Kapitel 9

Paul lag im Bett. Auf den Knien balancierte er das Buch, welches er mit seinem Vater ausgesucht hatte.

»Nimm dieses!«, hatte sein Vater ihm geraten. »Als ich so alt war wie du, liebte ich es über alles. Ich konnte nicht genug davon bekommen. Die Geschichten habe ich immer wieder von vorne gelesen. Wenn du in andere Welten eintauchen willst, ist es bestimmt das Richtige.«

»Erfahre ich in dem Buch auch etwas über … sagen wir mal …«– Paul räusperte sich verlegen –» … über Menschen, die kleiner sind als ich?«

»Ja, ich glaube, ich erinnere mich an eine Geschichte. Die ging so …«

Pauls Vater runzelte die Stirn und wollte gerade anfangen zu erzählen, da unterbrach Paul ihn und rief: »Nein, nein! Hör auf! Ich will lieber selber auf Entdeckungsreise gehen.«

»Na schön, tu das! Aber nach einer halben Stunde machst du bitte das Licht aus, sonst bist du morgen völlig unausgeschlafen, wenn die Schule anfängt!«

Paul strich behutsam über den ledernen Einband des dicken Wälzers. Das Buch roch gut, aber er konnte nicht herausfinden wonach. Er drehte und wendete es und bewunderte die goldenen Seitenränder.

Schließlich schlug er es genau in der Mitte auf. Sein Blick fing zwei Namen ein. Jorinde und Joringel stand da. So hieß kein Mensch, den er kannte. Außer Grusine. Die hatte auch solch einen ungewöhnlichen Namen. Und sie kannte er erst seit heute. Vielleicht hatte seine neue Freundin diese beiden, Jorinde und Joringel, einmal getroffen, draußen im Wald. Er konnte sich ja schon mal schlau machen.

Gleich zu Beginn zog ihn die Geschichte in den Bann. Vor seinem inneren Auge sah er das Schloss im Wald in allen Einzelheiten vor sich. Gerade so, als würde er darauf zugehen.

Ehe er sichs versah, schwebte er dahin, auf einem schmalen Pfad, gesäumt von hohen Tannen. Im Wald war es gespenstisch still. Kein Wind wehte, kein Bach rauschte, kein Vogel sang. Nur die Scheibe des bleichen Mondes hing wie eine helle Laterne am Himmel.

Vor ihm überragte ein mächtiger Felsenrücken die Baumwipfel. Und auf seiner Spitze thronte ein lang gezogenes Bauwerk, versehen mit zahlreichen Türmen, Giebeln, Balkonen, Zinnen und Skulpturen. Paul sah, dass im Schloss in manchen Räumen noch Lichter brannten. Also entschied er, dass er dorthin gehen und es aus der Nähe besichtigen wollte.

Vielleicht würde es ihm gelingen, sich heimlich durch eine Hintertür einzuschleichen. Er fragte sich, wie so vornehme Herrschaften wohl wohnten. Vielleicht lebte Grusine in dem Schloss, und sie hatte es ihm nur nicht sagen wollen?

Paul ließ sich herab, bis seine Füße den Waldboden berührten. Den Rest des Weges ging er lieber zu Fuß. Doch je länger er lief, umso weiter entfernte sich das Schloss. Das Gehen strengte ihn jetzt über die Maßen an. Seine Füße hingen wie Bleiklumpen an ihm, sodass er nur noch in Zeitlupe vorwärtsschlurfen konnte. Schließlich entschwand das Schloss gänzlich seinen Blicken.

Völlig verzweifelt setzte sich Paul unter einen Baum und lehnte erschöpft seinen Kopf an den Baumstamm. Die Augen fielen ihm zu.

»Was machst du denn hier mitten in der Nacht?« Jemand flüsterte ihm direkt ins rechte Ohr.

Erschrocken riss Paul die Augen auf. Neben ihm stand Grusine in ihrem Nachthemd, bleich und durchsichtig wie ein Gespenst.

»Das w-weiß ich auch ni-nicht«, stotterte Paul. »Ich lag eigentlich im Bett in meinem Zimmer und blätterte in einem Buch. Dabei bin ich zufällig auf die Geschichte von Jorinde und Joringel gestoßen. Auch ein Schloss kam darin vor. Und als ich mir das Schloss so in meiner Fantasie ausmalte, fand ich mich plötzlich hier im Wald wieder.«

»Na, siehst du! Jetzt bist du eben ein richtiger Weltenwandler. Denen passiert so etwas, ohne dass sie es bemerken. Von einem Augenblick zum nächsten erscheinen sie hier in der Anderwelt.«

»Aber doch nicht mitten in der Nacht! Wenn meine Mutter nach mir sieht und mich nicht in meinem Bett findet, wird sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen. Und spätestens morgen früh muss ich zurück sein. Um acht Uhr fängt die Schule an.«

»Das ist jetzt nicht zu ändern. Weil du nun einmal hier bist, musst du auch eine Weile bleiben«, sagte Grusine und nickte energisch mit dem Kopf. »Aber keine Sorge! Du wirst rechtzeitig zurück sein. Also, über Jorinde und Joringel wolltest du etwas erfahren? Dann komm mal mit!«

Grusine fasste Paul an der Hand, und zusammen schwebten sie durch den vom Mondlicht beschienenen Wald. Noch immer hörte Paul nichts. Es war, als hätte er Watte in den Ohren.

Nach kurzer Zeit kamen sie an einen Ort, wo ein zweiter Mond direkt vor ihnen auf der Erde lag. Doch es war nur ein Trugbild, denn sie hatten einen Teich erreicht. Auf seiner glatten, geheimnisvollen Oberfläche spiegelte sich das Himmelslicht. Am Ufer des Teiches stand ein kleines Holzhaus.

»Hier wohnen Jorinde und Joringel?«, fragte Paul neugierig.

»Nein! Hier wohnen einige meiner Freunde aus dem Kleinvolk. Die wolltest du doch auch kennenlernen. Und die können dir sicher etwas über Jorinde und Joringel erzählen«, antwortete Grusine.