Kapitel 17

Paul blinzelte verwirrt. Es kam ihm so vor, als hätte er unendlich lange geschlafen. Scheinbar lag er aber nicht in seinem eigenen Bett. Ohne die Augen zu öffnen griff er mit der rechten Hand neben sich. Er ertastete einen Arm.

Als er sich zur Seite drehte und die Augen einen kleinen Spalt öffnete, entdeckte er, dass der Arm Lukas gehörte. Neben Lukas lugte Annas blonder Haarschopf unter einer Felldecke hervor, die ein Unbekannter über sie alle gebreitet hatte.

Paul wälzte sich vorsichtig zur anderen Seite. Links neben ihm lag Philipp noch in süßem Schlummer und schnarchte leise vor sich hin.

Die Lagerstatt, auf der sie alle vier ruhten, befand sich anscheinend in einer riesigen Höhle. Flammen verschiedener Feuerstellen erhellten das Gewölbe nur dürftig und malten unheimliche Muster an die rauen Felswände. Diese schimmerten und glitzerten allerdings wunderbar, als wären sie mit lauter Kristallen bedeckt.

Paul hielt den Atem an und lauschte. Er hörte jemanden wispern.

»Ich glaube, einer von den Fremdlingen ist aufgewacht. Hoffentlich fürchten sie sich nicht allzu sehr, wenn sie entdecken, dass sie nicht zu Hause in ihren Betten liegen.«

»Und vielleicht finden sie uns ja hässlich und erschrecken, wenn sie uns sehen«, fügte eine zweite leise Stimme hinzu.

»Wir sollten sie mit unserem Guten-Morgen-Trank begrüßen«, schlug die Stimme Nummer eins vor.

Nun wollte Paul endgültig wissen, wo er sich hier befand. Erinnern konnte er sich an nichts. Auf jeden Fall nicht daran, wie er und seine Freunde hierhergekommen waren. Anna, Lukas und Philipp. Sie waren bei ihm. Gott sei Dank!

In diesem Augenblick spürte er, wie winzige Krallenfüße über sein Gesicht tappten.

Dann schmiegte sich ein weicher, pelziger Körper an seine Wange, und eine wohlbekannte Stimme flüsterte ihm ins Ohr: »Hallo! Ich bin’s. Zäkary. Hast du mich total vergessen? Wenn ich mich nicht in deine Hosentasche geflüchtet hätte, als ihr Hedwigs Transformationselixier zu euch genommen habt, säße ich jetzt mutterseelenallein in der Küche dieser unheimlichen, alten Dame.«

Paul musste lachen. Liebevoll streichelte er die Ratte. Zack war auch hier. Dann konnte ja nichts mehr schiefgehen. Allerdings … Wovon redete der nur? Transformationselixier? Paul konnte sich absolut keinen Reim darauf machen.

»Pssst! Philipp, Anna, Lukas! Wacht auf, ihr Schlafmützen! Wir sind angekommen. In der Anderwelt«, flüsterte Paul.

Lukas wälzte sich auf den Rücken und gähnte lautstark. »Uuuaa! Bin ich müde! Mein Kopf fühlt sich an wie ein Luftballon und mein restlicher Körper wie Wackelpudding. Ich weiß überhaupt nicht, was mit mir los ist. Wo sind wir hier eigentlich?«

Philipp und Anna fuhren mit einem Ruck hoch. Mit großen Augen blickten sie sich um.

»Willkommen in Lyndoria, Fremdlinge!«, hörten sie in diesem Augenblick eine helle Stimme.

Am Fuß ihrer Lagerstatt tauchte ein Kopf auf. Das Gesicht des seltsamen Wesens war ganz und gar mit rötlich braunem Fell bedeckt und ähnelte dem eines Eichhörnchens. Langes, weißblondes Haar reichte dem kleinen Geschöpf, das nicht größer war als ein sechsjähriges Kind, vom Scheitel bis zur Sohle. Kleine, spitze Ohren lugten auf beiden Seiten unter der Haarpracht hervor. Über einem einfachen, grauen Kittelchen trug die Person eine lederne Schürze.

»Ich bin Quädefyn vom Stamme der Lyndorier und bringe euch euren Guten-Morgen-Trank. Danach werdet ihr euch besser fühlen. Und der ungehobelte Kerl da in meiner Begleitung, der euch mit seinem Geflüster aufgeweckt hat, heißt Chädewyn.«

Jetzt blieb den Kindern nichts mehr anderes übrig, als unter der warmen Felldecke hervorzukriechen. Stumm standen sie in Reih und Glied neben ihrer Schlafstätte. Als sie an sich herunterblickten, stellten sie fest, dass sie immer noch ihre normale Straßenkleidung trugen.

Anna ergriff als Erste das Wort. Sie sagte höflich: »Guten Morgen! Ihr seid sehr freundlich zu uns. Vielen Dank für die nette Begrüßung!«

Chädewyn schien ein Junge oder Mann zu sein. Er trug im Gegensatz zu Quädefyn ein kürzeres Kittelchen und lange Hosen. Darunter ragten nackte Füße hervor, die ein wenig wie Gänsefüße aussahen. Das Haar des männlichen Geschöpfes war allerdings genauso lang wie das der Frau.

Nachdem sich alle eine Weile gegenseitig gemustert hatten, sagte Quädefyn: »Ich bin froh, dass ihr keine Angst vor uns habt. Das müsst ihr auch nicht. Wir sind euch wohlgesonnen.«

»Aber wie sind wir denn hierhergekommen? Ich kann mich an gar nichts erinnern.« Paul runzelte die Stirn und trat unruhig von einem Bein auf das andere.

»Angehörige unseres Stammes haben euch vor dem Eingang zu unserem Reich gefunden«, klärte Quädefyn sie auf. »Ihr lagt reglos auf dem harten Boden und fühltet euch eiskalt an.«

Chädewyn mischte sich ein: »Wir dachten schon, ihr wäret tot!«, rief er. »Als wir jedoch feststellten, dass eure Herzen noch schlugen, trommelten wir die Kräftigsten aus unseren Reihen zusammen. Ihr seid nämlich ganz schön schwere Brocken. Sie brachten euch in unsere Gewölbe. Wir legten euch auf ein weiches Mooslager und deckten euch mit warmen Fellen zu. Wie es scheint, habt ihr euch wieder recht gut erholt.«

»Ja, uns geht es so weit gut. Danke!«, sagte Philipp. »Außer, dass wir einen Bärenhunger haben.«

»Ach, du meine Güte! Ihr Ärmsten!« Quädefyn wedelte hektisch mit den Armen und schickte Chädewyn weg. »Schnell! Lauf! Beeil dich! Hole die Apfel-Nuss-Krapfen und Mohnschnecken für die armen Kinder! Und ihr kommt mit mir! Ich zeige euch, wo ihr euch hinsetzen und speisen könnt. Aber trinkt zuerst das da!«

Sie drückte jedem Kind einen Becher in die Hand, gefüllt mit einer milchigen Flüssigkeit. Das Getränk duftete verführerisch, und so nippte Paul vorsichtig daran.

»Hmm! Köstlich! So etwas Leckeres habe ich noch nie im Leben getrunken«, lobte er.

»Es freut mich, dass es dir schmeckt. Und vor allem macht es munter, wenn man morgens nicht aus den Federn kommt«, erklärte Quädefyn freudestrahlend.

Philipp überlegte, dass sich so ein Guten-Morgen-Trank in der Menschenwelt mit Gewinn verkaufen ließe, wenn er das Rezept kennen würde.

Nachdem sie ihre Becher geleert hatten, folgten sie mit neuem Schwung ihrer geschäftigen Gastgeberin.

Der Weg führte sie durch ein unterirdisches Labyrinth. Von einem schmalen Pfad aus verzweigten sich links und rechts Gänge tiefer in den Berg hinein. Überall flackerten die Flammen der Feuerstellen. Viele kleine Gestalten, die im Aussehen Quädefyn und Chädewyn ähnelten, huschten hier und da vorbei und verschwanden wieder in den unzähligen Nebenhöhlen. Alle grüßten freundlich, lachten und schäkerten, manche sangen sogar fröhlich vor sich hin. Keiner zeigte sich verwundert darüber, dass Quädefyn Fremdlinge herumführte.

Die Kinder konnten niemanden entdecken, der größer als ihre Begleiterin gewesen wäre. Diese zeigte schließlich auf eine grob gezimmerte, hölzerne Leiter, die auf eine höher gelegene Plattform hinaufführte. Behände kletterte sie die schmalen Sprossen empor und beschied ihnen, es ihr gleichzutun.

Oben angekommen blieb ihnen vor Staunen der Mund offen stehen. Sie betraten eine Höhle in der Größe einer Bahnhofshalle. In langen Reihen standen blank gescheuerte Holztische. Um jeden von ihnen gruppierten sich niedliche, kleine Hocker, etwa zwanzig an der Zahl. Die Decke und die Wände des Gewölbes glitzerten im Schein unzähliger Fackeln. Quädefyn führte die Kinder an den vielen Tischen vorbei ganz nach hinten, wo sie Chädewyn mit allerlei Pfannen und Tellern hantieren sahen.

»Setzt euch! Setzt euch! Ich habe alles vorbereitet. Es waren nicht mehr genügend Mohnschnecken übrig, deshalb habe ich rasch ein paar Pfannkuchen gebacken. Mir schmecken sie sowieso besser als die Schnecken. Hier! Bedient euch!«

Paul, Philipp, Lukas, Anna und Zäkary ließen sich das nicht zweimal sagen.

Nachdem sie so viele Pfannkuchen und Apfel-Nuss-Krapfen in sich hineingestopft hatten, dass sie meinten, sie würden platzen, saßen sie glücklich und satt auf ihren Hockern.

»Wie kommt es, dass ihr uns so gastfreundlich aufnehmt?«, wollte Anna nach einer Weile wissen. »Wir sind ja Menschenkinder und kommen aus einer völlig anderen Welt. Kennt ihr die Menschenwelt?«