Kapitel 31

»Bitte pass gut auf dich auf!«, flüsterte Paul noch Zäkary hinterher.

Aber der war schon weg. Vorbei an dem gewaltigen Fuß, an dem zehn Meter langen Bein hoch, in Richtung Berggipfel, wo der Riese sein müdes Haupt niedergelegt hatte.

Die Kinder und Rojkus kauerten hinter dem dicken Stamm eines hohen Baumes. Von dort aus lauschten sie mit pochendem Herzen. Das Schnarchen des Riesen erschien ihnen jetzt wie lieblicher Gesang. Daraus konnten sie schließen, dass der Gigant noch schlief. Folglich würde Zäkary nichts geschehen. Hoffentlich!

Die Minuten verrannen.

Der Riese schnarchte immer noch. Das gleichförmige Geräusch wirkte irgendwie einschläfernd.

Gefühlte Stunden später schreckte Paul hoch. »Er hat aufgehört!«

»Was? Wer? Wieso?« Auch Pauls Freunde waren ein wenig eingeduselt. Im Nu waren sie wieder hellwach.

»Es dämmert schon«, wisperte Anna, »wo bleibt nur Zäkary?«

Rojkus reckte seine Schnauze in die Höhe und stellte seine Ohren auf. »Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Wir Wölfe hören Geräusche, die bis zu zehn Kilometer weit entfernt sind. Ich habe alles mitbekommen. Es gab kein Gerangel. Zäkary ist schon im Anmarsch. Er ist unverletzt, wie es scheint. Ich bin gespannt, was er uns erzählen wird.«

Die Kinder atmeten erleichtert aus.

Im nächsten Moment kam Zäkary anmarschiert. Mit vor Stolz geschwellter Brust setzte er sich auf seine Hinterbeine. »Auftrag ausgeführt. Riese erledigt«, sprach er im Tonfall eines Geheimagenten.

»Wieso erledigt?«, riefen die Kinder im Chor.

Paul packte Zäkary, setzte ihn auf sein Knie und streichelte ihn stürmisch.

»Stopp! Das reicht! So viel Zärtlichkeit auf einmal verträgt mein armer Rücken nicht«, protestierte Zäkary. »Also, wollt ihr jetzt einen genauen Bericht über meine Heldentaten hören oder nicht?«

»Ja, rede! Aber sag uns zuerst: Wo ist der Riese?«, fragte Philipp.

»Was heißt hier Riese? Die Schrumpftropfen von Ruvlasäfus sind echt der Hammer. Vielleicht war die Dosis einfach zu hoch. Zwei Fläschchen auf einmal verwandeln sogar einen Riesen in ein Nichts. Na ja, nicht ganz. Gut, dass wir das jetzt wissen. Falls ihr demnächst genötigt sein werdet, dieses Mittel selbst einzunehmen. Ein Tropfen genügt für solche Pimpfe, wie ihr es seid, würde ich behaupten.«

Und nun erzählte Zäkary lang und breit, wie er sich an den Kopf des Giganten herangepirscht und zu dessen unglaublich riesigem Maul vorgekämpft hatte. Ständig musste er dabei der mächtigen Faust des Kolosses ausweichen. Denn der spürte sogar im Schlaf, dass ihn etwas im Gesicht kitzelte. Ohne zu erwachen fuhr sich der Riese deshalb ein paarmal über die Stirn.

»Wenn der mich mit seiner Pranke erwischt hätte, wäre ich Hunderte von Metern weit geflogen. Bin ich etwa ein Vogel? Also ich im Zickzack hin- und hergeflitzt, dabei die Fläschchen aufgeschraubt, und dann …«

»Und dann?«, schrien die Kinder beinahe, weil sie es vor Spannung nicht mehr aushielten.

»Na ja, was wohl? Schüttete ich ihm die Flüssigkeit in den Schlund und machte, dass ich wegkam.«

»Aber du hast dich doch in der Nähe versteckt und beobachtet, was danach geschah«, mischte sich jetzt Rojkus ein. »Das interessiert uns am meisten!«

»So, so, das interessiert euch am meisten … Dass ich noch lebe, interessiert hier scheinbar niemanden. Klar blieb ich vor Ort. Ich habe mich hinter einem dicken Grasbüschel verschanzt und abgewartet. Dann, ganz plötzlich, begann es. Ein Geräusch wie … ich würde sagen … wie wenn jemand leise, aber dauerhaft pupst. Dem Riesen ging regelrecht die Luft aus, und ehe ich michs versah, war er so winzig, dass ich ihn mit einer Pfote hochheben konnte.«

»I-i-ich fasse es nicht«, stotterte Philipp. »Aber wo ist er denn jetzt abgeblieben?«

»Ach, beinahe hätte ich es vergessen. Als ich neben dem Bein des Giganten den Berg hochkletterte, entdeckte ich etwas Merkwürdiges. Der arme Kerl trug eine eiserne Kette um den Fußknöchel. Jedes Kettenglied so dick wie ein Autoreifen. Das Ende dieser Kette hatte jemand im felsigen Grund einzementiert. Also zählte ich eins und eins zusammen und folgerte, dass der Typ hier unfreiwillig Wache schob. Als Gefangener von König Atrox.«

»Das ist wirklich höchst merkwürdig«, überlegte Paul. »Aber sag schon! Wo ist der geschrumpfte Riese?«

Zäkary kicherte. Umständlich kramte er in seinem Lederbeutelchen und zog dann ein winziges Wesen von der Größe eines kleinen Fingers heraus. Er ließ es auf Annas ausgestreckte Hand fallen.

»Das soll der Riese sein?«, riefen die Kinder.

Das winzige Kerlchen war splitterfasernackt. Es fuchtelte wild mit seinen Ärmchen. Dabei öffnete und schloss es seinen Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Ich glaube, das Ding will uns etwas sagen.« Anna hob den Winzling in ihrer Hand vorsichtig an ihr rechtes Ohr.

Und tatsächlich: Nun vernahm sie ein feines, helles Stimmchen, das wie das Sirren eines Insekts klang.