Rasch gelangten sie zurück zum Eingang der Höhle. Wieder mussten sie sich mühsam durch das Gestrüpp und an den grässlichen Wächterpflanzen vorbei zwängen.
»Praktisch, wenn man so klein wie Zäkary ist«, sagte Anna.
Paul fiel auf, dass plötzlich das Wörtchen klein eine große Rolle in seinem Leben spielte.
Chädewyn hob einen faustgroßen Stein auf und klopfte damit auf den wuchtigen Felsklotz, der den Eingang zum Reich der Lyndorier versperrte. Die Klopfzeichen erfolgten in einem geheimnisvollen Rhythmus, den wahrscheinlich keiner außer den Eingeweihten beherrschte. Es dauerte nicht lange, dann wurde der Fels von innen beiseitegerollt, und sie konnten eintreten.
Alasdar strahlte über das ganze Gesicht, als er sah, wer Einlass begehrte. »Und? Gefällt es euch bei uns in Lyndoria?«, wollte er wissen.
»Alles, was wir bisher gesehen haben, war äußerst beeindruckend«, sagte Anna höflich.
»Und wir sind schon sehr gespannt, was hier unten auf uns wartet«, fügte Paul hinzu.
»Ja, dann lasst euch nur nicht aufhalten!«, lachte Alasdar.
Nun ging es erst einmal auf allen vieren wieder durch den engen, dunklen Tunnel. Der hatte scheinbar verschiedene Ausgänge, denn Quädefyn und Chädewyn führten die Kinder diesmal direkt in eine Art Eingangshalle.
Starr vor Staunen und total überwältigt standen sie kurz darauf inmitten eines Waldes aus alabasterweißen Säulen. Hunderte von Fackeln steckten in Halterungen an den rauen Felswänden und warfen flackernde Schatten in den riesigen Raum. Es sah aus, als ob Geister umherhuschten.
Das war aber noch nicht alles. Zauberhafte Klänge füllten den ganzen Raum. Erst nach und nach entdeckten die Kinder einige Lyndorier, die mit kleinen Eisenhämmerchen an die Säulen schlugen und sie zum Klingen brachten. So entstand eine Musik von außerordentlicher Schönheit. Die Klänge verwoben sich zu einem zarten Gespinst, das unter die Haut ging. Ein wohliges Kribbeln machte sich im ganzen Körper breit. Man fühlte sich plötzlich leicht und schwerelos.
»Das ist unser Konzertsaal. Wir Lyndorier lieben die Musik über alles. Jeder von uns kann hier in dieser Halle mitspielen, wenn er das Bedürfnis danach hat. Wenn ihr Lust habt, kommen wir nach unserem Rundgang zurück. Wir zeigen euch dann, wie ihr mit den Hämmerchen umgehen müsst.« Quädefyn winkte die Kinder näher an eine Wand heran.
Erst jetzt entdeckten sie, dass die Wände ringsum mit tanzenden Figuren bedeckt waren.
»Wer hat denn diese schönen Bilder gemalt?«, wollte Philipp wissen.
»Unsere Vorfahren. Die Bilder waren schon immer da und sind bestimmt vierzigtausend Jahre alt. Wir feiern viele Feste hier, und dann tanzen wir auch, bis uns die Füße wehtun«, erklärte Chädewyn.
»Dürfen wir da auch einmal mitmachen?«, fragte Anna begeistert.
Nur schwer konnten sich die Kinder von diesem wunderbaren Raum loseisen. Doch ihr Rundgang hielt noch weitere Überraschungen bereit.
Als Nächstes besuchten sie ein unterirdisches Badehaus. Aus dem Boden sprudelten dort heiße Quellen. In unzähligen steinernen Becken wurde das Wasser aufgefangen. Diese natürlichen Badewannen dienten allen Lyndoriern zur Körperpflege. Manche Becken waren so groß wie ein kleiner See. Gerade tummelten sich einige Angehörige des kleinen Volks darin. Sie planschten, schwammen und hatten jede Menge Spaß miteinander. Die Kinder hätten am liebsten sofort ihre Kleider abgeworfen und wären zu gerne in das warme Wasser eingetaucht.
»Hier bringen mich keine zehn Pferde rein«, wisperte Zäkary, der inzwischen wieder artig auf Pauls Schulter saß. »Ich hasse Wasser!«
Es gab in diesem unterirdischen Reich alles, was man auch in der Menschenwelt kannte: Höhlen, in denen gebacken, geschneidert, gewaschen wurde. Höhlen, in denen Vorräte gelagert wurden. In einigen Gewölben züchtete man seltene Pflanzen, aus denen Arzneien hergestellt wurden.
Überall waren die kleinen Gestalten, die aussahen wie Quädefyn und Chädewyn, emsig bei der Arbeit. Jedes Mal begrüßten sie die Kinder freudig. Es herrschte überall so eine ausgelassene Fröhlichkeit, als wäre Arbeit keine lästige Pflicht, sondern ein herrliches Vergnügen.
Philipp stellte Fragen über Fragen. Besonders interessierte ihn, welche Krankheiten man mit den Arzneien heilen konnte.
»Gegen jedes Leid ist ein Kraut gewachsen«, erklärte ihm Quädefyn.
»Ach, deshalb werdet ihr wohl steinalt«, folgerte er. »Wo wohnt ihr eigentlich, wenn ihr nicht arbeitet?«
»Jeder von uns hat eine eigene Wohnhöhle«, antwortete Quädefyn. »Manche von uns leben gerne zusammen, dann bekommen sie größere Wohnungen. Wer lieber alleine wohnen möchte, bekommt eine eigene, kleinere Unterkunft. Wir haben auch für euch fünf eine Wohnhöhle. Wir gehen später einmal dort vorbei.«
Natürlich waren die Kinder total gespannt, wie so eine unterirdische Wohnung aussehen würde.
Aber zuerst mussten sie noch ihren Antrittsbesuch bei der Großen Mutter hinter sich bringen.