Kapitel 7

Grusine übte mit Paul erst einmal das Schweben. Dabei kam er sich vor wie ein schwerfälliger Klotz.

»Du musst alle Energie nach oben in die Schultern wandern lassen, bis dein Körper sich leicht wie eine Feder anfühlt. Dann sprichst du leise zu dir selbst hoch, und schon geht es ab in die Lüfte.«

»Wenn ich mich aber nicht traue … Bei mir wandert nichts in die Schultern.«

»Du darfst dich nicht anstrengen! Schließ die Augen und mach dich ganz locker! Ich helfe dir.« Grusine fasste Paul an der Hand.

Schon fühlte er, wie er vom Erdboden abhob. Verblüfft blinzelte er mit einem Auge und sah gerade noch, wie er am Stiel des steinernen Pilzes vorbeischwebte. Dann spürte er harten Fels unter den Füßen. Er öffnete die Augen und staunte nicht schlecht. Tatsächlich stand er jetzt oben auf dem Wackelstein.

Dieser trug seinen Namen zu Recht. Denn als Paul einige Schritte tat, bemerkte er, dass die steinerne Platte leicht schwankte. Schnell setzte er sich neben Grusine. Ihm war schwindlig wegen des Schwebens. Und überhaupt!

»Hier oben ist es wirklich toll! Ich komme mir so groß vor. Beinahe wie ein Riese.«

»Nun erzähl doch mal, was passiert ist!«, forderte Grusine ihn auf. »Wieso kannst du dich auf einmal unsichtbar machen?«

Also erzählte Paul von seinem Besuch bei Tante Hedwig, von der geheimnisvollen Mütze, die sie ihm geschenkt hatte, und von Max, der ihm mit seiner Bande das Leben schwer machte.

»Hedwig kenne ich schon lange!«, rief Grusine erfreut.

»Und wieso hat sie dann nie von dir gesprochen?«

»Weil sie zu den Auserwählten gehört. Und die behalten ihr Wissen für sich. Die Auserwählten, das sind Menschen, die mit der Anderwelt Verbindung aufnehmen können. Wir nennen sie die Weltenwandler. Denn sie erschaffen Welten jenseits ihrer eigenen Welt.«

»Und wie funktioniert das?« Paul war ganz Ohr.

»Sehr einfach: mit Fantasie. Es sind Geschichtenschreiber, Maler, Musiker, Tänzer, Baumeister, Gärtner. Hedwig möchte scheinbar, dass du auch dazugehörst.«

Lange Zeit schwieg Paul. Schließlich sagte er: »Das verstehe ich aber nicht. Ich kann eigentlich gar nichts besonders gut. Außer Kopfrechnen. Das einzige Besondere an mir ist, dass ich der Kleinste in meiner Klasse bin. Und das ist ja nicht gerade eine Superleistung.«

»Ob groß oder klein ist doch schnurzpiepegal. Mir gefällst du so, wie du bist.« Grusine legte tröstend ihre watteweiche, kühle Nebelhand auf Pauls Schulter. »Übrigens gibt es in unserer Welt Leute, die schon erwachsen sind und trotzdem höchstens so groß wie du. Wir nennen sie das Kleinvolk. Also, was machen wir jetzt, wo wir endlich befreundet sind?«

Paul überlegte. »Könntest du mir vielleicht einmal vormachen, wie du mit einem Tier sprichst?«

»Nichts leichter als das. Welches soll es denn sein?«

»Na ja, ich fände es ganz interessant zu hören, wie du mit einem Vogel sprichst.« Paul wollte lieber nichts riskieren. Ein kleines Tier wäre für den Anfang genau das Richtige.

Plötzlich stieß Grusine wahnwitzige Triller, Schnalzer und Gurrlaute aus. Von den Ästen der umliegenden Bäume flatterten, schwebten und segelten unzählige Vögel herab: Amseln, Finken, Buntspechte, Dohlen, Eichelhäher, Spatzen, Goldammern, Kleiber, Rotkehlchen und viele andere.

Paul hielt sich die Hände schützend vor das Gesicht. Die flatternden Gesellen umschwirrten die beiden Kinder wie ein wild gewordener Schwarm Hornissen. Sie vollführten einen Höllenspektakel, bis Grusine ihnen in ihrer Vogelsprache etwas befahl.

Sofort trat Ruhe ein. Die Vögel ließen sich auf den Schultern des Mädchens, auf dem Kopf von Paul, vor, neben und hinter ihnen auf dem Stein nieder. Paul kannte nur die Spatzen und die Rotkehlchen beim Namen. Aber Grusine stellte ihm jeden einzelnen Vogel vor. Sie erklärte ihm auch, was dieser und jener so am liebsten fraß, wo jeder im Wald sein Nest hatte und wer gerade Vogelkinder bekommen hatte.

»Die Vogelsprache ist bestimmt sehr schwierig zu erlernen«, vermutete Paul.

»Nicht, wenn du gut pfeifen kannst«, sagte Grusine.

»Pfeifen kann ich schon, aber nur einen einzigen Ton. Willst du mal hören?« Paul spitzte seine Lippen und gab etwas von sich, das wie das Pfeifen einer altersschwachen Lokomotive klang.

»Amsel, liebe Amsel«, flötete daraufhin Grusine in den wundervollsten Tönen, »komm schnell herbei und sing dem Paul etwas vor, das er lernen kann!«

Eine hübsche, schwarze Amsel erhob sich aus dem Schwarm der Vögel, umkreiste ein paarmal die Köpfe der beiden Kinder und setzte sich dann auf Pauls Schulter. Sie zwitscherte etwas Unverständliches, das wohl eine längere Ansprache darstellte.

Grusine übersetzte: »Die Amsel findet dich sehr nett und fühlt sich geehrt, dass sie deine Lehrerin sein darf.«

Und dann legte diese los. Unermüdlich wiederholte der schwarze Vogel eine kunstvolle, kleine Melodie.

Genauso unermüdlich pfiff Paul sie immer wieder von vorne, bis Grusine in die Hände klatschte und rief: »Jetzt hast du’s! Bravo! Formidabel!«

Daraufhin zwitscherte die Amsel dem Mädchen noch etwas ins Ohr.

»Also, meine Freundin sagt, dass du sie mit dieser Melodie jederzeit rufen darfst. Sie kann mir eine Nachricht von dir bringen, wenn du mich einmal dringend brauchst. Du musst nur einen kleinen Zettel schreiben. Den wird sie dann im Schnabel zu mir tragen.«

»Das ist ja toll«, bedankte sich Paul und pfiff voller Begeisterung gleich noch dreimal die Amselmelodie. »Kennst du auch richtig wilde Tiere, wie zum Beispiel Wölfe?«, wollte Paul daraufhin noch wissen.

»Ja, natürlich. Einer der Wölfe ist sogar mein bester Freund.«

»Kann ich den auch mal kennenlernen?«

»Er ist sehr scheu.« Grusine zögerte. »Aber ich werde ihn fragen.«

Die Zeit mit Grusine auf dem Wackelstein verflog im Nu. Nach und nach hatten sich alle Vögel wieder verabschiedet.

Paul bemerkte mit Schrecken, dass es schon dämmrig wurde. »Oje, ich muss gehen, ich muss schleunigst nach Hause«, seufzte er. »Wo wohnst du eigentlich, Grusine?«

»Überall und nirgendwo. Das erzähle ich dir, wenn wir uns wiedersehen. Du kommst doch wieder, oder? Aber vergiss nicht, jeden Tag das Schweben zu üben!«