Kapitel 16

Pünktlich um drei Uhr nachmittags klingelten die vier Freunde bei Tante Hedwig. Zäkary saß wieder auf der Schulter von Paul.

Die alte Dame war ganz aus dem Häuschen vor lauter Freude, als sie den unverhofften Besuch vor ihrem Gartentor stehen sah. »Das ist ja eine Überraschung!«, rief sie aus! »Kommt rein, kommt rein! Ich backe gerade Fröhliche Jungfrauen, das trifft sich gut. Alleine hätte ich die sowieso nicht aufessen können.«

Anna zuckte zusammen. Jungfrauen backen? War diese Tante Hedwig etwa eine Hexe wie jene aus Hänsel und Gretel? Sie rückte näher an Philipp heran.

Neugierig betraten Pauls Freunde das seltsam verwunschen anmutende Haus. Hedwig führte sie in ihre altmodische Küche, in der alle Geräte, vor allem der uralte Backofen, aussahen, als stammten sie aus einem anderen Jahrhundert. Die Gerüche aber, die ihnen in die Nase stiegen, ließen ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen.

»Wir setzen uns am besten gleich hier an den Küchentisch. Ihr habt sicher schrecklichen Durst. Die Hitze ist in diesem Sommer fast nicht zu ertragen.« Rasch stellte die alte Dame einen Krug mit selbst gemachtem Apfelsaft und fünf Becher bereit. Für Zäkary holte sie ein Schüsselchen mit Milch aus der Speisekammer.

Die Kinder wunderten sich, dass Hedwig kein Wort über Pauls ungewöhnliches Haustier verlauten ließ.

Als sie die Platte mit den leckeren, knusprig braun gebackenen Kugeln auf den Tisch stellte, warfen die Kinder jedoch erst einmal alle Bedenken über Bord und griffen eifrig zu.

»Nun mal raus mit der Sprache!«, sagte Pauls Tante nach einer Weile. »Was habt ihr denn für ein Anliegen? Ohne Grund werdet ihr wohl nicht mich arme, alte Frau besuchen!«

»Na ja«, druckste Anna ein wenig herum, »wir hätten da schon eine Bitte …«

»Und die wäre?« Hedwig machte es den Kindern nicht gerade leicht.

Philipp ergriff das Wort: »Paul hat uns da eine sehr merkwürdige Geschichte aufgetischt. Aber wir wissen nicht, ob wir das alles glauben sollen. Allerdings haben wir gestern im Wald äußerst ungewöhnliche Dinge erlebt. Was durchaus zu der Vermutung führt, es gäbe diese sogenannte Anderwelt tatsächlich.«

»Ja, und nun wollten wir fragen, ob Sie uns auch solche Unsichtbarkeitsmützen stricken würden, damit wir Paul dorthin begleiten und Grusine kennenlernen können.« Anna verhaspelte sich beinahe, als sie diese Worte in einem Atemzug hervorstieß.

»Wie hat es dir denn gefallen, unsichtbar zu sein, Paul?«, fragte Hedwig.

»Man muss sich total umstellen, damit man andere Menschen nicht erschreckt«, antwortete Paul. »Und zuerst war ich selbst ziemlich erschrocken. Aber dann, als ich Grusine sehen konnte und sie mir das Schweben beigebracht hat, fand ich das echt super.«

»Aha! So, so! Die wache Welt, die wir mit unseren Augen sehen und mit unseren Händen greifen können, ist nicht alles, was existiert. Es gibt Welten jenseits der unsichtbaren Grenze, und eine dieser Welten nennt sich Anderwelt. Es ist ein Ort großer Schönheit und ewigen Friedens. Und für die meisten Menschen ist dieser Ort unerreichbar.« Als Hedwig die enttäuschten Blicke der Kinder bemerkte, fügte sie rasch hinzu: »Drei neue Unsichtbarkeitsmützen kann ich natürlich nicht im Eiltempo stricken. Das dauert seine Zeit. Ich kenne aber noch eine andere Möglichkeit, wie ihr in die Anderwelt gelan gen könnt. Hier und jetzt sofort. Dazu braucht es aber etwas Mut. Und wo genau ihr landen werdet, kann ich euch auch nicht vorhersagen.«

Die Kinder sahen sich fragend an und zuckten mit den Schultern, was so viel heißen sollte wie: Wenn es anders nicht geht, dann nehmen wir halt das Risiko auf uns.

»Gut. Wartet bitte einen Augenblick!« Tante Hedwig verschwand in den dunklen Tiefen ihres verwinkelten Hauses.

»Meint ihr nicht, das wird zu gefährlich?«, flüsterte Anna hektisch. »Mir kommt das alles ziemlich unheimlich vor.«

»Sei doch kein solcher Angsthase! Wir sind zu viert. Da wird uns schon nichts passieren. Paul hat ja bisher auch alles überlebt«, beruhigte Philipp sie.

In diesem Moment kam Hedwig zurück. In den Händen trug sie eine bauchige Karaffe aus rötlichem Glas.

Sonnenstrahlen, die durch das Küchenfenster fielen, brachten das Gefäß zum Funkeln und Glühen.

Behutsam stellte die alte Dame die Karaffe auf den Küchentisch und nahm vier kleine Mokkatässchen aus dem Wandschrank. Vorsichtig goss sie eine dicke, grünliche Flüssigkeit aus dem Gefäß in jede Tasse. Sie achtete peinlich genau darauf, keinen Tropfen daneben zu schütten. »Ihr müsst das Getränk in einem Zug hinunterschlucken. Wenn ihr alle gleichzeitig beginnt, dürfte eigentlich nichts schiefgehen.«

Ein ungutes Gefühl machte sich bei den Kindern breit. Aber jetzt war es zu spät, sich das Ganze noch einmal anders zu überlegen.

»Los geht’s! Eins, zwei, drei und ex!«, rief Paul mit einem hysterischen Unterton in der Stimme.