Nach einer langen, erholsamen Ruhepause machten sich die Abenteurer in der Abenddämmerung wieder auf den Weg. Sie wanderten noch einmal die ganze Nacht hindurch. Es zeigte sich, dass es Lücken und Pfade gab, die in das Gebirge hinein und auch darüber hinweg führten. Was aus der Ferne wie glattes Felsgestein gewirkt hatte, erwies sich als ein Gebilde aus Schluchten und Abgründen. Schmale Pfade wanden sich zwischen den Felshängen hindurch. Jeder Tritt musste sorgfältig erwogen werden. Dieses ganze Stolpern, Tasten, Ziehen, Schieben geschah in der Finsternis.
In dieser Nacht stand eine breite Mondsichel am Himmel. Aber gelegentlich führten die glitschigen Pfade zwischen hoch aufragenden Felswänden hindurch, in denen man nur von Schatten umgeben war. Das Unwetter vom Vortag hatte die Wege zum Teil in gefährliche Rutschbahnen verwandelt. Mehrmals landete der Fuß eines Kindes mit einem schmatzenden Geräusch in schleimigem Matsch. Von diesem zähen Schlamm stieg dann ein übler Geruch auf.
»Dieses Gebirge bildet die natürliche Grenze zwischen Lyndoria und dem Reich von König Atrox«, klärte Rojkus seine Begleiter auf.
»Wenn es in dem Land der Strepiter so schrecklich ist wie der Weg, der dorthin führt, können wir uns ja auf was gefasst machen«, jammerte Anna.
»Es ist nicht schrecklich, es ist die Hölle«, knurrte Rojkus. »Deshalb müssen wir uns sputen, um so schnell wie möglich Grusine zu befreien. Bevor es zu spät ist.«
Daraufhin wagte keines der Kinder, noch eine Frage zu stellen.
Stumm und in ihr Schicksal ergeben stapften die vier Freunde Stunde um Stunde hinter dem Wolf und Zäkary her, die mit sicherem Gespür der Spur der Eisenmänner folgten.
In der Morgendämmerung näherten sie sich dem Gipfel. Schon eine geraume Weile hatten sie ein undefinierbares Grollen vernommen, das aus der Tiefe des Berges aufstieg. Je höher sie kletterten, umso bedrohlicher klang dieses Poltern und Dröhnen. Wie das Brummen einer Armee von hundert Traktoren. Der Boden bebte unter ihren Füßen. Die Kinder blickten sich mit vor Angst geweiteten Augen um.
»Was ist das?«, flüsterte Paul.
»Womöglich ein Erdbeben«, raunte Philipp.
Nach ein paar Metern hatten sie die Baumgrenze erreicht. Und nun sahen sie etwas Ungeheuerliches: Vor ihnen ragte ein riesiger Fuß in die Höhe, lang und breit wie ein ausgewachsener Ochse. Es war der rechte Fuß eines gigantischen Wesens. Der riesige Fuß mündete in ein ebenso riesiges Bein, welches über die Bergkuppe herabhing. Die Kinder standen einen Augenblick wie versteinert. Dann zogen sie sich rückwärts, Schritt für Schritt, leise und in Zeitlupe, in den Schutz der hohen Tannen zurück.
»Oh mein Gott! Ich glaub’s ja nicht. Ein echter Riese!«, wisperte Lukas.
»Und wie der schnarcht!«, hauchte Paul.
»Gut, dass er so schnarcht! Heißt: Er hat uns noch nicht entdeckt.« Zäkary sah die Sache von der rein praktischen Seite.
»Hört mal! Jetzt schnarcht er sogar noch lauter. Was sollen wir denn nur tun?«, fragte Paul.
»Ich habe immer geglaubt, Riesen gäbe es nur im Märchen«, flüsterte Anna. »Und meistens sind sie da nicht besonders nett.«
»Und auch nicht sehr schlau«, mischte sich Zäkary wieder ein. »Rojkus, du weißt doch sicher Genaueres über diesen unerfreulichen Gesellen. Würdest du uns bitte mal aufklären!«
Aber Rojkus konnte ihnen auch nicht viel mehr berichten, als dass er schon von einem riesenhaften Kerl gehört hatte. Angeblich bewachte der die Grenze zu König Atrox’ Reich. Dass es sich tatsächlich um einen solchen Giganten handelte, war ihm jedoch nicht bekannt gewesen. Schließlich hatte keiner seiner Wolfsbrüder jemals die Grenze in das Land der Strepiter überschritten.
»Also wird dieser Riese uns nicht vorbeilassen. Außer …« Lukas überlegte.
»Außer wir nehmen etwas von den Tropfen der Großen Mutter zu uns«, sagte Paul.
»Du meinst die Unsichtbarkeitstropfen? Sollen wir die jetzt schon vergeuden?« Philipp kaute nachdenklich an seiner Lippe.
»Aber wir müssen an dem Riesen vorbei, wenn wir Grusine befreien wollen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Oder?«, entgegnete Paul.
Dann hatte Anna die rettende Idee. Sie schlug vor, zwei der Fläschchen mit den Schrumpftropfen zu opfern. Im Notfall hätten sie dann immer noch welche übrig, mit deren Hilfe sie sich verwandeln konnten. »Wir flößen die Tropfen dem Riesen ein, solange er schläft. Sobald er geschrumpft ist, passieren wir die Grenze. Sollte er was dagegen haben, werden wir uns gegen einen kleinen Wicht schon wehren können. Wir, zusammen mit Rojkus.«
»Aber wer soll dem Riesen die Tropfen einflößen? Ich bin doch nicht lebensmüde!«, protestierte Paul.
»Das mache ich«, meldete sich Zäkary zu Wort. »Er wird gar nicht spüren, dass ich auf seinem Kopf herumtrample. Oder er wird denken, ich wäre ein lästiges Insekt, welches in seinem Gesicht herumkrabbelt.«
»Oh nein, Zäkary! Das kann ich nicht zulassen. Das ist viel zu gefährlich. Stell dir nur mal vor, wie der Kerl dich mit seiner riesengroßen Pranke packt! Der zerquetscht dich doch wie eine Wanze«, gab Paul zu bedenken.
Anna tat es jetzt leid, diesen Plan überhaupt in die Welt gesetzt zu haben.
Nach einigem Wenn und Aber stimmten die Kinder ab. Die Mehrheit von ihnen war der Meinung, dass Zäkary es riskieren sollte. Vor allem Rojkus redete ihnen gut zu.
Mit fliegenden Fingern holten Lukas und Anna ihre beiden Fläschchen mit der wässrigen Flüssigkeit aus den Lederbeutelchen. Die ganze Zeit über schnarchte der Riese weiter.
»Du nimmst mein Lederbeutelchen mit und bewahrst die kostbaren Fläschchen darin auf«, sagte Anna zu Zäkary. »Außerdem wird dich das Ding mit dem geheimnisvollen Zauber der Großen Mutter beschützen. Ich bringe mein Unsichtbarkeitselixier einstweilen bei Paul unter.«
»Nun aber rasch!«, flüsterte Philipp. »Nicht, dass der Riese gerade dann aufwacht, wenn es am gefährlichsten ist.«