Kapitel 10

Als Paul genauer hinsah, entdeckte er eine brennende Kerze in einem Fenster des kleinen Häuschens. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie mitten in der Nacht fremde Leute besuchen wollten. In seiner Welt hätte man das sehr unhöflich gefunden.

Grusine beruhigte ihn: »Keine Angst! Die Angehörigen des Kleinvolks machen es genau umgekehrt wie ihr. Sie arbeiten in der Nacht und schlafen am Tage.«

Forsch trat sie vor die Tür des Häuschens und klopfte an. Im nächsten Moment wurde die Tür ungestüm von innen aufgerissen, und ein uraltes Männlein erschien auf der Schwelle. Es war nicht größer als Paul und Grusine.

Als der Wicht Grusine erkannte, überzog ein Lächeln sein runzliges Gesicht, und er rief mit heller Stimme:

»Tretet ein, tretet ein,
dies Häuslein klein
soll euer und unser
Herberg’ sein!«

Paul war gespannt, ob das Menschlein aus dem Kleinvolk auch weiterhin in Reimen sprechen würde. Die Tür war so niedrig, dass sie sich beim Eintreten bücken mussten.

Nun standen sie in der Stube. Auf den ersten Blick sah Paul, dass hier alles blitzte vor Sauberkeit. Jedes Ding stand an seinem rechten Platz: eine Eckbank, ein aus schönem Holz gezimmerter Tisch, ein Schrank, drei Stühle und eine Truhe in der Ecke. Nur waren alle Möbel so zierlich und klein, als wären sie für Kinder gemacht.

»Setzt euch, setzt euch!«, forderte der kleine Mann seine Gäste auf. »Grusine, wen hast du denn da mitgebracht? Dein Freund ist auch unser Freund. Das versteht sich, das versteht sich.«

Verlegen starrte Paul auf seine Füße und stammelte: »Mein Name … ist Paul. Ich komme aus der Menschenwelt.«

»Ja, und seit heute ist er mein Freund, denn er gehört seit Kurzem zu den Weltenwandlern. Deshalb ist er noch etwas schüchtern.«

»Oh, bei uns musst du nicht schüchtern sein. Wir sind ein lustiges Völkchen, auch wenn wir immerzu arbeiten. Mein Name ist übrigens Dodupak Wämsken. Stets zu Diensten. Was kann ich euch denn anbieten?« Dodupak schwirrte in der kleinen Stube umher wie eine wild gewordene Hummel, rannte vom Tisch zur Truhe, von der Truhe zum Schrank, wieder zurück, und danach begann alles wieder von vorne.

Unauffällig nahm Paul den freundlichen Kerl dabei etwas genauer unter die Lupe. Sein Gesicht war von dunkler Farbe und ganz und gar runzlig. Langes, weißes Haupthaar hing ihm bis zum Gürtel herab. Er bändigte es mit einem ledernen Stirnband. Ein weißer Bart wogte auf seiner Brust. Eine Tunika aus ungebleichtem Leinen umhüllte seine kräftige Gestalt. Lederne Kniebundhosen und seltsam geformte Schnabelschuhe rundeten das Ganze ab. Paul hatte sich Zwerge immer anders vorgestellt. Mit roten Zipfelmützen und grünen Schürzen. Eben so, wie sie in manchen Gärten in den Blumenbeeten standen.

Dieser Dodupak sah jedoch überaus würdevoll aus und war dabei von liebenswürdiger Wesensart. In Windeseile hatte er für die beiden Kinder Teller, Besteck, Becher, einen Krug mit Gewürzwein, eine Schale mit Nüssen, duftendes Brot und ein Glas mit Pflaumenmus auf den Tisch gezaubert.

»Greift zu und lasst es euch schmecken!«, forderte er sie nun auf.

Paul verspürte keinen Hunger, aber er wollte nicht unhöflich sein. Also nahm er sich ein paar Nüsse und nippte an dem süßen Wein.

»Meine Mitbewohner sind noch in den Gewölben unterwegs. Ihr werdet sie nicht antreffen. Nur ich bin heute zum Hüter der Waldhütte bestimmt worden«, teilte Dodupak den Kindern mit.

»Das trifft sich gut«, sagte Grusine. »Wir können sowieso nicht lange bleiben. Aber vielleicht könntest du meinem Freund etwas über Jorinde und Joringel erzählen. Deshalb ist er ja mitten in der Nacht zurück in den Wald gekommen. Du hast sie doch gut gekannt, die beiden. Oder?«

»Oh, oh, was für eine schlimme Geschichte! Warum willst du die denn hören, mein Junge?«

»Ich fand die Namen so seltsam, und außerdem war von einem Schloss die Rede. Ich glaube, ich habe es vorhin aus der Ferne gesehen.«

»Oh, oh, du bist doch nicht etwa dorthin gelaufen?«

»Nein«, sagte Paul, »ich wollte schon, aber es ging nicht. Meine Füße wollten mich nicht dorthin tragen.«

»Das war auch gut so, denn in dem Schloss wohnt bis zum heutigen Tage eine böse, alte Frau. Wer auf hundert Schritte in die Nähe des Schlosses kommt, den verzaubert sie, sodass er still stehen muss, bis sie ihn wieder losspricht.«

»Dann hat sie wohl auch Jorinde und Joringel verzaubert?«, fragte Paul ängstlich.

»Und ob sie das hat! Jedenfalls Jorinde. Und noch Tausende und Abertausende andere junge Mädchen. Sie alle wurden in Vögel verwandelt und in Käfige gesperrt.«

»Das ist ja ganz schrecklich!« Paul wurde es beinahe schlecht, weil er daran dachte, wie nah er an das Schloss herangekommen war. »Hat denn niemand etwas dagegen unternommen? Was tut ihr eigentlich in der Anderwelt gegen das Böse? In unserer Welt würden wir die Polizei einschalten.«

»Natürlich versuchen auch wir, das Böse zu besiegen. So wie es Joringel tat. Er liebte ja seine Freundin über alles. Und so fand er einen Weg, sie aus den Händen der Zauberin zu befreien. Mut und Tapferkeit sind in unserer Welt die wichtigsten Tugenden. Natürlich gibt es auch so manches geheimnisvolle Beiwerk. Hier war es eine blutrote Blume mit einem Tautropfen in der Mitte. Mit dieser konnte Joringel die Hexe bannen und die siebentausend Vögel aus ihren Käfigen befreien.«

»Aber die böse, alte Frau gibt es immer noch?«

»Ja, tatsächlich«, seufzte Dodupak. »Und wenn wir nicht aufpassen, wird sie weiterhin ihr schändliches Werk betreiben.«

Paul kaute an einer Nuss und schwieg. Scheinbar war es in der Anderwelt nicht weniger kompliziert als in seiner. Man musste vorsichtig sein, um nicht in die Fänge von Menschen zu geraten, die Zauberkräfte besaßen. Wenn noch nicht einmal das Kleinvolk dagegen etwas ausrichten konnte …