Chädewyn führte die beiden Jungs durch endlos lange Gänge zu der Stelle des Labyrinths, wo das Kräuterlabor lag.
Philipp versuchte, sich den Weg genau einzuprägen. Schließlich mussten sie ja später wieder zurück in ihre Unterkunft finden.
Das Kräuterlabor erstreckte sich über mehrere ineinander übergehende Gewölbe. Dort arbeiteten etliche Lyndorier unter dem überaus strengen Regiment von Ruvlasäfus.
»Wen bringst du mir denn da, Kamerad? Ich habe schon von den Fremdlingen gehört.« Der Herr über geheimnisvolle Kräuter, wundersame Mixturen und Tausende von Pillen blickte forschend über seinen Brillenrand.
Philipp wurde rot im Gesicht. Er stotterte: »I-I-ch bb-bin Philipp, und das ist mein Freund Lukas. Ich interessiere mich brennend für Medizin. Ich möchte später einmal Menschen gesund machen.«
»So, so, das möchtest du. Dann musst du zunächst dafür sorgen, dass sie gar nicht erst krank werden«, murmelte Ruvlasäfus in seinen Bart.
Ein Lyndorier mit Bart war den Kindern bei ihrem ersten Erkundungsgang nicht begegnet. Der von Ruvlasäfus reichte ihm bis zum Gürtel. Zusammen mit seiner Brille und den langen, weißen Haaren glich er einem Gelehrten aus längst vergangenen Tagen. Eine Aura von Weisheit und unnahbarer Würde umgab diesen Sonderling wie eine unsichtbare Wand.
»Vielleicht könnt ihr uns ja in eure medizinischen Geheimnisse einweihen? Deshalb möchten wir gern hier mitarbeiten. Dürfen wir?«, fragte Philipp schüchtern.
Der Gelehrte schwieg und strich über seinen Bart.
Philipp trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Was war das denn jetzt? Waren sie hier wohl gar nicht willkommen?
Unter dem forschenden Blick von Ruvlasäfus wurde ihm ganz anders. Lukas drängte sich eng an ihn.
»Also gut«, sagte der gestrenge Leiter des Kräuterlabors plötzlich. »Wir werden es mit euch versuchen. Unsere Geheimnisse geben wir allerdings nicht gerne preis. Die wichtigsten Kenntnisse müsst ihr euch selbst erarbeiten. Habt ihr in eurer Menschenwelt überhaupt schon etwas von Heilpflanzen gehört? Kennt ihr irgendwelche? Wie sie aussehen, wie sie heißen?«
»Kamillentee kenn ich«, antwortete Lukas rasch an Philipps Stelle. »Das sind so gelbe, weiche Kügelchen. Die übergießt man mit heißem Wasser. Den Tee macht mir meine Mutter immer, wenn ich Bauchweh habe.«
»Na, das ist ja schon einmal ein Anfang.« Ruvlasäfus musste sich ein Lächeln verkneifen. Er streckte den beiden Jungen die Hand hin. »Willkommen in meinem Kräuterlabor!«
In der Zwischenzeit hatte Quädefyn Anna, Paul und Zäkary aufgeklärt, dass es keine Bücherei in Lyndoria gab. In ihrer Welt schrieb man nichts auf. Alle Erinnerungen an Abenteuer, Heldentaten, an Schönes und Schreckliches, an Wissenswertes wurden von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Das geschah in besonderen Gewölben: den Gedächtnishallen. Diese Abteilung leitete Fabularia, eine Lyndorierin, die noch älter als die Große Mutter war. Sie hatte ein phänomenales Gedächtnis. Unter ihrer Führung arbeiteten an die hundert Lyndorier, deren Erinnerungsvermögen diese außergewöhnlich begabte Person jeden Tag durch besondere Übungen ebenfalls auf Höchstleistungen trainierte.
Als Quädefyn mit den beiden Kindern in die Gedächtnishallen eintrat, war das Erste, was sie wahrnahmen, ein Murmeln und Raunen, ein Wispern und Tuscheln, ein Summen und Brummen wie von einem Bienenschwarm.
Immer zwei Gehilfen von Fabularia saßen auf kleinen Hockern einander gegenüber. Der eine erzählte dem anderen irgendeine Begebenheit, woraufhin derjenige, der zugehört hatte, seinen Platz verließ und sich einen neuen Partner suchte. Diesem erzählte er nun, was er gehört hatte. Auf diese Weise wurden die Geschichten ständig lebendig erhalten. Der Erzählfluss versiegte niemals, denn die Mitarbeiter dieser Abteilung wechselten sich auch mit Essen und Schlafen ab.
»Da habt ihr euch ja was Schönes eingebrockt«, ließ Zäkary verlauten.
»Ich liebe Geschichten«, sagte Anna. »Und wenn uns Fabularia beibringt, wie man sich möglichst viele merken kann, ist das nur von Vorteil.«
Die eben Genannte eilte herbei und begrüßte ihre Gäste herzlich. »Ich freue mich, dass ihr bei uns mitarbeiten wollt. Auf Neuigkeiten aus der Menschenwelt haben wir lange verzichten müssen. Ihr könnt gleich an die Arbeit gehen.«
Paul und Anna wurden zwei Erzählern vorgestellt, bei denen gerade ein Platz frei geworden war.
Anna saß Murmelsund gegenüber, der sie freundlich anlächelte, auf seine spitzen Ohren deutete und sie bat, unverzüglich zu beginnen. Das Mädchen wusste zuerst nicht, was es erzählen sollte. Plötzlich war in seinem Kopf nur noch eine gähnende Leere.
»Hab keine Angst, Menschenmädchen! Ob lustig oder traurig, ob weise oder dumm, jede Mär ist willkommen«, ermutigte Murmelsund Anna.
Und auf einmal sprudelten die Worte nur so aus Annas Mund heraus. Fabularia kam vorbei und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.
Pauls Erzählpartner war zu Beginn Simmselich, eine winzige Lyndorierin mit spitzbübischem Gesicht. Sie sah aus, als ob sie stets zu irgendwelchen Streichen aufgelegt wäre. Paul fand, dass er ihr etwas Witziges erzählen sollte. Als er in seinem Kopf nach solch einer Begebenheit suchte, fiel ihm keine ein.
Nach einigen Minuten peinlichen Schweigens fing er einfach zu sprechen an, ohne zu wissen, wohin ihn die Worte lenken würden. »Also, vor ein paar Tagen …«
»Tschüss! Ich mach mal ’ne Fliege«, unterbrach ihn Zäkary. »Quädefyn soll mich jetzt zu den Ifosas bringen. Hier ist es mir zu elitär.«
Paul konnte mit dem Wort elitär nichts anfangen, aber er winkte dem Rattenmann fröhlich nach. Im selben Moment wusste er, was er Simmselich erzählen würde: die Geschichten von Max und wie der ihn ständig drangsaliert hatte.