Kapitel 21

Der Gedanke, dass sie gleich der Großen Mutter gegenüberstehen würden, machte die Kinder leicht nervös.

»Wie müssen wir uns verhalten? Macht man einen Knicks oder eine Verbeugung oder was?« Philipp wollte sich auf keinen Fall danebenbenehmen.

»Ihr müsst einfach sein wie immer: nette, höfliche Kinder«, sagte Quädefyn. »Unsere Große Mutter ist nur in ihrem Geist groß, ansonsten gibt sie sich äußerst bescheiden. Natürlich wohnt sie in besonders schönen Gemächern. Wir nennen den Ort Kristallpalast. Ihr werdet schon sehen.«

Und dann standen sie auch schon vor einer Wand aus Kristallglas. Durch die milchige Scheibe konnte man erkennen, dass dahinter ein Raum von der Größe einer Kathedrale lag. Alles darin schien lichtdurchflutet zu sein.

Wieder klopfte Chädewyn, diesmal mit seinem Fingerknöchel, einen vertrackten Rhythmus an die Kristallwand, und wie durch ein Wunder glitt lautlos die Scheibe zur Seite.

Mit pochenden Herzen betraten die Kinder hinter ihren Begleitern das Reich der Großen Mutter.

»Wenn das alles wahr ist, beiße ich mich in den Schwanz«, zischte der Rattenmann und krallte sich auf Pauls Schulter fest.

Die Kinder hatten gar keine Zeit, sich richtig umzusehen.

Ganz hinten in dem riesigen Saal, in dem jeder einzelne Gegenstand aus durchsichtigem Glas gefertigt war, rief eine warme, tiefe Stimme: »Kommt nur näher, liebe Erdenkinder! Ich freue mich sehr über euren Besuch.«

Paul kniff die Augen zusammen. Er entdeckte in einem kunstvoll verzierten Sessel aus Kristall eine winzige Gestalt, die wie alle Lyndorier spitze Ohren, langes, weißes Haar und ein einfaches, graues Kittelchen trug. Der Pelz im Gesicht und an den Armen des Wesens war allerdings nicht rötlichbraun, sondern ebenso weiß wie das Haar. Die alte Frau hatte eine Brille auf der Nase, die beinahe ihr ganzes Gesicht verdeckte.

Die vier Freunde wussten nicht, was sie sagen sollten, deshalb machte Anna einfach einen tiefen Knicks. Daraufhin beeilten sich die drei Jungs und verbeugten sich auch artig.

»Sehr schön, sehr schön!«, lächelte die Große Mutter. »Kommt ganz nah zu mir heran, damit ich euch betrachten kann!«

Die mächtigste Frau von Lyndoria zeigte auf vier weiße, flauschige Daunenkissen, die zu ihren Füßen lagen, und wies die Kinder an, sich darauf zu setzen.

»Du bist also der junge Weltenwandler«, sagte sie und wandte sich Paul zu.

»Wo-woher wissen Sie denn das?«, stotterte Paul verlegen.

»Oh, du musst nicht Sie zu mir sagen. Hier in Lyndoria sagen wir alle du zueinander. Also: Obwohl uns der kostbare Stein Incantabilis vor langer Zeit entwendet wurde und wir deshalb nicht mehr in der Nähe der Menschen leben können, sind wir doch mit einigen von ihnen in Verbindung. Wie zum Beispiel mit Hedwig. Und deshalb weiß ich viel über dich. Auch, dass du ein guter Junge bist. Als wir erfuhren, dass du mit deinen Freunden die Anderwelt besuchen wolltest, freuten wir uns wirklich sehr. Besonders, weil ihr Kinder seid.«

»Was ist denn so besonders an Kindern?« Philipp war diese Frage einfach rausgerutscht. Nun wurde er ganz rot im Gesicht. Wie ungehörig von ihm, die Große Mutter in ihrer Rede zu unterbrechen.

Diese schien es ihm jedoch überhaupt nicht übel zu nehmen. Sie lächelte nachsichtig und antwortete: »Kinder fürchten sich nicht vor einer fremden Welt. Für sie scheint alles möglich zu sein. Alles, was sie sich vorstellen, kann auch Wirklichkeit werden. Ihre Augen sehen Dinge, die den meisten Erwachsenen verborgen bleiben. Deshalb haben wir euch gerne bei uns. Denn ihr könnt unsere Art zu denken und zu leben verstehen und dann in die Menschenwelt hineintragen.«

»Ja, wir haben schon in kürzester Zeit so unglaublich tolle Dinge gesehen und erlebt«, begeisterte sich Anna.

Eifrig schaltete Lukas sich ein: »Das mit dem Steinkreis fand ich toll.«

Auf einmal plapperten die Kinder munter drauf los.

»Und das mit der Musik.«

»Und dass alle füreinander da sind.«

»Und dass Arbeit Spaß macht.«

»Und …«

Die Große Mutter kicherte verschmitzt. »Ganz langsam! Immer mit der Ruhe! Da habt ihr euch ja schon sehr viele Gedanken gemacht. Nun werdet ihr einige Zeit mit uns verbringen. Das bedeutet, dass ihr euch vollkommen in unser Leben einfügen müsst. Wenn es ein Problem gibt oder euch irgendwo der Schuh drückt, könnt ihr immer zu mir kommen. Habt ihr noch Fragen?«

Paul hob zögernd die Hand. »Ich! Ich habe noch etwas auf dem Herzen. Kennst du Grusine, Große Mutter? Wegen ihr wollten wir ja eigentlich die Anderwelt besuchen. Ich muss sie unbedingt finden.«

»Das höre ich wirklich gerne, wenn jemand um seine Freunde besorgt ist. Aber, nein! Leider habe ich persönlich noch nie etwas von Grusine gehört. Das bedeutet jedoch gar nichts. Ich bin nicht allwissend. Dafür habe ich meine Ifosas. Diese sind ständig in ganz Lyndoria unterwegs und bringen mir die wichtigsten Neuigkeiten. Wer, wo, wann, wieso, was in der Anderwelt tut. Ich werde sie nach Grusine fragen. Sobald ich etwas erfahren habe, lasse ich euch rufen.«

Quädefyn und Chädewyn wiesen die Kinder an, sich allmählich von der Großen Mutter zu verabschieden. Die beiden mussten versprechen, sich gut um ihre Schützlinge zu kümmern.

Nachdem sie den Kristallpalast verlassen hatten, ging es auf schnellstem Wege in den Teil des Labyrinths, wo sich die Wohnhöhlen befanden.