Die Tage im Reich der Lyndorier vergingen wie im Fluge. Sie waren angefüllt mit Arbeit, geselligen Mahlzeiten im großen Speisesaal, mit wundervollen Musikstunden in der Säulenhalle und ausgiebigem Badevergnügen.
Die vier Kinder lernten nach und nach fast alle Bewohner des Berges Tutaris kennen. Es waren wirklich äußerst liebenswürdige Wesen, die den Gästen aus der Menschenwelt ohne Scheu und Vorbehalt begegneten. Aber ihre besten Freunde blieben nach wie vor Quädefyn und Chädewyn.
Jeden Morgen, wenn die Kinder ganz erfüllt von ihrer aufregenden Nacht in ihr Quartier zurückkehrten, fielen sie erschöpft in ihre Betten und schliefen sofort ein. Nur kurz vor dem Aufstehen am Abend fanden sie ein wenig Zeit, sich über ihre Erlebnisse auszutauschen.
Philipp und Lukas erzählten zum Beispiel begeistert, wie sie unter der Anleitung von Ruvlasäfus seltene Wurzeln zerstampft, aus ihnen einen faserigen Brei gekocht und dann mit ausgelassenem Fett zu einer Salbe verrührt hatten. Diese strich man auf Wunden aller Art, damit sie rasch heilten.
Philipp bedauerte es sehr, dass er weder Papier noch Bleistift dabeihatte, um sich die Rezepte aufzuschreiben. »Ich kann mir unmöglich alles merken, was ich hier bei Ruvlasäfus lerne. Wie bringt der das nur fertig, alle diese Rezepturen in seinem Kopf zu behalten?«
»Ja, das möchte ich auch gerne wissen. In unserer Abteilung, bei Fabularia, brummt mir schon nach einer Stunde der Schädel, so viele Geschichten muss ich mir anhören und merken«, jammerte Paul.
»Aber es ist doch auch spannend, was wir alles erfahren«, fügte Anna begeistert hinzu.
Im Steinkreis auf dem Hügel hatten die Kinder ebenfalls schon einige Male gesessen.
»Wie hast du dich denn da gefühlt? An was hast du gedacht?«, fragte Philipp nach so einer Sitzung Paul.
»Na ja! Echt komisch. Man selbst denkt gar nicht wirklich, sondern es ist eher so, als kämen Gedanken angeflogen, die ein anderes Wesen, das klüger ist als man selbst, schon gedacht hat. So etwas mit Gut und Böse …«
»Wo du das jetzt sagst, genau so war es bei mir auch!«, bestätigte Philipp. »Liebe ist gut. Freundschaft ist gut. Treue ist gut. Freiheit ist gut. Ehrlichkeit ist gut. Wir haben schon vorher gewusst, dass alle diese Dinge gut sind. Mit dem Herzen haben wir es immer gewusst. Aber hier sagen es uns die Planeten und die Sterne und durch sie irgendein höheres Wesen. Und danach möchte man niemandem mehr etwas Böses an den Hals wünschen.«
»Genau!«, stimmte Paul zu. »Zum Beispiel ich dem Max.«
Und dann kam der Tag, an dem den Ifosas auf einem ihrer Erkundungsgänge etwas Schreckliches zustieß.
Die Kinder erfuhren zuerst, was vorgefallen war, denn Zäkary stürzte eines Morgens, kurz bevor sie zu Bett gehen wollten, völlig aufgelöst in ihr Quartier.
»Furchtbar! Entsetzlich! So etwas habe ich noch nie gesehen. Mir dreht sich jetzt noch der Magen um!«
»Immer mit der Ruhe! Was ist denn geschehen? Erzähle einfach der Reihe nach!«, versuchte Paul, Zäkary zu beruhigen.
»Ruhe! Ruhe! Wir müssen sofort etwas unternehmen! Hier sind alle in allergrößter Gefahr. Wenn ihr wüsstet, was wir draußen im Wald gefunden haben!«
»Ja, was denn, um Himmels willen? Nun sag schon endlich!«, forderte Lukas Zack auf.
Philipp packte den zitternden Zäkary und hob ihn auf sein Knie.
Der Rattenmann japste noch ein paarmal und begann dann zu sprechen: »Heute auf unserem Erkundungsgang fanden wir oben auf dem Hügel beim Steinkreis … huch, mir wird schon wieder schlecht … drei Lyndorier reglos liegen. Und als wir näher heranschlichen, da – das wollt ihr jetzt bestimmt nicht hören – war überall Blut. Zwei lebten noch, aber einer bewegte sich nicht mehr. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie die drei Ärmsten zugerichtet waren. Überall lange Kratzspuren, an manchen Stellen sah man tiefe Löcher im Körper. Das musste ein Monster getan haben. Wir fürchteten natürlich, dass es sich noch in der Nähe aufhielt. Deshalb konnten wir zunächst gar nichts für die Verletzten tun, sondern wir haben uns schnell auf den nächsten Baum geflüchtet. Und was jetzt kommt, werdet ihr nicht glauben.«
»Was denn für ein Monster?«, riefen die Kinder im Chor. Sie hatten bisher den Worten von Zäkary mit weit aufgerissenen Augen und atemlos gelauscht.
Zäkary fing wieder zu zittern an.
Paul streichelte beruhigend über seinen Rücken. »Ach, du Ärmster! Du musst uns trotzdem alles erzählen. Wenn wir wirklich in so großer Gefahr sind …«
»Ja, das sind wir! Ganz Lyndoria, wenn du mich fragst. Also! Wir lugten durch die dichten Äste des Baumes und hofften, dass dieses Monster kein fliegendes Ungeheuer sein würde, da hörten wir ganz nah beim Steinkreis ein unheimliches Knurren, Kreischen, Jaulen und Knirschen. Irgendwelche Bestien kämpften da einen gnadenlosen Kampf auf Leben und Tod. Keiner von uns rührte auch nur eine Fingerspitze. Völlig erstarrt hockten wir in unserem Versteck. Nach einer Weile legte sich schließlich eine unheilvolle Stille über den Platz. Und dann sahen wir sie. Die Bestie. Sie schlich über die Lichtung. Ich sage euch: ein wahrhaft grauenvoller Anblick!«
Die Kinder rückten enger zusammen. Ganz bleich im Gesicht warfen sie sich angstvolle Blicke zu. Keiner sagte ein Wort.
»Ja! Uns blieb auch jeder Laut im Halse stecken. Ich wollte schreien, aber mein Mund war völlig ausgedörrt. Das Vieh tappte auf Löwenpranken durch das Gras. Auf seinem langen, dürren Hals saß ein Vogelkopf mit Zacken, wie bei einem Drachen. Auch sah ich einen langen, spitzen Schnabel und dünne Arme mit Krallenfingern. Einfach grauenvoll! Wenigstens hatte es keine Flügel. Es zischte laut und hob seinen Kopf in unsere Richtung. Wir saßen halbtot auf unserem Baum. Nach einer Weile trottete das Untier zurück in den Wald. Natürlich traute sich erst mal lange Zeit keiner von den Ifosas vom Baum hinunter. Jemand musste sich aber um die Verletzten kümmern, bevor es zu spät war. Ich habe dann den anderen mit Zeichen zu verstehen gegeben, dass sie noch warten sollten, und bin losgewetzt. So klein und wendig wie ich bin, sind ja die Lyndorier alle nicht. Wenn jemand eine Chance hatte, dem Untier zu entwischen, dann ich.«
»Das war aber unvorsichtig von dir!«, riefen die Kinder. »Jetzt müssen wir sofort zur Großen Mutter gehen und ihr berichten, was da draußen geschehen ist.«