Kapitel 26

Ohne weitere Zwischenfälle kehrte der Rettungstrupp auf dem schnellsten Wege zurück in die sicheren unterirdischen Gewölbe des Berges Tutaris. Die Verletzten wurden dort sofort in die Krankenstation gebracht, wo sich Ruvlasäfus mit seinen Gehilfen voller Hingabe um sie kümmerte. In seiner Obhut ging es ihnen schon bald wieder besser. Sogar der Dritte der Ifosas, der auch während des Transports kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hatte, erwachte aus seiner Ohnmacht, als Ruvlasäfus seine Wunden und Schnitte mit lindernden Salben behandelte und ihm einen Heiltrank einflößte.

Paul war zunächst auf heftigen Widerstand gestoßen, als er in den Reihen des Rettungstrupps darum gebeten hatte, dass auch der Wolf mit hinunter in das Labyrinth getragen wurde. Aber schließlich wurden seine inständigen Bitten erhört. Er half selbst mit, das verletzte Tier unter die Schutzhülle zu ziehen. Mit seiner ganzen Kraft schleppte er dann zusammen mit seinem Partner das schwere Fellbündel die endlos langen Höhlengänge entlang.

»Wir bereiten ihm ein Lager in unserem Quartier«, schlug Paul vor, »so fällt er niemandem zur Last. Wir Kinder werden ihn gemeinsam pflegen.«

Die Lyndorier willigten nach einigem Hin und Her ein. Philipp und Lukas holten sich Rat bei Ruvlasäfus und schleppten Binden, Salben und Tinkturen herbei. Nun konnten sie erstmals ihr erlerntes medizinisches Wissen anwenden, auch wenn es sich dabei um ein krankes Tier handelte.

Als Quädefyn erfuhr, dass die Kinder einen Wolf mit in ihre Stube nehmen wollten, zeterte sie ein wenig, schleppte dann aber bereitwillig einen Berg weicher Felle und Tücher herbei. Paul bettete den Verletzten vorsichtig darauf. Der Wolf wehrte sich nicht und ließ alles klaglos über sich ergehen. An seinen Augen konnten die Kinder ablesen, wie erschöpft, aber auch wie dankbar er war. Und doch erzählte sein gehetzter Blick von dem unsagbaren Grauen, das er erlebt hatte.

»Grusine kann mit Tieren sprechen. Sie wollte es mir beibringen. Aber bisher ist es nicht dazu gekommen«, klärte Paul seine Freunde auf.

»Wozu habt ihr denn mich«, mischte sich Zäkary ein. »Ich werde eine Befragung von Tier zu Tier veranstalten, sobald dieser Wolf wieder einigermaßen auf dem Damm ist. Fest steht jedenfalls jetzt schon: Er muss in einen Kampf auf Leben und Tod mit diesen Orochien verwickelt gewesen sein.«

Der Wolf hob mühsam seinen Kopf, als er das hörte.

»Schaut mal! Er hat Ja gesagt!«, rief Anna aufgeregt. Ohne Furcht trat sie nun näher an das Lager des Tieres heran, bückte sich und kraulte es vorsichtig hinter den Ohren.

Ein leises Knurren stieg ganz tief aus den Eingeweiden des Wolfes auf. Erschrocken wich Anna zurück.

Aber Paul sagte: »Ich glaube, es gefällt ihm, wenn du ihn kraulst. Trotzdem sollten wir ihn jetzt ausruhen lassen. Danach wird Zäkary sich mit ihm unterhalten. Ich mache mir wirklich große Sorgen um Grusine.«

Kurz darauf kam Chädewyn aufgeregt in das Quartier der Kinder gestürmt. Die Große Mutter hatte alle Lyndorier zu einer Versammlung in die Eingangshalle gerufen. Alle sollten sofort ihre Arbeiten unterbrechen und sich schnellstens dort einfinden.

Als die Kinder eintrafen, standen die Lyndorier bereits dicht gedrängt. Eine unheimliche Stille lag über dem Raum, der normalerweise von wundervollen Klängen erfüllt war. Unauffällig mischten sich Anna, Paul, Lukas und Philipp unter die Menge. Zäkary saß auf Pauls Schulter und hielt ausnahmsweise einmal die Klappe. Alle warteten gespannt auf den Auftritt der Großen Mutter. Die Lyndorier vertrauten bedingungslos ihrer Weisheit und klugen Leitung. Welche Maßnahmen würde sie in dieser Gefahrenlage anordnen?

Wieder einmal staunten die Kinder über die zierliche Gestalt, die bald darauf das Gewölbe betrat. Gar nichts an der mächtigsten Frau des Reiches von Lyndoria wies darauf hin, welche besondere Rolle sie hier innehatte. Gekleidet wie alle anderen unterschied sie sich nur durch ihr hohes Alter und ihre komplett weiße Behaarung von ihren Landsleuten. Einer ihrer Bediensteten bahnte ihr einen Weg durch die Menge, hin zu einem Steinsockel, den sie behände erklomm.

Mit drei Hammerschlägen an eine der klingenden Säulen eröffnete sie die Versammlung. »Liebe Lyndorier! Ich habe euch einberufen, weil Lyndoria aufs Neue von König Atrox bedroht wird. Wir wissen noch nicht, was er diesmal im Schilde führt. Bisher kamen, wie ihr sicher erfahren habt, nur einige von uns zu Schaden. Dem Mut und der Tapferkeit des Kleinsten unter unseren Gästen haben wir es zu verdanken, dass wir so schnell gewarnt worden sind. Dafür möchte ich mich zunächst einmal ganz herzlich bedanken.«

Zäkary auf Pauls Schulter zuckte zusammen.

Die Große Mutter winkte mit einer huldvollen Geste Paul zu sich her. Verlegen schritt der nach vorne und kletterte auf das Podest, von dem aus die Große Mutter die Versammlung leitete.

Zäkary auf Pauls Schulter stellte sich auf die Hinterbeine und machte sich so lang, wie er nur konnte. Überaus huldvoll blickte er auf die Menge herab. Die Lyndorier applaudierten mindestens eine Minute lang und warfen ihm stumme Kusshände zu.

»Nun aber zum weiteren Vorgehen«, fuhr die Große Mutter fort. »Wir müssen die Ausgänge unseres Labyrinths befestigen. Auch den geheimen Ausgang, das Runentor. Wachen werden rund um die Uhr Alasdar, den Starken, unterstützen. Niemand darf derzeit den Berg Tutaris verlassen. Wir machen eine Bestandsaufnahme unserer Vorräte. Es kann sein, dass wir ab sofort nur noch Notrationen ausgeben können. Wie lange dieser Zustand andauern wird, kann ich noch nicht sagen.«

Niemand erhob Einwände. Schweigend und mit gesenkten Köpfen nahmen die Lyndorier die Worte der Großen Mutter zur Kenntnis.

Nachdem er kurz nachgedacht hatte, meldete sich Philipp zu Wort. »Vielleicht erfahren wir Genaueres, wenn der Wolf, den wir gerettet haben, wieder bei Kräften ist. Er war ja sicherlich in einen Kampf mit den Bestien von König Atrox verwickelt.«

Die Lyndorier begannen, aufgeregt miteinander zu tuscheln. Paul konnte nicht herausfinden, ob es wegen der Tatsache war, dass sich ein Wolf in ihren Gewölben aufhielt, oder wegen der Erwähnung der Orochien.

»Ja! Das wäre sicher hilfreich«, sagte die Große Mutter nur und beendete die Versammlung.