Kapitel 8

Das mit dem Schweben hatte Paul gleich fortgesetzt, nachdem er ohne Schwierigkeiten an Grusines Hand von der Aussichtsplattform des Wackelsteins hinabgesegelt war. Schwebend konnte er schneller die Stelle erreichen, wo sich sein Fahrrad befand. Eine Handbreit über dem Waldboden düste er in Richtung Burg Wolfenstein. Er wollte unsichtbar bleiben und nachsehen, ob sich seine Freunde noch in dem Versteck aufhielten.

Sie waren aber nicht mehr da. Als er sich jedoch dem Waldrand näherte, sah er schon von Weitem, wie Anna, Philipp und Lukas um sein Fahrrad herumstanden. Rasch ließ er sich zu Boden gleiten und schlich näher.

Er hörte, wie Anna besorgt sagte: »Das ist Pauls Fahrrad. Da bin ich mir ganz sicher.«

»Und wo ist dann um Himmels willen Paul selber? Er muss ja hier irgendwo sein«, vermutete Philipp.

»Aber nicht bei uns!«, rief Lukas empört. »Scheinbar will er gar nichts mehr mit uns zu tun haben.«

»Lass das doch jetzt bitte! Ich mach mir echt Sorgen. Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen!« Anna blickte sich suchend um.

Philipp fand, dass sie so schnell wie möglich nach Hause aufbrechen sollten. »Aber wir gehen bei Frau Zagermann vorbei und fragen nach Paul.«

Nun war Paul in der Zwickmühle. Er konnte doch jetzt nicht so einfach vor seinen Freunden erscheinen. Aus dem Nichts. Wie ein Geist. Und außerdem wollte er sein Geheimnis um nichts in der Welt preisgeben. Aber er musste auf jeden Fall vor ihnen bei sich zu Hause sein.

Er sah gerade noch, wie sich Anna, Lukas und Philipp auf ihre Fahrräder schwangen und davonbrausten.

Da half alles nichts: Er würde den ganzen Weg zurück nach Hause schweben und sein Fahrrad hier zurücklassen müssen. Hoffentlich fiel ihm unterwegs eine halbwegs brauchbare Erklärung dafür ein.

Paul versuchte, alles genau so zu machen, wie Grusine es ihm erklärt hatte. Er stellte sich hin, machte sich ganz locker, schloss die Augen, sammelte seine Körperschwere in seinen Schultern, und … ab ging die wilde Jagd!

Zwar taumelte Paul zuerst noch wie ein Blatt im Wind, doch allmählich bekam er die Sache in den Griff. Im nächsten Augenblick schwebte er bereits an seinen Freunden vorbei. Er winkte ihnen fröhlich zu, aber dann fiel ihm ein, dass sie ihn ja gar nicht sehen konnten. Ihn. Den rasenden Paul. Schade!

Das kurze Stück Landstraße bewältigte er im Rekordtempo. Es machte riesigen Spaß, die Autos zu überholen.

Der restliche Weg bis zu dem Haus, das er mit seinen Eltern bewohnte, gestaltete sich etwas schwieriger. Denn er musste ständig den Passanten auf den Gehsteigen ausweichen. Allerdings fand Paul es großartig, dass er nun allen Erwachsenen auf Augenhöhe begegnete. Nur eines stimmte ihn nachdenklich: Die meisten von ihnen hatten nicht einmal ein Lächeln auf den Lippen und starrten beim Gehen immerzu mürrisch auf ihre Füße.

Zu Hause angekommen erwartete ihn sein Vater bereits an der Haustüre. Erst im letzten Moment fiel Paul ein, dass dieser ihn gar nicht sehen konnte, solange er die Mütze aufhatte. Deshalb lief er schnell hinter das Haus, nahm die Mütze ab, versteckte sie unter seinem T-Shirt und schlenderte unschuldig lächelnd um die Ecke.

»Du bist spät dran, du Schlingel. Wo hast du dich denn so lange herumgetrieben?«

Paul hörte den liebevollen Unterton in der Stimme seines Vaters. Er atmete auf. Keine Standpauke in Aussicht! Gott sei Dank! »Ach, ich war in unserer Burg. Aber Philipp, Anna und Lukas sind nicht gekommen. Deshalb bin ich ein wenig durch den Wald gestromert.«

»So, so!« Pauls Vater sagte nichts weiter. Aber er musterte seinen Sohn unauffällig. Irgendetwas hatte sich verändert an ihm. Er konnte sich nur nicht erklären, was es war.

»Papa! Du hast doch so viele Bücher in deinem Arbeitszimmer. Gibt es vielleicht ein Buch über eine andere Welt? Eine, die neben unserer Welt existiert?«

Pauls Vater runzelte die Stirn. Was sollte das denn plötzlich? Bisher hatte Paul wenig Interesse an Büchern gezeigt. Seine Vermutung war richtig. Etwas ging in Pauls Kopf vor. Nur was? »Komm erst mal mit nach oben! Wir können ja gleich mal nachschauen. Bestimmt finden wir ein Buch für dich.«

Kaum hatten sie die Wohnungstür geschlossen, klingelte es.

»Das sind bestimmt meine Freunde«, rief Paul, »ich laufe schnell noch mal nach unten!« Und schon machte er eine Kehrtwende. Er rannte die Treppe wieder hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

Tatsächlich standen seine drei Freunde vor der Eingangstüre. Sie starrten Paul ungläubig an.

»Du bist hier?«, sagte Anna. Sie wirkte erleichtert.

»Wo soll ich denn sonst sein?« Paul setzte eine unschuldige Miene auf.

»Wir dachten, wir hätten dein Fahrrad am Waldrand gesehen«, erklärte Lukas.

»Da habt ihr euch eben getäuscht. Ich war gar nicht im Wald.«

Seine Freunde blickten ungläubig.

»Aber …«, setzte Philipp an.

»Na, Hauptsache, dir ist nichts passiert«, unterbrach ihn Anna. »Wir gehen dann jetzt besser.«

Mit Schrecken bemerkte Paul, dass er sich soeben in hässliche Lügen verstrickte. Er war auf dem besten Weg, seine Freunde zu vergraulen. So konnte das nicht weitergehen! »Bis morgen in der Schule!«, rief er den Dreien kleinlaut hinterher.