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Eine Entscheidung

Als Antonia endlich auf dem Dach ist – wegen ihrer Größe ist ihr das Hinaufklettern wesentlich schwerer gefallen als Jon –, um nach ihrem Kollegen zu sehen, kommt Inspector Gutiérrez unten gerade wieder zu sich. Comisaria Romero hat es sichtlich schlechter getroffen. Ein Bein ist unnatürlich gekrümmt, eine Schulter ausgerenkt, und sie hat große Schmerzen, die nach ihrem Jammern zu urteilen noch lange anhalten werden. Sie sind auch mit den Köpfen zusammengestoßen, weshalb sich Jon die Stirn reibt und versucht, sich daran zu erinnern, wie er heißt.

»In deiner Akte steht: Mangelnder Respekt gegenüber Vorgesetzten«, ruft Antonia hinunter. »Mehrmals unterstrichen. Vermutlich war das damit gemeint.«

»Du kennst mich doch. Ich gehe schon bei der geringsten Kleinigkeit an die Decke.«

Selbst Antonia muss lächeln.

»Komm rein. Ich brauche dich.«

Antonias Worte sind prophetisch.

Als er das Wohnzimmer betritt, bedroht Irina Lola mit der Pistole. Die kniet mit dem Lauf an ihrer Stirn auf dem Boden und fleht heulend um ihr Leben.

»Was soll das?«, fragt Antonia auf Russisch.

»Sie muss dafür bezahlen, was sie getan hat«, erklärt Irina.

Sie sieht grauenhaft aus. Ihre Kleidung ist vollgesaugt mit schmutzigem Schnee, und die Wunde am Oberschenkel blutet wieder. Sie kann sich kaum auf den Beinen halten. Aber die Kraft, die es braucht, um einen aufgesetzten Schuss abzufeuern, ist nur gering.

»Das ist keine Lösung.«

»Ich habe die Bilder vom Container gesehen. Neun eingeschlossene Frauen«, sagt Irina. »Wie Frischfleisch zum Verzehr für gewissenlose Tiere. Wie viele haben sie auf diese Weise hergebracht? Wie viele Tote noch? Tot wie meine Schwester?«

»Das war ein Unfall!«, protestiert Lola und zieht die Nase hoch. Ihr Gesicht glüht, die Tränen kullern über die geröteten Wangen.

Irina schlägt ihr ins Gesicht und drückt dann wieder den Lauf auf ihre Stirn.

»Schweigen Sie!«, befiehlt Antonia.

Ein Geräusch an der Tür lässt die vier Frauen – Zhenya verfolgt das Ganze an die Wand gelehnt – herumfahren.

»Ich würde gern wissen, was hier los ist«, fragt Jon, der mit der Pistole in der Hand eintritt. Sie ist auf Irinas Kopf gerichtet.

Antonia macht ihm ein Zeichen, die Pistole zu senken. Jon wirft ihr einen kurzen Blick zu. Schließlich gehorcht er, aber nur widerwillig.

»Was dir passiert ist, kann ich gut verstehen«, fährt sie auf Russisch fort. »Ich habe auch jemanden verloren.«

»Das kannst du nicht verstehen!«, protestiert Irina. Ihr Blick wandert zu Antonia, aber die Waffe auf Lolas Stirn drückt deren Kopf weiter nach hinten.

»Ich verstehe deine Verzweiflung. Dein Schuldgefühl. Zu wissen, dass die Welt kaputt ist und sich nicht reparieren lässt.«

»Dann weißt du auch, warum ich es tun muss.«

»Sie ist schwanger.«

»Ist mir egal.«

Antonia atmet tief ein und schüttelt den Kopf.

»Dann hast du dein bisschen Verstand endgültig verloren.«

Irina verstärkt den Druck auf Lolas Stirn. Sie scheint ebenfalls gleich in Tränen auszubrechen.

Sie wirkt wie ein kleines Mädchen auf Antonia.

»Du verkaufst keine Drogen«, sagt Irina ganz sanft. »Du verkaufst keine Frauen, du nutzt das Elend anderer Menschen nicht aus. Die Regeln wurden vor langer Zeit geschrieben. Und sie ändern sich nicht.«

Antonia holt den Mikrochip aus der Hosentasche und hält ihn Irina in der flachen Hand hin.

»Deshalb bist du gekommen. Ich gebe ihn dir. Aber du musst sie gehen lassen.«

Jon legt seine Hand auf Antonias Arm.

»Du kannst ihr nicht das Geld und die Beweise geben«, sagt er ernst.

Seine Kollegin schaut ihn an. In ihrem Blick steht Traurigkeit, aber auch Entschlossenheit.

»Ich kann nicht zulassen, dass sie sie tötet.«

Inspector Gutiérrez kennt diesen Blick. Hinter ihren grünbraunen Augen spielt sich ein Kampf ab. Ein erbitterter Kampf, bei dem es Opfer geben wird. Sein Polizeiinstinkt kämpft mit seinem Vertrauen in sie. Sein Wunsch nach Gerechtigkeit gegenüber der Notwendigkeit, Lola und ihrem ungeborenen Kind das Leben zu retten.

»Jon, es gibt keinen anderen Weg«, sagt Antonia.

Seufzend lässt Jon ihren Arm los.

Antonia geht zu Irina und hält ihr den Chip hin.

»Nimm ihn«, sagt sie auf Russisch.

»Woher weiß ich, dass er mir nicht in den Rücken schießt, sobald ich mich umdrehe?«, fragt Irina und macht eine Kopfbewegung Richtung Jon.

»Du hast mein Wort. Wenn ich deines habe.«

Irina mustert die beiden.

Jons versteinertes Gesicht, den zusammengepressten Kiefer und die herabhängenden Arme. Seine Waffe zeigt nach unten, aber der zuckende Zeigefinger verrät, was er in Wirklichkeit tun möchte.

Antonia dagegen wirkt gelassen. Sie hält den Chip zwischen Zeigefinger und Daumen.

Irina stellt ihre eigenen Berechnungen an. Die sie lange, ängstliche Sekunden kosten.

Schließlich lässt sie die Waffe sinken. Befreit vom Druck des Eisens, sackt Lolas Kopf nach vorn. Der Pistolenlauf hat einen rechteckigen Abdruck auf ihrer Stirn hinterlassen, im oberen Teil noch einen kreisförmigen.

Sie atmet tief ein vor Erleichterung und vor Wut, als sie sieht, wie Irina den Chip nimmt und zur Tür hinkt.

»Und was sollen mein Sohn und ich essen?«, fragt sie und greift nach Irinas Stiefel, um sie aufzuhalten.

Irina hat zweiunddreißig Jahre – Minute für Minute ihrer zweiunddreißig Jahre – gebraucht, um an diesen Punkt zu gelangen. Sie fühlt sich rein, klar, unbesiegbar, als sie antwortet:

»Scheiße.«