»Wir haben davon gehört. Aber dort gewesen ist noch keiner von uns«, sagte Chädewyn betrübt. »Wir dürfen uns nicht weiter als bis zum Waldrand hinauswagen. Das hat die Große Mutter zum eisernen Gesetz gemacht. Vor langer Zeit war das noch anders.«
»Wer ist denn bitte schön die Große Mutter? Ist sie so etwas Ähnliches wie eine Chefin? Sollten wir sie nicht kennenlernen und uns vorstellen?«, krakelte Zäkary dazwischen.
Philipp machte sich währenddessen Gedanken darüber, wie es für sie hier in Lyndoria weitergehen würde.
»Wir sind ja eigentlich nur deshalb in die Anderwelt gekommen, weil wir Pauls Freundin Grusine treffen wollten«, erzählte Anna.
Paul nickte bejahend mit dem Kopf und fragte: »Kennt ihr vielleicht Grusine?«
»Wir persönlich nicht«, antwortete Chädewyn. »Natürlich werden wir euch zur Großen Mutter führen. Sie weiß bereits Bescheid über euren Besuch in unserem Reich und will euch baldmöglichst empfangen. Sie ist die Weisheit und Güte in Person und leitet unsere Geschicke schon seit mehr als zweihundert Jahren. Bestimmt kann sie euch auch sagen, wo ihr Grusine findet.«
»Du willst behaupten, die Große Mutter ist älter als zweihundert Jahre? Das gibt es doch gar nicht! In unserer Welt kann man höchstens achtzig oder neunzig Jahre alt werden. Es gibt auch einzelne Menschen, die ein Alter von über hundert erreichen. Das sind aber die absoluten Ausnahmen. Und so etwas steht dann bei uns in der Zeitung«, berichtete Lukas.
»Wie alt seid ihr eigentlich?«, fragte Quädefyn.
»Wir sind neun Jahre alt und gehen in die dritte Klasse«, antwortete Paul.
Quädefyn und Chädewyn staunten. In Lyndoria kannten sie niemanden, der so jung war.
»Dafür seid ihr wirklich schon ganz schön groß und stark«, meinte Quädefyn.
Paul schluckte aufgeregt. Jemand fand ihn groß!
»Was meintest du, als du sagtest, vor langer Zeit war das noch anders?«, fragte Anna.
Nun berichteten die beiden Lyndorier, dass die Ältesten ihres Volkes manchmal von Zeiten sprachen, in denen sie im Besitz eines kostbaren Steins gewesen waren. Dieser wundersame Stein hieß Incantabilis.
Mit seiner Hilfe konnte man jegliche Gestalt annehmen. Sich zum Beispiel in Tiere verwandeln und so in der Nähe der Menschen leben. Doch dann war König Atrox mit seinen Strepitern in Lyndoria eingefallen und hatte sich des Steins bemächtigt. Er wollte damit seine Stärke und Macht ins Unermessliche steigern und somit unbesiegbar werden.
»Damals sind viele Angehörige unseres Volkes ums Leben gekommen. Viele mussten ihre geliebten Wohnstätten verlassen und Schutz im Berg Tutaris suchen. Und da leben und arbeiten wir noch heute«, schloss Quädefyn ihren Bericht.
»Hat denn seitdem niemand versucht, den Stein zurückzuholen?«, fragte Lukas voller Mitgefühl.
»Nein, niemals. Wir sind ein friedliebendes Volk und verabscheuen Gewalt. Deshalb versuchen wir, unser Leben hier im Berg und im Wald auch ohne den wundersamen Stein so angenehm wie möglich zu gestalten.«
»Was macht ihr denn den ganzen Tag so?«, wollte Paul wissen.
»Wieso Tag? Am Tag schlafen wir. In Lyndoria wird nur in der Nacht gearbeitet. Es wäre viel zu gefährlich für uns, wenn wir uns tagsüber im Wald aufhielten. Obwohl der Berg Tutaris stets in Nebel gehüllt ist und sich in einem sehr abgelegenen Teil des Landes befindet, müssen wir ständig auf der Hut sein. Es könnte sich ja einmal ein Fremder hierher verirren. Und das würde sehr große Verwirrung stiften. Der Wolken verhangene Berg und der üppige Wald geben uns Schutz und Sicherheit. So können wir unser Leben in vollen Zügen genießen«, sagte Chädewyn und lächelte.
»Dann ist folglich jetzt gerade Nacht«, stellte Philipp fest.
»Genau so ist es. Und nun kommt mit! Wir führen euch zuerst einmal durch unser Reich. Ihr werdet viele Lyndorier bei der Arbeit sehen und sicher neue Freunde gewinnen«, sagte Quädefyn zuversichtlich.
Quädefyn und Chädewyn setzten sich in Bewegung. Den Kindern blieb nichts anderes übrig, als sich an ihre Fersen zu heften. Zäkary saß auf Pauls Schulter und gab von seinem erhöhten Aussichtsplatz aus unentwegt Kommentare ab.
Zunächst mussten sie die steile Holzleiter wieder hinunterklettern. Die beiden Lyndorier taten das so geschickt und flink, als hätten sie ihr ganzes Leben in den Ästen von hohen Bäumen verbracht.
Anna jammerte leise. »Mir wird ganz schlecht, wenn ich nach unten schaue. Ich habe Angst, in die Tiefe zu stürzen.«
Quädefyn sprach ihr Mut zu. Sie riet ihr, ganz langsam einen Fuß nach dem anderen auf die Sprossen zu setzen und dabei nur nach oben zu blicken.
Mit einigem Ächzen und Stöhnen schafften es alle, heil unten anzukommen.
Nun führten ihre beiden Begleiter sie durch einen dunklen, engen Tunnel, auf direktem Weg hin zum Eingang des Berges Tutaris.