Kapitel 28

Mithilfe der wunderbaren Medizin von Ruvlasäfus und der liebevollen Pflege der Kinder erholte sich der Wolf in Windeseile. Bald war er wieder so weit hergestellt, dass er mit den Kindern und Zäkary Pläne schmieden konnte. Er verriet ihnen seinen Namen: Rojkus. Grusine hatte ihn so getauft.

Nur widerstrebend erzählte er ihnen von seinem Kampf, der Ursache seiner schweren Verletzungen war.

Scheinbar hatte sich das Ganze ungefähr so abgespielt: Einige Männer in Eisenrüstungen waren aus heiterem Himmel aufgetaucht, als Grusine an ihrem Lieblingsplatz am stillen See saß. Sie umzingelten das Mädchen, fesselten es und schleppten es fort. Obwohl es wie wild um sich schlug, kratzte und biss.

In ihrer Not pfiff Grusine die Amsel herbei und bat sie, ihren Freund Rojkus zu rufen. Gerade, als die Eisenmänner das Mädchen auf ein Pferd warfen, um es dort festzubinden, brach Rojkus durchs Gebüsch und griff den Erstbesten der Entführer an. Gegen seine Eisenrüstung konnte er jedoch nichts ausrichten. Er litt Höllenqualen, als er Grusine schreien hörte.

Einer der Entführer rief dann seine Bestie herbei. Der Orochus stürzte sich auf den Wolf. In einem mörderischen Kampf gelang es Rojkus, das grässliche Vieh abzuschütteln. Doch inzwischen waren die Eisenmänner mit Grusine bereits davongaloppiert. Der Orochus ließ von dem schwer verletzten Wolf ab und hetzte hinter der Meute her.

»Aber Grusine lebte noch, als sie auf dem Pferd lag?«, fragte Paul mit zittriger Stimme.

»Zumindest hörte ich ihre Schreie noch lange, obwohl ich ohnmächtig wurde. Auch jetzt höre ich Grusine in meinen Träumen nach mir rufen …«

»Seht ihr!«, wandte Paul sich nun mit Bestimmtheit an seine Freunde. »Und deshalb müssen wir aufbrechen und Grusine retten. So schnell es geht!«

»Ja, lasst uns etwas unternehmen, bevor es zu spät ist!« Zäkarys Äuglein funkelten unternehmungslustig.

»Woher wissen wir überhaupt, wohin wir unsere Schritte lenken sollen?«, fragte Anna.

»Ich werde die Fährte aufnehmen. Das ist schließlich meine Natur.« Rojkus erhob sich von seinem Lager.

Nun konnten die Kinder ihn erstmals in voller Größe bewundern. Hoch aufgerichtet reichte er Paul bis zu den Schultern. Ehrfürchtig umringten die Kinder dieses majestätische Wesen der Wildnis.

Und als der Wolf sagte: »Gemeinsam sind wir stark. Lasst uns nach Norden aufbrechen, in das Land, das König Atrox besetzt hält!«, da wuchs in ihnen die Überzeugung, dass sie in seiner Obhut allen Gefahren trotzen würden.

Sie konnten aber nicht fortgehen, ohne sich von der Großen Mutter zu verabschieden. Philipp und Lukas liefen rasch in den Speisesaal, um Chädewyn zu suchen. Tatsächlich fanden sie ihn und Quädefyn mit der Vorbereitung einer Mahlzeit beschäftigt. Als die Jungen von ihrem Plan sprachen und darum baten, zur Großen Mutter geführt zu werden, redeten die beiden mit Engelszungen auf sie ein. Ihre lyndorischen Freunde wollten sie um jeden Preis von ihrem Vorhaben abbringen. Schließlich ließen sie sich aber erweichen und geleiteten die Kinder zum Kristallpalast.

Dort wurden sie auch gleich von der Großen Mutter empfangen. Man sah ihr an, dass schwere Sorgen auf ihr lasteten. Als sie hörte, welchen Plan die Kinder geschmiedet hatten, zog ein Schatten über ihr gütiges Gesicht.

»Ihr seid sehr mutig, und ich bin ganz gerührt, dass ihr dem Volk der Lyndorier einen solchen Dienst erweisen wollt. Ihr habt eigentlich schon genug für uns getan. Ich weiß nicht, ob ich erlauben soll, dass ihr euch diesen Gefahren aussetzt.«

»Bitte stell dich uns nicht in den Weg! Wir würden auch ohne deine Erlaubnis aufbrechen, um Grusine zu retten«, sagte Philipp mit aller Entschiedenheit.

»Aber wenn du uns deinen Segen gibst, würde es unser Gewissen nicht so belasten«, fügte Paul hinzu.

»Nun gut!«, seufzte die Große Mutter. »Wie ich sehe, kann euch nichts von eurem Vorhaben abbringen. Dann müsst ihr wenigstens einige meiner Talismane mitnehmen.« Die Große Mutter erhob sich von ihrem Kristallsitz und eilte hinüber zu einem niedrigen Tischchen, auf dem eine schön geschnitzte Schatulle aus Ebenholz stand. Sie winkte die Kinder herbei. Dem Behältnis entnahm sie geheimnisvoll aussehende, kleine Gegenstände. Als Erstes hängte sie jedem Kind ein Knochenstück, das auf ein Lederbändchen gefädelt war, um den Hals. Dabei murmelte sie ein ums andere Mal: »Möge die Kraft dieses Tieres auf dich übergehen!« Danach fischte sie vier Beutelchen, gefertigt aus weichem Leder, aus der Schatulle. »Diese sollt ihr immer am Körper tragen!« Sie öffnete eines und zeigte den Kindern, was es enthielt. In das Leder waren magische Zeichen eingeritzt. Außerdem nahm sie zwei winzige Phiolen aus dem Beutel. »Diese Elixiere sind überaus kostbar. Ruvlasäfus stellt davon nur ganz kleine Mengen her. Wir setzen sie ausschließlich in Notfällen ein. Aber ihr werdet sie brauchen. Das grün schillernde Fläschchen enthält einige Tropfen einer Flüssigkeit, die unsichtbar macht. Die Wirkung hält nicht länger als vierundzwanzig Stunden an, aber das könnte euch einmal von Nutzen sein. Die durchsichtige, wasserhelle Flüssigkeit ist die gefährlichste. Sie lässt euch schrumpfen. Ihr werdet auf die Größe von etwa einer Daumenlänge verkleinert. Das ermöglicht euch, durch Ritzen zu kriechen und in Räume einzudringen, die euch sonst verschlossen bleiben würden. Außerdem könnt ihr euch so unauffälliger bewegen.«

»Und wie erhalten wir unsere eigentliche Größe wieder zurück?«, fragte Anna verzagt.

»Keine Sorge! Die Wirkung des Elixiers lässt mit der Zeit nach. Zentimeter um Zentimeter werdet ihr dann wieder wachsen.«

Mit einem leichten Bauchgrimmen nahm nun jedes Kind eines dieser Lederbeutelchen in Empfang. Insgeheim hofften sie, dass sie von den Zauberdingen nie Gebrauch machen müssten.

Die Große Mutter küsste jedes von ihnen auf die Stirn und murmelte dabei abermals zauberische Worte. Dann gab sie einem ihrer Bediensteten die Anweisung, er solle in der Küche für die Abenteurer einen Rucksack mit Proviant packen lassen.

»Geht jetzt und kehrt wohlbehalten zu uns zurück!« Mit diesen Worten wandte ihnen die mächtigste Frau Lyndorias den Rücken zu.

Aber Paul hatte gesehen, dass sie Tränen in den Augen hatte. Oh Gott! Auf was haben wir uns da nur eingelassen?, dachte er, behielt die Gedanken jedoch für sich.