»Aber ich will hier nicht in den nächsten Wochen und Monaten eingesperrt sein, Notrationen essen und mich zu Tode langweilen«, jammerte Zäkary, als sie wieder in ihrem Quartier angelangt waren. »Wir müssen irgendetwas unternehmen.«
»Ich bewundere die Lyndorier einerseits wegen ihrer Friedfertigkeit. Andererseits bringt es doch nichts, sich hier auf Dauer zu verschanzen. Ich finde, jemand sollte ihnen helfen. Zum Beispiel den kostbaren Stein Incantabilis zurückerobern, damit sie sich wieder ungehindert außerhalb ihres Labyrinths bewegen können«, sagte Anna.
»Du bist wohl von der Tarantel gestochen worden! Warum sollten das denn ausgerechnet wir tun?«, fragte Lukas.
»Anna hat recht. Gerade wir sind dazu geeignet«, mischte sich jetzt Paul ein. »Seht mal, das alles hat doch sicher einen Sinn und Zweck. Allmählich glaube ich, dass wir nicht einfach nur zum Spaß hier sind. Bestimmt haben wir eine Mission zu erfüllen. Nur wissen wir im Moment noch nicht, um welche es sich handelt. Zuerst bekam ich diese Mütze, mit deren Hilfe ich mich unsichtbar machen konnte. Dadurch habe ich Grusine kennengelernt. Und Zäkary. Dann hat uns Hedwig mit ihrem Trank ausgerechnet hierher nach Lyndoria geschickt. Jetzt denkt doch einfach mal scharf nach!«
»Schön und gut! Vielleicht hast du ja recht. Aber in meinem Oberstübchen ist nichts als Leere. Nichts will sich zusammenfügen«, stöhnte Philipp auf.
Erschöpft sanken die Kinder auf ihre Betten, um gleich darauf wieder hochzuschrecken. Aus der Ecke, wo der Wolf sein Lager hatte, drang ein leises Jaulen an ihr Ohr. Sofort sprangen sie auf und scharten sich um das Tier. Es schien ihm etwas besser zu gehen. Als die Kinder den Wolf umringten und sich zu ihm niederbeugten, hob er seinen Kopf und stellte seine runden Ohren auf. Seine gelben Augen funkelten wild und gefährlich. Mit seinem buschigen Schwanz peitschte er einmal durch die Luft und ließ ihn dann wie eine breite Schleppe zu Boden sinken.
Dann begann der Wolf zu sprechen: »Ihr müsst keine Angst vor mir haben! Ich bin nicht der, den eure Geschichten und Fabeln immer in so düsteren Farben malen. Der böse Wolf! Ha! In früheren Zeiten lebten Mensch und Wolf recht gut zusammen. Aus den Tiefen der undurchdringlichen Wälder beobachteten die Wölfe die Menschen. Wir waren Zeuge, als sie das Feuer bändigten und fremdartige Werkzeuge bauten. Wir lauschten ihren Gesängen und sahen ihre Schatten um das helle Feuer tanzen. Man erzählt sich, dass einige von uns Wölfen sich den Menschen anschlossen und mit ihnen am Feuer saßen. Für sehr lange Zeit lebten wir zusammen, denn unsere Wesen waren sich sehr ähnlich. Aber dann wurden wir uns immer fremder. Wir jagten uns gegenseitig die Beute ab. Als die Menschen immer mehr wurden, begannen sie gegeneinander Kriege zu führen. Von uns gibt es nur noch wenige, wie auch die Wälder immer weniger werden. Die Menschen zerstören sie. Deshalb habe ich mich in die Anderwelt zurückgezogen. Aber ich beobachte euch immer noch.«
Mit fragenden Blicken sahen sich die Kinder an. Träumten sie, oder hatten sie gerade wirklich die Worte des Wolfes verstanden? Vielleicht hing das auch mit der Anderwelt zusammen? Hier galten eben andere Gesetze. Die Grenzen zwischen Mensch und Tier waren scheinbar aufgehoben.
Paul raffte sich als Erster auf und stellte eine Frage: »Aber was ist passiert? Warum bist du so schwer verletzt?«
Der Wolf schloss für einen kurzen Moment die Augen und seufzte. »Ich muss mich bei euch bedanken. Ihr habt mich gerettet! Alleine hätte ich es dieses Mal nicht geschafft. Also! Das ist eine lange Geschichte. Wollt ihr sie hören?«
Es funktionierte tatsächlich! Sie konnten wirklich und wahrhaftig mit einem Wolf sprechen!
Nur Zäkary war ein wenig beleidigt. Nun wurde er nicht mehr als Dolmetscher gebraucht. Doch man konnte ja nie wissen. Deshalb setzte er sich vorsichtshalber zwischen die Pfoten des riesigen Tieres, um ja kein Wort zu verpassen.
»Also«, begann der Wolf, »ich komme aus dem Land jenseits des großen Flusses. Meine Heimat sind die dichten, dunklen Wälder, in die sich nur selten ein Mensch verirrt. Dort im Wolfsland, wo die Bäume fast in den Himmel wachsen, bin ich in einer Höhle zur Welt gekommen. Mein ganzes Leben lang werde ich mich an den Duft meiner Mutter erinnern. Warm und weich in ihren Pelz gebettet verbrachte ich die ersten Wochen wie fast alle Tier- und Menschenkinder. Essend und schlafend und schlafend und essend. Ich hatte auch drei Geschwister. Für meine Eltern war es schwer, immer genug Nahrung für uns aufzutreiben. Wir hatten nämlich einen Mordsappetit und wuchsen wie die Teufel.
»Genau wie ich«, quäkte Zäkary dazwischen.
»Sei still, du Gernegroß! Jetzt rede ich«, knurrte der Wolf. »Alles war, wie es sein sollte, und es hätte ewig so weitergehen können, wenn nicht eines Tages etwas Schreckliches passiert wäre. Im Morgengrauen – wir Jungen ruhten todmüde von der nächtlichen Jagd in unserer Höhle – war mir, als hörte ich Geräusche. Seltsam fremde. Auch ein merkwürdig strenger Geruch hing in der Luft, den ich nicht deuten konnte. Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, einen Pirschgang zu unternehmen. Doch ich hatte einfach keine Lust, unsere warme Höhle zu verlassen, machte mir nicht groß Gedanken und schlief wieder ein. Das war ein Fehler. Kurz darauf weckte mich ein Krachen und Poltern. Bevor ich mich bewegen konnte, hörte ich einen ohrenbetäubenden Knall, und die Höhle stürzte ein. Meine Geschwister und ich lagen unter Erdbrocken und Steinen begraben.«
»Du Ärmster!«, rief Anna mitleidig. »Und wie bist du da wieder rausgekommen?«
»Als ich wieder zu mir kam«, fuhr der Wolf fort, »war mir, als müsste ich ersticken. In wilder Hast fing ich an zu scharren. Schaufelte blindlings Erde und Steine weg. Ich wollte raus, nur raus! Nicht lebendig begraben sein. Nicht jetzt schon sterben müssen. Nie wieder den blauen Himmel sehen. Dieser Gedanke rettete mein Leben. Plötzlich sah ich ihn. Den Himmel. Ein winziges Stück Blau wurde mein Wegweiser in die Freiheit. Ich arbeitete wie ein Besessener und nahm die Zähne zu Hilfe, um den Erdspalt zu erweitern. Endlich konnte ich mich hindurchzwängen. Geblendet vom hellen Tageslicht rannte ich blindlings los. Ich rannte um mein Leben.«
»Aber was war geschehen? Warum ist die Höhle eingestürzt?«, fragte Philipp, der immer alles ganz genau erklärt haben wollte.
»Da waren Männer. Ich weiß nicht, woher sie kamen. Sie waren in den Wald eingedrungen, um eine Straße zu bauen. Dafür fällten sie alle Bäume, die im Weg standen. Hunderte von Bäumen sind so ums Leben gekommen. Einer davon muss auf unsere Höhle gestürzt sein.«
»Und was ist mit deinen Geschwistern geschehen?«, riefen die Kinder im Chor.
»Ich weiß es nicht. Niemals habe ich seitdem meine Eltern und Geschwister wieder gesehen. Ich habe damals nur an mich gedacht. Wie ich meine Haut retten konnte. Dafür schäme ich mich bis heute. Und deshalb habe ich mir geschworen, nie mehr feige und selbstsüchtig zu sein. An jenem Unglückstag lief ich ohne Pause, bis es Abend wurde. Meine Pfoten wurden wund, und ich keuchte vor Erschöpfung. Erst als ich vor einem breiten, träge fließenden Wasser stand, hielt ich an. So viel Wasser hatte ich noch nie gesehen. Vorsichtig trank ich ein paar Schlucke, dann kühlte ich meine heißen, schmerzenden Pfoten, und dann – oh, es war wunderbar – legte ich mich in eine flache Mulde und ließ mir von den plätschernden Wellen den Schmutz aus dem Pelz spülen. Langsam fühlte ich mich besser. Der Nebel in meinem Gehirn löste sich auf. Und dann sah ich sie.«
»Sie, sie, sie! Welche sie denn, bitte schön?«, quiekte Zäkary ungeduldig.
Der Wolf verpasste ihm einen freundlichen Klaps mit seiner Pfote.
»Mit sie meinst du bestimmt Grusine«, sagte Paul. »Ich hörte, dass du ihr Freund bist. Sie hat es mir erzählt. Und sie wollte mich dir vorstellen. Aber nun ist alles anders gekommen. Du bist verletzt, und in ganz Lyndoria weiß niemand etwas von Grusine.«
»Ich werde euch von Grusine erzählen, aber erst muss ich mich wieder ein wenig ausruhen. Ihr solltet das auch tun, denn uns stehen harte Tage bevor.«