»Meistens bemühe ich mich schon, mutig zu sein. Zum Beispiel, wenn mich der Max aus meiner Schulklasse verspottet, weil ich so klein bin. Aber oft wird daraus eine grässliche Rauferei. Könntet ihr mir vielleicht eines dieser geheimnisvollen Mittel verraten? Eines, das mich schneller wachsen lässt?« Paul fielen jetzt beinahe die Augen zu. Er musste schleunigst diesen gemütlichen Ort verlassen. Aber vorher wollte er nicht versäumen, Dodupak um Rat zu fragen.
»Nein, leider nicht«, bedauerte Dodupak. »Darüber haben wir keine Macht, denn wir sind ja das Kleinvolk, und damit müssen wir uns abfinden. Doch klein bedeutet nicht, dass wir Mängelwesen sind. Körpergröße allein ist nicht alles. Die wahre Größe kommt aus dem Herzen. Denke darüber nach!«
Paul und Grusine verabschiedeten sich bald darauf von Dodupak und versprachen, demnächst wieder einmal vorbeizuschauen.
»Wenn ihr dann mehr Zeit habt, können wir euch die unterirdischen Gewölbe zeigen.«
Die unterirdischen Gewölbe? Paul hätte diese am liebsten sofort besichtigt. Aber er musste nach Hause. Dringend!
Grusine kannte den schnellsten Weg hinüber zum Waldrand. Dort befand sich immer noch sein Fahrrad.
»Also, ich muss jetzt wirklich gehen. Danke für alles! Das war die aufregendste Nacht in meinem Leben. Seit ich dich kenne, Grusine, besteht mein Leben nur noch aus Abenteuern.« Ohne nachzudenken umarmte Paul das Mädchen. Es war das erste Mal, dass er sie richtig berührte. Er hätte nicht beschreiben können, was er fühlte. Aber es fühlte sich gut an.
Wenigstens konnte er jetzt in der Nacht ohne Probleme die Mütze auf dem Kopf behalten, während er mit dem Fahrrad nach Hause düste. Sicher war zu so später Stunde kein Mensch mehr auf der Straße.
Als er sich noch einmal umdrehte, um Grusine zu winken, sah er ihre schmale, bleiche Gestalt irgendwie verloren am Waldrand stehen.
Sie sieht trotzdem ein wenig wie ein Gespenst aus, fuhr es ihm durch den Kopf. Aber ich habe keine Angst vor ihr. Ich mag sie. Mag sie sogar sehr.
Später hätte er nicht sagen können, wie er nach Hause gekommen war.
Als pünktlich um halb sieben der Wecker klingelte, kam es Paul so vor, als wäre er eben erst zu Bett gegangen. Er fuhr hoch, und mit einem Plumps landete das schwere Geschichtenbuch neben ihm auf dem Fußboden.
Beim Frühstück saß er stumm da und grübelte.
»Du siehst ja völlig übernächtigt aus. Hast du nicht gut geschlafen?«, fragte Pauls Mutter mitfühlend.
»Bestimmt hat er zu lange gelesen, der Schlingel«, brummte der Vater und versteckte sich hinter seiner Zeitung.
Paul antwortete nicht. Er wirkte völlig abwesend. Die Erlebnisse der vergangenen Nacht beschäftigten ihn. Er überlegte, wie er den Rat von Dodupak Wämsken umsetzen konnte, sollte Max ihn heute in der Schule wieder hänseln.
Mut und Tapferkeit. Das hatte der Alte aus dem Kleinvolk gesagt.
Also gut! Paul wollte versuchen, mutig und tapfer zu sein. Er würde nicht mit Max raufen, sondern einfach weghören, wenn dieser sich zum hundertsten Male über seine Körpergröße lustig machte. Und mit seinen Freunden musste er sich auch wieder einmal verabreden.
Doch dann kam alles anders als erwartet.
Max tat so, als wäre Paul Luft für ihn. Zu Schulbeginn und in der großen Pause stand er mit seiner Bande in einer Ecke des Schulhofs und tuschelte. Es war klar, dass die Kerle etwas ausheckten. Das konnte Paul jedenfalls schon von Weitem sehen. Er hatte heute seine Unsichtbarkeitsmütze zu Hause gelassen, da er den Gefahren trotzen wollte, die auf ihn zukamen.
Philipp, Anna und Lukas gebärdeten sich anfangs ihm gegenüber auch irgendwie komisch.
»Na, dürfen wir heute mal wieder mit dir rechnen?«, fragte Philipp spöttisch.
»Oder verduftest du gleich nach der Schule, ohne dich um uns zu kümmern?«, fügte Lukas hinzu.
»Wieso? Nur weil wir uns mal verpasst haben, braucht ihr doch nicht gleich eingeschnappt zu sein.« Paul zog eine unschuldige Miene.
»Sind wir ja auch gar nicht«, versuchte Anna, den beginnenden Streit zu schlichten. »Was machen wir heute Nachmittag?«
Paul druckste ein wenig herum, denn er dachte an Grusine und daran, dass sie ihn bestimmt im Wald erwarten würde. Aber wenn er sich mit seinen Freunden in der Burg Wolfenstein träfe, könnte sie wenigstens dabei sein. Auch wenn die anderen sie nicht sehen konnten. Er war gespannt, ob er ihre Gegenwart trotzdem spüren würde.
»Also gut. Heute um vier. Im Räuberwäldchen. Abgemacht?«, schlug Lukas plötzlich vor.
Die vier Freunde reichten sich die Hände.
Paul war ehrlich erleichtert.
Doch mit dem, was dann geschah, hatte er nicht gerechnet.
Er hatte Räumdienst, was bedeutete, dass er nach Schulschluss noch eine Viertelstunde im Klassenzimmer bleiben musste. Die Tafel wischen, den groben Schmutz zusammenkehren, nachsehen, ob alle Stühle ordentlich mit der Sitzfläche auf den Tischen abgestellt worden waren. Paul erledigte diese Arbeiten gern und stets zuverlässig.
Jetzt musste er nur noch den großen und kleinen Besen, die Schaufel und den Müllsack in das kleine Kabuff am Ende des Flurs tragen und dort verstauen. Er machte sich nicht die Mühe, das Licht in dem engen Abstellraum anzuknipsen. Hier fand er sich blind zurecht. Ohne auf Geräusche zu achten stellte er jedes Ding an seinen Platz, da fiel mit einem lauten Knall die Tür hinter ihm zu. Erschrocken tastete sich Paul an den Wänden entlang. Aber innen hatte die Tür keinen Griff.
Pauls Herz klopfte schneller.
Er hörte, wie jemand außen leise einen Schlüssel herumdrehte.
»Hilfe, Hilfe!«, schrie er. »Ich bin hier drinnen. Nicht zusperren! Lasst mich raus!«
Vergeblich.
Derjenige, der die Tür abgeschlossen hatte, wollte seinen Hilferuf nicht hören.