Kapitel 29

Eine bleigraue Wolkendecke hatte die Sonne geschluckt und die Gebirgslandschaft in ein Totenreich verwandelt. Nebelfetzen waberten aus Erdspalten, ein unheimlicher Wind pfiff um die Felsnadeln, die wie Gerippe urzeitlicher Riesenechsen aus dem Boden ragten.

Wie eine Antwort auf die Drohgebärden des Windes grollte ein zorniger Donnerschlag über die Wipfel der Berge und wurde von den Schluchten und Hängen dutzendfach zurückgeworfen. Dann öffneten sich die Schleusen des Himmels, und Regen setzte ein.

Im Nu waren die Kinder bis auf die Haut durchnässt. Wassermassen stürzten herab. Man kam sich vor wie auf dem Meeresgrund. Von allen Seiten schwappte das nasse Element um die erschöpften Reisenden herum. Sie bekamen kaum Luft, konnten nicht mehr atmen. Einen Unterschlupf zu suchen war unmöglich, weil man nicht die Hand vor Augen sah. Die einzige Rettung war: sich zu ducken, wie eine Kugel zusammenzurollen und abzuwarten.

Den ganzen Tag lang waren die Kinder zusammen mit Rojkus und Zäkary gewandert. Viele Stunden hatte der Abstieg vom Berg Tutaris gedauert. Rojkus kannte alle geheimen Pfade und Steige. Er und Zäkary fanden sich auch in der Dunkelheit ausgezeichnet zurecht. Aber die beiden Tiere mussten Rücksicht auf die Kinder nehmen, die sich bei Nacht mit ihren Menschenaugen und -ohren sehr unsicher bewegten. Ständig fürchteten sie, Männer in Eisenrüstungen würden hinter den Bäumen lauern und sich auf sie stürzen. Aber nichts geschah.

Nach dem mühsamen Abstieg ging es Stunden um Stunden am Fluss entlang. Als die Gruppe den Wald hinter sich gelassen hatte, beleuchteten wenigstens Mond und Sterne ihren Weg, sodass sie schneller vorankamen. Ohne zu rasten umrundeten sie auch noch den See und erreichten im Morgengrauen den Saum der Berge.

»Hier gibt es bestimmt eine Höhle, in die sich Wölfe manchmal zurückziehen. Wir machen Halt und ruhen uns untertags aus«, schlug Rojkus vor.

»Ja, das wird auch Zeit. Ich hätte jetzt keinen einzigen Schritt mehr tun können«, beschwerte sich Zäkary.

»Und ich bin hungrig wie ein Wolf«, sagte Paul.

»Woher willst du denn wissen, was ein Wolfshunger ist, Menschenjunge? Aber gut. Essen müssen wir, sonst fallen wir gänzlich vom Fleisch.«

In diesem Moment begann das Unwetter.

Nun saßen sie hier zwischen vereinzelt herumliegenden Felsblöcken, Krüppelkiefern und stachligen Disteln, tropfnass, bibbernd, frierend und hungrig.

»Das ist kein Wolkenbruch, das ist eine Sintflut«, beklagte sich Anna.

»Hört das überhaupt jemals wieder auf?«, keuchte Paul.

Als hätten seine Worte Einfluss auf den himmlischen Wasserhahn gehabt, hörte der Regen so plötzlich auf, wie er begonnen hatte. Sofort verwandelte die aufgehende Sonne die Landschaft in ein glitzerndes Paradies.

Die Kinder sprangen auf, reckten ihre erstarrten Glieder, hüpften und trampelten im nassen Gras herum, um sich ein wenig aufzuwärmen. Dabei kreischten und lachten sie wie die Irren.

»Müsst ihr euch benehmen wie die Idioten?«, rügte Zäkary die ausgelassene Gesellschaft. »Wenn jetzt hier jemand vorbeikäme!«

»Kommt aber niemand vorbei, oder? Ich musste einfach mal Dampf ablassen. Was glaubt ihr, wie sich das angefühlt hat? Dieser Marsch in der Dunkelheit durch den Wald! Ständig war ich nur damit beschäftigt, nicht vor lauter Angst in die Hosen zu machen.« Philipp sprach aus, was alle Kinder gefühlt hatten.

Rojkus beobachtete mit stoischer Gelassenheit den Sonnentanz der Kinder. Nach einer Weile fand er jedoch, dass sie sich genug ausgetobt hatten. Er wies sie an, sich ihm anzuschließen und immer dicht an ihm dranzubleiben.

Der Wolf hob seinen Kopf, stellte die Ohren auf und witterte. Dann lief er schnurstracks auf einen größeren Felsblock zu, hinter dem sich eine Erdhöhle verbarg. »Hier werden wir rasten, bis die Dunkelheit hereinbricht.«

»Kann ich erst mal nachsehen, ob dieser Bau nicht schon von jemandem besetzt ist?« Zäkary zog ein angeekeltes Gesicht und schlüpfte durch das enge Eingangsloch. Einen Moment später kam er wieder heraus, strahlte über das ganze Gesicht und rief: »Ihr werdet es nicht glauben, aber der Unterschlupf ist größer, als er von außen wirkt. Der Geruch allerdings …«

Einer nach dem anderen zwängten sie sich nun durch das Schlupfloch. Dahinter tat sich eine Höhle auf, in der vier Kinder, ein Wolf und eine Ratte bequem Platz fanden. Tatsächlich lag ein scharfer Geruch nach wilden Tieren in der Luft.

»Hoffentlich kommt nicht der eigentliche Besitzer dieser Höhle vorbei und freut sich dann über eine üppige Mahlzeit!«, unkte Zäkary.

»Keine Angst! Das ist eindeutig Wolfsgeruch«, beruhigte Rojkus die Kinder. »Wir benutzen solche Höhlen auf unseren Streifzügen. Wenn sie von einem Rudel besetzt sind, respektieren wir das.«

Die Kinder fühlten sich sehr geehrt, dass Rojkus sie jetzt als sein Rudel bezeichnete.

Kurz darauf übermannte sie die Müdigkeit. Nachdem sie sich eine karge Ration aus ihrem Proviantbeutel genommen und vertilgt hatten, kuschelten sich die Kinder links und rechts an das weiche Fell des Wolfes und fielen in einen traumlosen Schlaf.

Rojkus aber schlummerte mit weit geöffneten Augen und war mit all seinen Sinnen auf der Hut.