Kapitel 32

»Pssssst! Seid mal bitte ganz, ganz leise! Ich verstehe sonst nicht, was das kleine Kerlchen sagt.« Anna runzelte angestrengt die Stirn.

Ihre Freunde rückten näher an sie heran. Sie wollten auch kein Wort von dem verpassen, was der Winzling erzählte.

»Bitte, bitte, sprecht nicht so laut!«, bat dieser mit flehender Stimme. »Mir platzt sonst das Trommelfell.«

Demzufolge rückten die Kinder noch näher heran.

»Tut uns leid«, entschuldigte sich Paul im Flüsterton. »Wir müssen uns erst mal an deinen Anblick gewöhnen. Aber wir konnten wirklich nicht wissen, dass die Schrumpftropfen eine derartige Wirkung haben würden. Bist du nicht total sauer auf uns?«

»Im Gegenteil. Ganz im Gegenteil«, surrte das Männlein. »Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Ailyan. Mein Vater war ein Weggefährte des Herrschers über das Unsichtbare Volk. Ihr habt mich von meinem grausamen Joch befreit. Dafür bin ich euch unendlich dankbar.«

»Oh! Dann haben wir dir also gar nichts Schlimmes zugefügt?«, staunte Anna.

»Nein. Besser klein und frei als ein Riese in Ketten. Wenn ihr euch ein wenig Zeit nehmt, erzähle ich euch meine Geschichte.«

»Na gut! So viel Zeit muss sein, obwohl wir eigentlich unbedingt aufbrechen sollten. Eine Freundin von uns ist in großer Gefahr. Sie wurde von König Atrox’ Männern entführt. Wir haben uns aufgemacht, sie zu retten. Also, wenn du dich bitte kurzfassen würdest!« Philipp, energisch wie immer, machte sich zum Wortführer.

Die Kinder, Zäkary und Rojkus ließen sich im Kreis nieder. Ailyan stand auf Annas ausgestreckter Hand. Alle Köpfe neigten sich ihm entgegen, denn die Stimme des Kerlchens war wirklich nur wie ein zarter Hauch.

»Sicher habt ihr schon von dem wunderbaren Stein Incantabilis gehört«, begann Ailyan seine Geschichte. »Vor langer, langer Zeit gehörte er dem Volk der Lyndorier.

»Das wissen wir schon«, wisperten die Kinder.

Ailyan nickte und fuhr fort: »Die Lyndorier sind ein besonders friedliebendes Völkchen. Und so haben sie mithilfe des Steins immer nur Gutes hervorgebracht. In den Händen eines bösen Menschen bewirkt der Stein jedoch genau das Gegenteil. König Atrox hat sich des Steins bemächtigt, weil er durch ihn unsterblich werden wollte. Und tatsächlich wurde er seitdem immer aufs Neue wiedergeboren. Jahrhunderte lang tyrannisiert er jetzt schon weite Landstriche in der Anderwelt. Auch das Land des Unsichtbaren Volks hat er in seine Gewalt gebracht. Alles, was einst gut war, hat er in Böses verwandelt. Wen auch immer er in seine Fänge bekam, verwandelte er in schreckliche Kreaturen, die ihm bedingungslos gehorchten. Und so breitet sich das Böse aus wie eine Seuche. Auch mich hat Atrox in dieses riesige Monster verwandelt, das ich war. Bevor ihr mich befreit habt. Und er verdammte mich dazu, die Grenze seines Reiches zu bewachen.«

»Aber das ist ja alles ganz schrecklich«, flüsterten die Kinder.

»Konntest du dich denn gar nicht wehren? Groß und stark wie du in deiner neuen Gestalt warst«, wollte Anna wissen.

»Nein, das Böse gewinnt wie von selbst Macht über dich. Du kannst nichts dagegen tun.«

»Hoffentlich ist es nicht schon zu spät für Grusine!«, stöhnte Paul.

»So heißt wohl eure Freundin? Dann war sie es, die von den Eisenmännern vor ein paar Tagen an mir vorbei über die Grenze geschleppt worden ist«, meinte der geschrumpfte Riese.

Eine Weile schwiegen alle bedrückt, bis Anna plötzlich rief: »Seht nur! Ailyan ist schon ein wenig gewachsen. Die Wirkung der Schrumpftropfen lässt bereits nach.«

Nun fiel es den anderen Kindern auch auf. Sie waren so vom Bericht des Winzlings gefesselt gewesen, dass sie die Veränderung seines Aussehens gar nicht bemerkt hatten.

Anna stellte Ailyan behutsam auf die Erde. Inzwischen war er halb so groß wie Zäkary, wenn der auf seinen Hinterbeinen saß.

»Hallo, Kumpel! Wir beide gegen den Rest der Welt!«, krähte der Rattenmann begeistert und tippte mit einer Pfote dem kleinen Kerl auf die Schulter.

»Ich werde euch helfen«, sagte Ailyan daraufhin. »Wer sich so mutig einem Riesen in den Weg stellt, verdient jede Unterstützung, die er nur kriegen kann. Ich weiß, wo Atrox sich aufhält und wo er die meisten seiner neuen Gefangenen unterbringt. Das war schließlich einmal auch meine Stadt. Karakoy. Die bedeutendste Stadt des Unsichtbaren Volkes. Wie sie jetzt aussieht, kann ich natürlich nicht sagen.«

»Was hat es eigentlich mit dem Unsichtbaren Volk auf sich? Warum nennen sich Grusines Leute so?«, wollte Paul wissen. »Für mich war Grusine doch sichtbar, als ich die Mütze von Tante Hedwig auf dem Kopf trug.«

Bevor Ailyan dazu kam, diese Frage zu beantworten, fiel Zäkary ihm ins Wort: »Das ist doch sonnenklar! Für euch in der Menschenwelt ist das Volk unsichtbar. Aber hier in der Anderwelt sind das Leute wie du und ich. Na ja, nicht direkt wie ich. Ihr wisst schon, was ich meine.«

»Du sagst es«, untermauerte Ailyan diesen Geistesblitz von Zäkary. »Wir hatten ein wundervolles Leben, blühende Städte, fruchtbare Landschaften. Ähnlich wie ihr in der Menschenwelt. Wir lebten im Einklang mit der Natur und mit den Tieren. Nur eines gab es bei uns nicht: Wir führten keine Kriege. Unsere Herrscher waren ebenso weise und gütig wie die Große Mutter in Lyndoria. Bis dann Atrox kam. Und nun sind nur noch sehr wenige unseres Volkes übrig, die von unseren Gebräuchen und unserem früheren Leben wissen. Wie Grusine zum Beispiel.«

Bei diesen Worten musste Paul an Max denken. Auch in seiner Welt gab es immer jemanden, der einem das Leben schwer machte. Aber er sagte nichts.

»Lasst uns aufbrechen!«, rief Rojkus ungeduldig. »Jede Minute zählt. Ailyan, dich nehme ich auf meinen Rücken, solange du nicht wieder auf deine alte Größe angewachsen bist.«

Langsam setzte sich die Kolonne in Bewegung. Vorne lief der Wolf, auf seinem Rücken trug er Ailyan. Dann folgten Paul, der sich Zäkary auf die Schulter gesetzt hatte, und der Rest der Kinder. Mühsam erklommen sie den Gipfel des Berges. Ein ungutes Gefühl beschlich alle, als sie auf die monströse Kette stießen, mit der Atrox den Riesen an den Berg geschmiedet hatte. Nun lag sie da, nutzlos und eingeringelt wie eine müde Riesenschlange.

Ob der Schutzzauber, den die Große Mutter ihnen mitgegeben hatte, ausreichte? Ob er mächtig genug war, um sie vor den Gefahren zu schützen, die auf ihrer weiteren Reise auf sie lauerten?