicht unbedingt nötig wäre.

»Was führt Sie denn zu mir so … unverhofft?«

Gusew spricht besser Spanisch als viele Spanier, auch wenn er sich manchmal im Wort irrt. Und er spricht leise, voller unangenehmer Schwingungen im Tonfall.

»Ich muss dringend etwas verkaufen.«

Warum, muss sie wirklich nicht erklären.

»Dann lassen Sie mal sehen.«

»Nicht hier«, sagt Lola und wirft einen raschen Blick auf die Straße.

Gusew nickt, geht zur Tür und schließt ab. Dann dreht er das Geschlossen -Schild um.

»Folgen Sie mir.«

Das Hinterzimmer ist eng, viele Kartons und Sicherheitsmonitore. Die knapp vier Quadratmeter sind vollgestellt mit allem möglichen Krempel. Teile von Puppen, Ersatzteile für Uhren, Kugelschreiberminen. Videospiele, die keiner mehr haben will.

Aber Lola lässt sich nicht täuschen. Gusews Lager befindet sich woanders, fern von indiskreten Blicken. Seine wahren Geschäfte macht er nachts, und die bestehen aus dem An- und Verkauf von allem. Wirklich allem.

»Er hat mal eine Kinderleber verkauft«, hatte Yuri ihr einmal beim Essen erzählt.

»Das hast du dir ausgedacht.«

Yuri aß schulterzuckend noch eine Scheibe Speck.

Lola hatte es nicht geglaubt. Jetzt glaubt sie es. Sie steht in dem überfüllten Raum so nah vor Gusew, dass sie alles glaubt.

»Also, was haben Sie für mich?«, fragt Gusew ungeduldig.

Lola bückt sich und nimmt das Fußkettchen ab. Es ist das Einzige, was ihr geblieben ist.

Das Fußkettchen hatte ihr Yuri geschenkt, als sie sich beklagte, dass das aus Rotgold zu nichts passen würde.

Yuri hatte selbstgefällig gegrinst und ihr dieses Fußkettchen gekauft. Ein Schmuckstück, das sie nicht brauchte, eine völlig überflüssige Geldverschwendung, die Laune eines verwöhnten Mädchens.

Jetzt ist es ihre Rettung.

Und das Einzige, was ihr von Yuri geblieben ist.

Eigentlich wollte sie es unter keinen Umständen weggeben. Erstens, weil es ihr ohne Echtheitszertifikat niemand abkaufen würde. Und zweitens, weil sie sehr daran hängt. Doch auch wenn es ein Wahnsinn ist, hier zu sein, sie braucht das Geld. Denn Zhenya hat sich geweigert, es als Bezahlung anzunehmen. Sie hat keine andere Wahl.

Sie gibt es Gusew.

Der Hehler hält es unter die Lampe und überprüft es mit Kennerblick. Dennoch lässt er Lola, die ihm die Vorzüge des Fußkettchens erläutert, nicht aus den Augen.

»Es ist von De Beers. Achtzehn Karat Weißgold. Mit dreißig Diamanten. Es kostet in etwa …«

»Fünfundzwanzigtausend Euro, Señora Woronin. Es ist ein Geschenk Ihres Mannes, verstehe. So ein wertvolles Stück kauft man sich nicht selbst.«

Er dreht es zwischen den Fingern.

»Vielleicht etwas mehr, es ist gut erhalten. Und der Kurs für Diamanten ist dieses Jahr ordentlich gestiegen.«

Lola kann einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken, als sie sieht, dass Gusew den Preis für das Schmuckstück nicht runterhandeln will. »Ich brauche fünftausend Euro. Das ist alles. Wenn Sie mir die geben, können Sie es behalten. Sie werden ordentlich Gewinn damit machen.«

Gusew lächelt und fährt sich mit der Hand übers Hemd, das einmal weiß war, aber jetzt auf der Brust Eigelbflecken hat.

»Ich fürchte, ich kann Ihnen das Geld nicht geben, Señora Woronin.«

Lolas Lächeln erlischt.

»Wie viel …? Wie viel können Sie mir denn geben?«

»Nitschewo. Nichts«, antwortet Gusew.

»Na schön«, sagt Lola und streckt die Hand nach dem Fußkettchen aus. »Dann gehe ich woandershin.«

Gusews Lächeln wird breiter. Er hat weiße, sehr gepflegte Zähne. Ein seltsamer Kontrast bei einem so heruntergekommenen, niederträchtigen Mann.

»Sie haben mich nicht verstanden«, er dreht sich um und wühlt in einer Schublade. »Ich werde das Fußkettchen behalten, Ihnen aber nichts dafür geben.«

Er hat eine Pistole aus der Schublade geholt. Damit zielt er auf Lolas Kopf, die erschrocken zurückweicht. Wobei sie mit dem Rücken an ein Regal voller Kartons stößt.

»Das können Sie mir nicht antun. Das ist … unhöflich. Wir kennen uns. Yuri hat Ihnen immer geholfen, wenn nötig.«

»Sie irren sich schon wieder. Ich werde es tun, weil ich es kann. Und erzählen Sie mir nichts von Ihrem Mann, dem Idioten. Er hat die Bratwa verraten. Ich kann mit Ihnen machen, was ich will. Überhaupt …«

Mit seinen dünnen Armen zwingt Gusew Lola, sich umzudrehen. Mit einer Hand drückt er ihr die Pistole in den Nacken, mit der anderen nestelt er an ihrer Hose herum.

Lola muss sich zusammenreißen. Sie will nicht weinen. Sie will ihn nicht anflehen. Sie kann es nicht verhindern.

Er hat ihre Hose geöffnet und verheddert sich jetzt im Gummiband des Slips. Als er versucht, ihn runterzuziehen, kratzt er sie. Lola spürt einen brennenden Schmerz und zuckt zusammen.

Inzwischen kämpft Gusew mit der eigenen Hose. Im Stehen ist Lola einen Kopf größer als er, was eine Penetration unmöglich macht. Besonders, weil sein Penis weich und schlaff ist.

»Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst, hätte ich was genommen, um dich angemessen in Empfang zu nehmen«, sagt Gusew, während er sein schlaffes Glied an ihren Oberschenkeln reibt. »Du und dein Mann, ihr habt euch immer für was Besseres gehalten, stimmt’s? Aber jetzt seid ihr nichts.«

Er packt Lola am Haar und zerrt sie zur Tür.

»Lauf, du Schlampe. Hau ab. Vielleicht rufe ich Orlow doch nicht an. Wie du schon sagtest … Das wäre unhöflich.«