Kapitel 5

Paul befand sich auf dem Heimweg von der Schule. Ganz in Gedanken versunken setzte er einen Fuß vor den anderen, ohne weiter auf seinen Weg zu achten. Als die anderen Kinder seiner Klasse nach dem Unterricht ins Freie gestürmt waren, hatte er sich in der großen Eingangshalle hinter einer Säule versteckt, rasch seine Mütze aufgesetzt und war dann hinaus auf die Straße gelaufen.

Dort hatte er noch gehört, wie Anna rief: »Wo ist denn Paul abgeblieben? Ich habe ihn doch gerade noch gesehen! Jetzt ist er wie vom Erdboden verschluckt. Ich wollte ihn fragen, ob wir uns heute Nachmittag im Räuberwäldchen treffen könnten. Was meint ihr?«

»Mit dem stimmt irgendetwas nicht. Ist euch das nicht auch aufgefallen?« Lukas zog seine Stirn in Falten.

»Ja, das mit dem Zettel auf Max’ Tisch fand ich extrem unheimlich!«, bemerkte Anna. »Wenn es nun wirklich Geister in unserer Schule gibt?«

»So ein Quatsch! Das hat Herr Jablonski doch nur so gesagt. Geschieht ihm schon recht, dem Max. Was muss er auch immer den Paul so piesacken«, meinte Philipp.

»Wir sollten etwas unternehmen! Treffpunkt: Räuberwäldchen. Heute, Punkt vier. Dann eben ohne Paul«, entschied Lukas.

Das hatte Paul alles noch mitgekriegt, bevor seine Freunde auseinandergingen. Natürlich tat es ihm leid, dass er nun nicht mit seinen Freunden verabredet war. Das Räuberwäldchen liebte er heiß und innig. Die Kinder nannten den Ort so, weil ihre Spiele immer um Ritter, Räuber, Waldgeister und andere unheimliche Spukgestalten kreisten.

Letzten Sommer, in den Ferien, hatten sie sich unter hohen Bäumen im Dickicht ein Lager gebaut. Es gab einen richtig stabilen Unterstand mit einem Blätterdach und sogar einen aus Ästen geflochtenen Zaun. Damit waren sie wochenlang beschäftigt gewesen. Zum Schluss hatten sie ihr Werk mit einer Fahne gekrönt. Auf dieser stand in schnörkeliger Schrift: Burg Wolfenstein.

Keiner aus ihrer Schulklasse kannte diesen geheimen Ort. Zum Glück! Vor allem nicht Max und seine Bande. Die waren übrigens nach der Schule rasch verduftet. Scheinbar hatte die unheimliche Botschaft ihre Wirkung nicht verfehlt.

Beim Erledigen der Hausaufgaben musste Paul andauernd an die Verabredung seiner Freunde denken. Ob er einfach hingehen, sich aber unsichtbar machen sollte?

Unschlüssig kaute er an seinem Bleistift.

Entschlossen klappte er sein Schreibheft zu. Er würde hingehen! Unterwegs konnte er dann immer noch entscheiden, ob er seinen Freunden das mit der Unsichtbarkeitsmütze verraten sollte oder nicht. Wo war es eigentlich, das kostbare Teil?

Ach ja! Beim Nachhausekommen hatte er es unter sein Kopfkissen gestopft. Neuerdings war es unheimlich wichtig, sich immer den Platz zu merken, wo er die Mütze versteckt hielt.

»Mutti!«, rief er, als er am Wohnzimmer vorbeischlenderte. »Ich treffe mich mit meinen Freunden zum Spielen im Räuberwäldchen.«

»Ja, in Ordnung. Aber komm nicht zu spät nach Hause! Auf jeden Fall, bevor es dunkel wird. Viel Spaß!«

Noch im Flur setzte Paul die Mütze auf. Ein tolles Gefühl durchflutete ihn! Allmählich konnte er das Unsichtbarwerden richtig genießen.

Er lief in den Keller und hievte sein Fahrrad auf die Straße. Gerade, als er es durch die Hinterhoftür schob, kam Herr Nettelbeck aus der Garage gegenüber. Der Blick des Mannes wurde ganz starr, als er ein Fahrrad mutterseelenallein auf dem Weg rollen sah, ohne dass jemand es steuerte. Stocksteif blieb er stehen und verfolgte das unglaubliche Spektakel mit den Augen.

Paul wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Zu spät war ihm eingefallen, dass ein Fahrrad, welches fuhr, ohne dass jemand drauf saß, bei den Menschen Verwunderung auslösen würde. Schnell legte er es auf den Boden. Dann beobachtete er Herrn Nettelbeck.

Der starrte weiter auf das Fahrrad und fing an, Selbstgespräche zu führen: »Was war das denn eben? Ich habe doch keinen Alkohol getrunken! Vielleicht habe ich einen Sonnenstich? Ist ja auch wirklich heiß heute. Ich muss mich hinlegen und mir einen kalten Umschlag auf die Stirn legen. Sonst glaube ich am Ende noch, ich würde Gespenster sehen.« Und mit schleppendem Schritt verschwand er im Hauseingang.

Paul hatte wieder etwas dazugelernt. Sein Leben als Unsichtbarer war doch schwieriger als gedacht. Man musste alles sehr genau planen, damit man die Leute nicht erschreckte.