Lola

Es war einmal eine junge Frau, die kaufte sich ein Haus im Wald, ganz in der Nähe eines märchenhaften Dorfes.

Lola liebt Rascafría.

Es ist ein unfassbar schöner Ort. Das Kloster del Paular ist über sechshundert Jahre alt. Die Kartäuser haben es um eine Papiermühle und einen Schornstein herum erbaut. Sie benötigten zwei Jahrhunderte dafür und hatten große Mühe, es in dieser wilden Gegend am Fuße des Peñalara zu erhalten. Umgeben von eiskalten, steinigen Bächen, inmitten von Wäldern voller Pappeln, Birken und Tannen.

Lola war nie dort gewesen. Aber sie wusste, dass Yuri und sie irgendwann einen Zufluchtsort brauchen würden. Einen Ort, den niemand kennt, weit weg von allem und allen. Dann ist sie bei ihrer Suche auf einem Immobilienportal auf dieses Haus gestoßen. Ein Areal von tausendsiebenhundert Quadratmetern an einem Waldweg mitten im Nationalpark der Sierra de Guadarrama. Ein Bau aus dem Jahre 1975, der heutzutage absolut illegal wäre.

»Kauf es«, sagte sie zu Yuri.

Der Kauf wurde äußerst vorsichtig abgewickelt, damit niemand sie mit dem Eigentum in Verbindung bringen konnte. Deshalb verzichteten sie auch auf Ustyan als Strohmann und nahmen die Dienste eines sündhaft teuren Maltesers in Anspruch.

Das Haus kostete dreihunderttausend Euro. Es anonym zu erwerben noch ein paar Tausend mehr. Aber es wurde ihr romantisches Versteck. Sie fuhren meist heimlich hin. Mit dem schnarchenden Karlik auf dem Rücksitz. Wie der Hund die langen Spaziergänge durch den endlosen Wald genoss! Ganz besonders, wenn sie im Winter dort waren und der Schnee fast anderthalb Meter hoch lag.

Heute scheint einer dieser Tage zu sein.

Auf der Höhe des Stausees von Pinilla begann es zu schneien. Die Straße färbte sich langsam von Schwarz in schmutziges Grau. Und dann Weiß.

Auf der Höhe von Alameda del Valle kam der Clio immer öfter ins Rutschen. Lola bog von der Straße ab und fuhr direkt in das nächste Dorf.

»Ist es hier?«, fragte Kiril plötzlich wachsam.

»Nein. Wir brauchen Schneeketten, sonst kommen wir nicht weiter.«

Sie hielten hinter einem Mercedes mit Schneeketten, der vor einem Restaurant stand. Aufbrechen unmöglich, sagte Rebo. Da sie den Wagen nicht nehmen konnten, stahlen sie eben die Schneeketten. Sie benötigten fast eine halbe Stunde, um sie abzunehmen und an den Hinterreifen des Clio anzubringen.

»Du bist doch Russe. So was müsstest du eigentlich schon mal gemacht haben.«

Kiril zuckte die Achseln.

»Vorurteil, da ? Wie Schwarze tanzen, da

Ein in seiner Ehre gekränkter Mafioso, das hat mir gerade noch gefehlt , dachte Lola. Sie stiegen wieder in den kalten Wagen. Der selbst mit der Heizung auf höchster Stufe nicht warm wurde, weil die russische Methode, mit der Kiril den Wagen aufgebrochen hatte, den Clio zum Eisschrank machte.

Zitternd vor Kälte gelangten sie nach Rascafría.

Die Schönheit des Dorfes überwältigt Lola jedes Mal. Selbst bei Nacht, wenn der Sturm an den Fenstern rüttelt, wirkt es wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Die Menschen sind friedlich und ruhig. Es gibt keine Diskotheken, keine Bordelle. Knapp tausendfünfhundert Bewohner und ein einziger Streifenwagen der Policía Municipal, der nur zu den Patronatsfesten seinen Platz in der Rathausgarage verlässt.

Das Paradies.

Lola fährt bis zum Ende des Dorfes und nimmt die Abzweigung Richtung Puerto de Cotos. Plötzlich taucht ein Schild der Guardia Civil auf, dass die Straße wegen des Schneesturms gesperrt sei.

Lola steigt aus, schiebt das Schild beiseite und fährt weiter. Nach hundert Metern kommt die Abzweigung zum Arroyo del Cuco.

Es sind noch zwölf Kilometer auf einem Feldweg durch den Wald. Der Schnee liegt hier zentimeterhoch. Lola drosselt die Geschwindigkeit, fährt im dritten Gang und bewegt das Lenkrad so wenig wie möglich. Dennoch ist das letzte Stück die Hölle, weil die Räder ständig durchdrehen.

Schließlich bleibt der Wagen stecken.

»Wir müssen zu Fuß weitergehen«, sagt Lola.

»Weit?«, fragt Rebo.

»Nahe«, antwortet sie, obwohl sie keine Ahnung hat, wo genau sie sind.

Nur die Pfosten, die alle paar Meter aufgestellt sind, bewahren sie davor, sich zu verlaufen. Und das, obwohl sie nur knapp hundert Schritte vom Haus entfernt sind. Länger hätte sie es bei dem Schneesturm mit Windstärke neun auch nicht ausgehalten.

Eine halbe Stunde später und wir hätten es nicht geschafft , denkt Lola beim Blick auf die immer höher werdende Schneedecke.

Schließlich stehen sie steif vor Kälte vor dem Haus. Mit blaugefrorenen Lippen und verkrampften Muskeln. Lola drückt fest auf den Klingelknopf am Eingangstor. Wenn Zhenya nicht auf sie gehört hat, müssen sie die Umzäunung überwinden. Das wird nicht einfach. Die Hecke, die das Haus umschließt, ist drei Meter hoch und sehr dicht.

Bitte. Bitte , fleht Lola innerlich und klingelt Sturm.

»Ja?«, erklingt eine Stimme aus der Gegensprechanlage.

Lola nennt das Passwort, das jede Tür in Spanien öffnet, zu jeder Zeit, immer.

»Ich bin’s.«

Das Tor öffnet sich mit einem leisen, anhaltenden Summen.

Über der Haustür geht das Licht an. Es ist im dichten Schneefall kaum zu erkennen. Lola muss regelrecht durch den Schnee stapfen. Die Jeans sind bis zu den Knien durchnässt, ihre Füße spürt sie kaum noch.

Mit letzter Kraft erreicht sie die Veranda. Kiril geht es nicht viel besser. Mit geröteter Haut und flachem Atem. Als sie die Veranda betreten, können sie kaum noch gehen. Jeder Schritt ist eine Qual.

Zhenya erwartet sie an der Tür mit einer Decke. Lola will sie ergreifen, aber Kiril ist schneller. Die Hausangestellte weicht erschrocken zurück, als sie den Russen erblickt.

»Der Hund«, sagt er, schnappt sich Lola und drückt ihr die verbogene Eisenstange an den Hals.

Lola schaut ihn unendlich erschöpft an. Irgendwann in der fernen Vergangenheit hatte sie geplant, Karlik zu befehlen, Kiril anzugreifen, sobald sie das Haus betreten. Inzwischen hatte sie den Plan zwar verworfen, aber Kiril schien so was von Anfang an befürchtet zu haben.

Dann sagt sie:

»Zhenya. Wo ist Karlik?«

»In der Küche, Señora.«

An der Küchentür ist ein Kratzen zu vernehmen.

»Hol ihn her«, befiehlt Kiril Rebo auf Russisch. »Und binde ihn an einer Stelle fest, wo ich ihn sehen kann.«

Zhenya verschwindet in der Küche und kommt gleich darauf mit Karlik zurück. Er trägt ein Hundegeschirr um Hals und Brustkorb, zerrt aber so heftig an der Leine, dass Zhenya ihn kaum halten kann.

»Du kontrollieren«, sagt Rebo und verstärkt den Druck der Eisenstange auf Lolas Kehle.

»Spakoina. Ganz ruhig«, befiehlt Lola.

Karlik bleibt sofort stehen. Wendet aber den Blick nicht von Kiril Rebo ab. In seinen kaffeebraunen Augen flackert ein hungriges Feuer.

»Binde ihn dort fest«, sagt Rebo und zeigt auf den Holzbalken im Wohnzimmer.

Zhenya gehorcht. Sie wickelt die Leine um den Balken und verknotet sie.

Erst dann lässt Rebo Lola los, die zum Kamin taumelt und dort zu Boden sinkt. Zhenya hat zwar die Heizung eingeschaltet, aber nicht den Kamin angezündet. Darin liegt Feuerholz bereit.

Sie benutzen keine Feueranzünder. Den Kamin entzünden sie nur mit einem Haufen alter (ungelesener) Zeitungen und einem Exemplar von Fifty Shades of Grey, in dem schon die Hälfte der Seiten fehlt. Mit gefühllosen Fingern reißt Lola ein Kapitel heraus und macht damit Feuer.

Als die Flammen auflodern, zieht sie ihre durchnässte Kleidung aus und kuschelt sich in die Decke, die Zhenya ihr gebracht hat.

Rebo hat sich nicht von der Stelle gerührt, er steht vor der Tür und beobachtet Lola. Auch als sie sich auszog, hat er sie nicht aus den Augen gelassen und sich an den seltsamen Formen delektiert, die die Flammen auf ihre nackten Brüste und ihren Bauch warfen. Nackt ist ihre Schwangerschaft nicht zu übersehen.

»Yuri, da ?«, fragt er und geht näher.

Lola antwortet nicht. Ihr Blick ist starr auf die Flammen gerichtet und ihr Kopf eine Million Kilometer entfernt. Oder an diesem Ort, aber vor einer Million Minuten. Wie sie mit ihrem Mann vor diesem Kamin sitzt. Wie sie ihm mit der Hand durch das schwarze Haar mit dem lockigen Pony fährt, als er es länger trug. Mein Gott, wie schön er war. Mit diesen vollen Lippen und dieser breiten, männlichen Nase. Er war nicht sehr groß, wusste sie aber glücklich zu machen.

Wir hätten alles haben können, du Idiot .

»Ich habe nie Schwangere getötet«, sagt Rebo.

»Dann wirst du es jetzt auch nicht tun. Wir haben eine Vereinbarung. Wir werden uns das Geld teilen.«

Rebo geht zu Zhenya und befielt ihr, sich auf das Sofa zu setzen. Er zieht ein Paar Handschellen aus der Hosentasche und fesselt Zhenyas Hände auf dem Rücken. Handschellen aus dem Polizeiwagen. Lola glaubt, dass er sie auf der Fahrt geöffnet hat.

Wahrscheinlich mit einer meiner Haarklemmen .

»Ich rede lieber Russisch. Du antwortest mir auf Spanisch. Okay?«, sagt Kiril in seiner Sprache.

Lola nickt. Etwas vorzutäuschen ist jetzt sinnlos.

»Ist das Geld hier im Haus?«

»Es ist hier im Wohnzimmer.«

»Gut, dann zeig es mir.«

Es ist nicht nur sinnlos zu diskutieren, es bringt auch nichts zu kämpfen. Sie wird nichts von Rebo verlangen, auch nicht mit ihm streiten.

In die Decke gehüllt steht sie auf und geht zu dem Balken, an dem Karlik festgebunden ist.

»Wo gehst du hin?«, fragt der Mafioso und stellt sich zwischen sie und den Hund.

»Das Geld holen.«

»Du willst ihn losmachen, du Schlampe.«

»Wenn du das Geld willst, musst du mir schon vertrauen.«

Rebo, der noch nie jemandem vertraut hat, wird jetzt nicht damit anfangen. Er reißt Lola die Decke herunter, drückt ihr die Eisenstange in den Rücken und zwingt sie, vor ihm her zu gehen.

Als sie näher kommen, spannt Karlik den Körper an. So weit aufgerichtet, wie das Geschirr es ihm erlaubt. Er knurrt drohend, anhaltend.

»Spakoina . Ruhig«, sagt Lola mit bebender Stimme.

Sie hat sich seit Stunden kein Insulin mehr gespritzt. Ihre Kehle ist wieder trocken und der Blick verschwommen. Aber sie darf jetzt keinen Fehler machen.

Sie geht in die Hocke und krault den Hund hinter den Ohren.

»Vorsicht«, warnt Rebo sie. Die Spitze der Eisenstange kratzt über ihren Rücken, und sie spürt Blut hinabrinnen.

Karlik windet sich unruhig. Blutgeruch macht ihn verrückt.

»Molodets . Guter Junge«, sagt Lola und tastet langsam seinen Hals ab, bis sie unter dem dichten Fell gefunden hat, was sie sucht. Eine etwas härtere Stelle unter der Haut. Dort hat der russische Hundetrainer mit dem Skalpell einen kleinen Schnitt gesetzt und ihm eine kompakte kleine Plastikhülle unter die Haut geschoben. Wasserdicht. Unsichtbar.

Sie hat einen Tresor mit spitzen Zähnen .

Ohne mit dem beruhigenden Flüstern aufzuhören, schiebt Lola ihren Fingernagel hinein, bis sie den Mikrochip SD .512 GB herausziehen kann. Auf Schlag- und Wasserfestigkeit sowie Magnetfelder geprüft. Hitzebeständig bis fünfundachtzig Grad.

Lola zeigt Rebo den Chip, ohne sich umzudrehen. Der Mafioso reißt ihn ihr aus der Hand und zerrt sie am Haar von dem Hund weg.

Ungerührt hebt Lola die Decke auf. Sie hüllt sich wieder ein und geht zum Kamin zurück.

»Was ist das?«

»Das, was alle Welt sucht. Das Firmengeflecht des Tambowskaja-Kartells. Beweise gegen Comisaria Romero und Subinspector Belgrano.«

»Und das Geld? Ist es hier?«

Lola nickt.

»Es gibt einen Ordner. Darin liegen 74.568 Bitcoins.«

»Sechshundert Millionen Euro«, sagt Rebo, der es nicht fassen kann, dass eine solche Menge Geld in einen Plastikchip von der Größe seines kleinen Fingernagels passt.

»Das war die Summe, die wir unterschlagen haben. Jetzt ist es mehr wert. Als ich mir das letzte Mal den Kurs angesehen habe, fast achthundert Millionen«, sagt Lola verblüffend ruhig. »Und für den Fall, dass du Dummheiten machen willst: Jeder Ordner ist mit einem eigenen Passwort geschützt. Und das kenne nur ich.«

»Das macht mir keine Sorgen, du wirst es uns schon sagen«, sagt Rebo mit überheblichem Lächeln.

Alarmiert, weil er »uns« gesagt hat, dreht Lola sich um.

Rebo zeigt ihr ein Handy.

»Die Tasche mit unseren persönlichen Sachen lag in der Fahrerkabine des Transporters. Ich musste ein bisschen unter den Toten wühlen, glaube aber nicht, dass sie das gestört hat. Als Geschenk habe ich einem das hier abgenommen«, sagt er, lässt die Eisenstange fallen und zieht aus dem hinteren Hosenbund eine Pistole.

Zhenya, die sich bisher weder gerührt noch den Mund aufgemacht hat, beginnt zu weinen.

Lola starrt auf das schwarze Metall und begreift, wie naiv sie war. Rebo hat die Waffe erst gezogen, als sie ihm vertraute. Und hat sie in dem Glauben gelassen, dass sie ihn irgendwie bezwingen könnte. Er war schlauer als sie.

»Wir haben eine Vereinbarung«, wagt sie einen letzten verzweifelten Versuch.

»Bei WhatsApp gibt es eine interessante Funktion.« Auf Russisch ausgesprochen klingt der Name ziemlich komisch. » Live-Standort teilen. Hier gibt es zwar kein Netz, aber ich glaube nicht, dass es ihnen schwerfallen wird, uns zu finden.«

»Verdammter Hurensohn!« Lola springt wutentbrannt auf. »Orlow hätte dich ohne zu zögern getötet.«

»Aber ich habe überlebt«, sagt Rebo schulterzuckend. »Krieg ist Krieg.«

In dem Moment geht die Tür auf.