Der Eingang in das Reich der Lyndorier lag so gut getarnt am Fuße des Berges Tutaris, dass ein Fremder ihn niemals finden würde. Ein rundes Loch im Felsen führte in das Innere des Labyrinths. Nur eine sehr kleine Person oder ein Tier konnten sich da hindurch zwängen. Dichtes Buschwerk und meterhohe, stachlige Disteln verbargen es vor den Blicken möglicher Eindringlinge. Zur Sicherheit hatten die Bewohner des unterirdischen Reiches noch einen schweren, runden Stein von innen vor den Eingang gerollt. Bewacht wurde dieser von Alasdar, dem Starken.
Als er die beiden Lyndorier mit ihren Besuchern im Schlepptau aus dem Tunnel auftauchen sah, erhob er sich von seinem Hocker, auf dem er Tag und Nacht Wache hielt, und rief: »Fiz perzebus malövum!«
Chädewyn lief schnell zu Alasdar hin und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Der Schlüssel für das Tor in unser Reich ist ein Losungswort. Nur die Angehörigen unseres Volkes kennen es. Es wurde niemals aufgeschrieben, sondern immer nur von Mund zu Mund weitergegeben. Auch ihr dürft es nicht wissen. Ohne das Losungswort kommt man weder aus dem Berg Tutaris hinaus noch in ihn hinein«, erklärte Quädefyn den Kindern.
Paul und seine Freunde hielten eingeschüchtert etwas Abstand von Alasdar, bis der sie mit einem freundlichen Augenzwinkern herbeiwinkte.
»Keine Angst! Auch wenn ich mit Bärenkräften ausgestattet bin, fresse ich doch keine Kinder. Die Freunde meiner Freunde sind auch meine Freunde. Seht euch nur um in unserem Reich! Zu dieser Stunde ist es draußen im Wald besonders schön. Viele von uns verrichten gerade ihre Arbeiten im Freien.«
Daraufhin packte Alasdar den Stein so mühelos, als wäre er mit Luft gefüllt, und rollte ihn ein Stück zur Seite. Eine Öffnung entstand, durch die so kleine Gestalten wie die Lyndorier ohne Mühe hindurchschlüpfen konnten. Für die Kinder aber war der Ausgang beinahe zu eng. Gewaltsam quetschten sie sich an dem harten Stein vorbei.
»Passt auf!«, rief Quädefyn. »Die Stacheln der Disteln brennen höllisch. Ihr müsst euch sehr vorsichtig an diesen Wächterpflanzen vorbei bewegen.«
Wie durch ein Wunder verletzte sich niemand an den dornigen Ungetümen. Die Kinder fanden, dass sie den Namen Wächterpflanzen zu Recht trugen.
Als sie endlich alle Hindernisse überwunden hatten, gelangten sie auf eine mit Gras bewachsene Lichtung. Der Vollmond tauchte den Ort in ein bleiches, geisterhaftes Licht. Es war so hell, dass man beinahe jedes Grashälmchen unterscheiden konnte. Am Rande der Wiese reckten dunkle Tannen ihre Wipfel in die Höhe.
In der Stille hörte man das Glucksen von Wasser. Ein schmaler Pfad führte zu einem Bächlein hinüber. Sie folgten dem Weg, der am Ufer entlang in sanften Kurven einen Hügel hinauf führte.
Zäkary sprang von Pauls Schulter und lief im Zickzack mal hierhin, mal dorthin.
Zwischen den Bäumen und am Wasserlauf entdeckten die Kinder bei genauerem Hinsehen lauter Gestalten, die Quädefyn und Chädewyn aufs Haar glichen. Die kleinen langhaarigen Wesen verrichteten geschäftig allerlei Arbeiten. Manche schöpften Wasser in Gefäße aus blinkendem Kupfer, andere bückten sich unaufhörlich und rupften Grünzeug ab. Wieder andere gruben in der Erde und holten merkwürdige Knollen aus dem Boden.
»Jeder von uns hat eine ganz bestimmte Aufgabe und ist Teil unseres gemeinsamen Lebens. Wenn jeder seine Arbeit gut macht, haben wir alle ein gutes Leben«, erklärte Quädefyn den Kindern.
»Und es gibt niemanden, der sich da querstellt?«, fragte Paul.
»Nein, warum auch? So ist es am besten für jeden Einzelnen«, antwortete Quädefyn.
»Bei uns in der Menschenwelt ist das leider nicht so. Wenn ich da nur an Max denke …«, seufzte Anna. »Ich glaube, wir werden sehr viel von euch lernen können.«
»Und was dürfen wir tun, solange wir eure Gäste sind? Wir sollten nicht einfach nur auf der faulen Haut liegen.« Zäkary wollte sich unbedingt nützlich machen.
»Das wird sich finden, das wird sich finden, nur mit der Ruhe«, sagte Chädewyn.
Inzwischen hatten sie den Gipfel des Hügels erreicht. Hier oben zeigte sich der ganze Zauber der Landschaft rings um Lyndoria. Über ihnen breitete sich das samtblaue Tuch des nächtlichen Himmels aus, auf dem Tausende und Abertausende von Sternen wie helle Edelsteine funkelten. Manche schienen so nah, dass man versucht war, sie vom Himmel zu pflücken. Die Kinder spürten, dass dies ein besonderer Ort war. Man hatte einen Blick weit über das ganze Land. In der Ferne reihte sich Hügel an Hügel. Am Horizont dahinter ragten schneebedeckte Gipfel empor. Wild gezackte Felsgebilde warfen gespenstische Schatten. Ein Wasserfall stürzte mit tosendem Donner in die Tiefe und verteilte feuchte Sprühnebel, die sich angenehm auf der Haut anfühlten. Im Tal unten wand sich ein Flüsschen durch eine Auenlandschaft und mündete in einen See. Wie ein schwarzer Diamant schimmerte seine glatte Wasseroberfläche im Mondschein.
Die beiden Lyndorier führten die Kinder zu einer mächtigen, alten Eiche, deren ausladende Äste einen Ring aus niedrigen Sandsteinblöcken überspannten. Auf jedem dieser Steinhocker hatte ein Lyndorier Platz genommen. Die Gruppe saß dort in vollkommener Stille.
»Was tun eure Leute da?«, flüsterte Philipp. »Sieht aus, als würden sie beten.«
»Kommt mit! Wir halten uns ein wenig abseits, denn wir wollen nicht stören. Dann erklären wir es euch«, sagte Chädewyn. »Das Wort beten kennen wir nicht. Hierher kommen wir, wenn wir das Gefühl haben, wir müssten über unsere Taten und unser Leben nachdenken. Irgendetwas geschieht dann mit uns. Alle Schwere fällt von uns ab. Böse Gedanken, Ängste und Kummer verschwinden wie von selbst. Man fühlt sich erleichtert und gereinigt, erhält neue Energie und geht dann gestärkt in den Tag hinein.«
»Das ist ja fantastisch«, begeisterte sich Paul. »Ob das bei uns auch funktioniert?«
»Ihr werdet es demnächst ausprobieren«, kündigte Quädefyn an. »Aber jetzt zeigen wir euch erst einmal, wie es in den Gewölben unter der Erde aussieht.«