Kapitel 25

Als die Große Mutter den Bericht von Zäkary vernommen hatte, ordnete sie in aller Eile an, dass ab sofort kein Lyndorier mehr das Labyrinth verlassen durfte. Sie vermutete, dass König Atrox mit seinen Horden erneut den Berg Tutaris heimsuchte. Aus den Geschichten von Fabularia wusste sie, dass die Strepiter schreckliche Bestien mit sich geführt hatten, als sie das erste Mal in Lyndoria eingefallen waren. Das war vor mehr als hundert Jahren gewesen. Atrox züchtete diese Tiere, zähmte sie und richtete sie zu Kampfzwecken ab. Er nannte sie Orochien. Mit ihrer Hilfe konnte er jedes Lebewesen überwältigen, ohne eine einzige Waffe zum Einsatz bringen zu müssen.

»Wie ihr wisst, kämpfen wir Lyndorier nicht. Aber wir müssen die Verletzten so schnell wie möglich bergen und dafür sorgen, dass alle Ifosas gesund und heil in die Höhlen zurückgelangen können. Wollt ihr uns dabei behilflich sein?«

Die Kinder und Zäkary fühlten sich einerseits geehrt, dass die Große Mutter ihre Hilfe erbat. Andererseits konnten sie sich nicht vorstellen, sich außerhalb des Labyrinths zu bewegen, wo solche Monster lauerten, wie Zäkary sie beschrieben hatte.

Bangen Herzens hasteten sie hinter einem Bediensteten her, der sie in einen Bereich des Labyrinths führte, den sie noch nicht kannten. Hier hatten sich schon einige der mutigsten Lyndorier versammelt. Chädewyn war auch unter ihnen.

Die Kinder staunten, als sie sahen, mit welch genialen Schutzhüllen die Tapferen den Vorstoß ins Freie wagen wollten. Wie Bienenkörbe aufgereiht standen Gebilde in der Halle, die riesigen Schokoküssen glichen. Jedes Teil war innen mit einem Geflecht aus dünnen Ästen in Form gebracht und außen mit einer dicken Lederschicht überzogen worden. An einer Seite befanden sich schmale Sehschlitze. Immer zwei Personen von der Größe der Lyndorier konnten sich darunter gut verbergen. Diese stabilen Hauben, die bis zum Boden reichten, schützten die darunter aufrecht Stehenden von Kopf bis Fuß und ermöglichten es ihnen auch, sich langsam zu bewegen.

Obwohl es sich um einen so traurigen und auch gefährlichen Einsatz handelte, mussten die Kinder leise kichern. Denn die bereits Verhüllten sahen aus wie wandelnde Iglus. Ob die dicken Lederhüllen auch wirklich den Klauen und den spitzen Schnäbeln der Orochien gewachsen sein würden? Das wusste keiner von ihnen.

Jedes Kind wurde einem Lyndorier anvertraut, der es mit unter seine Hülle schlüpfen ließ. Einige des Rettungskommandos blieben allein, denn es musste ja Platz sein für den Transport der Verletzten.

Als alle fertig gerüstet waren, machte sich die Kolonne auf den Weg. Es gab noch einen zweiten, aber geheimen Ausgang aus dem Höhlenreich, den nur einige wenige Eingeweihte kannten. Am äußersten Ende des Labyrinths lag das sogenannte Runentor. Dieser Name stammte aus einer Zeit, in der in den Höhlen noch keine Lyndorier und auf der Erde keine Menschen gelebt hatten, sondern Bären, Mammuts und Wollnashörner. Die Knochen dieser Urweltbewohner lagen überall zwischen riesigen Felsblöcken in einer Halle, die zum Teil eingestürzt war.

Hier sah es aus wie in einer Höllenlandschaft, in der eine Riesenfaust gewütet und alles kurz und klein geschlagen hatte. Alles wirkte derart gespenstisch, dass niemand jemals freiwillig diesen Ort aufsuchte. Aber der Rettungstrupp musste diesen Weg nehmen, weil er mit seinen riesigen Schutzhüllen nirgends anders durchgekommen wäre. Was die Kinder durch ihre engen Sehschlitze erblickten, jagte ihnen eisige Schauer über den Rücken. Sie bissen die Zähne zusammen und stapften unbeirrt an den gruseligen Überresten einer fernen Vergangenheit vorbei.

Es dauerte ziemlich lange, bis sich die ganze Kolonne einen unterirdischen Hang hinauf gekämpft hatte. Plötzlich öffnete sich der Berg. Gleißend helles Sonnenlicht traf auf einen dichten Vorhang aus schillerndem Grün. Man kam sich vor, als würde man in ein Aquarium eintauchen. Ein Geflecht aus Ranken und Blättern wucherte vor einem Portal, das aus dem Berg hinaus führte. Die Pflanzen verdeckten es so geschickt, dass niemand dahinter einen Weg ins Freie vermutet hätte.

Geschickt schlängelten sich die wandelnden Schokoküsse an den Ranken vorbei, um sich sofort wieder zu einem dichten Haufen zusammenzuschließen. Schließlich sah der ganze Trupp aus wie ein riesiges, braunes Insekt mit einem buckligen Panzer und unzähligen Füßen. Erstaunlich flink bewegte sich dieses Gebilde in Richtung Steinkreis.

Paul und Philipp waren in der vordersten Reihe dabei. Sie mussten die Richtung vorgeben und nach Gefahren Ausschau halten. Merkwürdig … Außer den normalen Geräuschen und Stimmen des Waldes vernahmen sie nicht einen Laut. Kein Fauchen, Brüllen, Kreischen. Nicht ein einziger Orochus ließ sich blicken.

Ungehindert gelangten sie an die Stelle, wo die Verletzten noch so dalagen, wie Zäkary sie verlassen hatte. Behände wie Eichhörnchen kletterten die verängstigten Ifosas von ihrem Baum herunter und flüchteten sich unter die Schutzhüllen, nicht ohne vorher die Verletzten ebenfalls in Sicherheit zu bringen.

In diesem Moment bewegte sich etwas am Waldrand. Etwas Graues, Pelziges kroch auf den Rettungstrupp zu, ganz dicht am Boden entlang robbend.

»Kreis schließen!«, rief der Anführer des Rettungstrupps.

Sofort rückten alle mit ihren Riesenhauben wieder so dicht zusammen, dass kein noch so kleines Tier in den Pulk hätte eindringen können.

Das graue, pelzige Wesen war nun bis auf wenige Zentimeter herangekommen. Es versuchte, sich aufzurichten, aber seine Beine knickten immer wieder unter ihm ein. Mit einem jämmerlichen Jaulen sank das Tier zurück ins Gras.

»Es ist ein Wolf!«, flüsterte Paul dem Lyndorier zu, mit dem er eine Hülle teilte. »Das muss Grusines Wolf sein. Und er scheint ebenfalls verletzt zu sein. Er wollte scheinbar zu uns. Wir müssen ihn unbedingt retten.«