Bis zum Räuberwäldchen fuhr Paul nun ohne Mütze auf dem Kopf. Aber am Waldrand angekommen verwandelte er sich wieder in den Unsichtbaren. Sein Fahrrad lehnte er an einen schlanken Baumstamm. Dann steuerte er schnurstracks die Burg Wolfenstein an. Ob seine Freunde schon vollzählig versammelt waren?
Als er näher kam, war ihm, als säße jemand in dem Unterstand. Die Gestalt kauerte auf dem Boden. Dem sonderbaren Wesen fielen lange, blonde, fast farblose Haare über die Schultern und ins Gesicht. Eine Art Nachthemd umhüllte seinen schmalen Körper. Auch dieses war irgendwie farblos.
Da hörte Paul, wie das Wesen leise vor sich hin summte. Die Melodie klang seltsam falsch, aber doch betörend. Auf einmal sah ihm das bleiche Ding direkt ins Gesicht. Es war eindeutig ein Mädchen, und seine nebelgrauen Mondaugen strahlten wie zwei Taschenlampen.
»Hallo! Wer bist du denn? Ich kenne dich nicht. Was machst du in unserer Burg? Die gehört uns. Eigentlich weiß keiner von unserem Versteck.« Paul überschüttete das Mädchen vor Aufregung mit einem ganzen Wortschwall.
»Ich kenne dich schon eine ganze Weile«, flüsterte das unbekannte Mädchen. »Und deine Freunde auch. Seit letztem Sommer weiß ich von eurer Burg. Ich war sogar immer dabei, als ihr sie gebaut habt. Aber ihr konntet mich nicht sehen, denn ich bin von anderer Art.«
Paul verschlug es die Sprache. »Kannst du mich jetzt sehen?«, fragte er mit krächzender Stimme.
»Ich habe dich die ganze Zeit schon sehen können. Aber heute ist es irgendwie anders«, wisperte das bleiche Mädchen und lächelte. »Denn jetzt siehst du ja auch mich.«
Paul dachte nach. Vielleicht hatte das etwas mit der Unsichtbarkeitsmütze zu tun. Ob man, wenn man für die übrigen Menschen unsichtbar wurde, plötzlich merkwürdigen Wesen aus einer anderen Welt begegnete? Entschlossen betrat er den Unterstand und hielt dem Mädchen seine Hand hin. »Also, dann weißt du sicher schon, dass ich Paul heiße. Und wie heißt du?«
Das seltsame Wesen richtete sich auf. Im Stehen war es fast genau so groß wie Paul. Aber obwohl es einem Menschenkind glich, schien es doch ganz und gar durchsichtig zu sein. Es reichte Paul eine dünne, bleiche Hand und sagte: »Ich bin Grusine. Wir könnten Freunde werden.«
Paul schreckte zurück, als er die Hand des Mädchens ergriff. Sie fühlte sich kühl und weich wie Watte an.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Wir sind nicht aus Fleisch und Blut gemacht, sondern aus anderem Stoff. Und wir leben in einer Gegenwelt. Dort haben wir genauso viel Spaß wie ihr. Vielleicht noch mehr. Aber ich wollte so gerne einmal einen Menschenjungen kennenlernen.«
Paul überlegte keinen Augenblick. Eine Gegenwelt! Da lockte ein Abenteuer, von dem alle anderen nur träumen konnten. Natürlich wollte er sich mit dem Nebelmädchen anfreunden. Trotzdem hatte er noch eine Frage: »Also seid ihr Gespenster oder so was?«
Grusine dachte nach. »Nein! So nennen wir uns nicht. Wir sind einfach nur das Unsichtbare Volk aus der Anderwelt.«
Paul schlug vor, dass sie beide die Burg Wolfenstein verlassen sollten. Da seine Freunde jeden Moment hier aufkreuzen konnten, wäre es mit der Ruhe vorbei. Er wollte aber um jeden Preis noch mehr von Grusine und der Anderwelt erfahren.
»Wir könnten hinüber zum Wackelstein gehen. Da sitze ich oft, beobachte die Tiere und spreche mit ihnen.«
»Du kannst mit Tieren sprechen? Wie geht das denn?« Paul staunte nicht schlecht.
Grusine nickte energisch mit dem Kopf und sagte: »Es wird wohl am besten sein, wenn ich vorangehe. Ich kenne den Weg.«
Bereitwillig folgte Paul dem Mädchen tiefer in den Wald hinein. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass Grusine mit ihren Füßen den Boden nicht berührte. Sie trug keine Schuhe, was ja bei dieser Hitze sehr angenehm war, und schwebte etwa fünf Zentimeter über dem Boden.
Schwebte!
Ob sie ihm das beibringen konnte? Schließlich war er unsichtbar, und somit galten andere Regeln. Obwohl, das konnte warten. Erst mal sehen, wo sie ihn hin lockte. Wackelstein hatte sie gesagt. Sehr lustig!
Schon von Weitem sah Paul den seltsam geformten Felsen, der auf einer kleinen Lichtung stand. Er ähnelte einem riesigen Pilz. Je mehr sie sich dem Stein näherten, desto höher ragte er vor den beiden Kindern auf.
»Wie sollen wir da nur hinaufklettern?«
Paul konnte nirgends Felsvorsprünge oder Ritzen entdecken, die seinen Füßen Halt gewährt hätten. Der Stiel des Pilzes war aus glattem, grauem Stein. Und auf ihm lag ein mächtiger Fels wie eine Tischplatte.
»Wieso denn klettern?« Grusine schwebte nun vor Pauls Augen in die Höhe und stand im Nu oben.
»Ja, super! Und was mache ich?«
»Bist du denn noch nie geschwebt? Warte, ich komme wieder runter!« Grusine sank graziös wie ein Blütenblatt zu Boden.
»Ich weiß nicht, ob das bei mir auch funktioniert. Ich bin noch nicht lange unsichtbar und muss mich erst daran gewöhnen.«
»Einen Versuch ist es wert«, sagte Grusine. »Warte, ich helfe dir!«