Auf dem Gipfel des Berges angekommen konnten sie die Stadt sehen. Düster und bedrohlich ragten Türme und Mauern in die Höhe. Häuser aus grauem Stein schmiegten sich an einen Hang. Als die Kinder genauer hinsahen, entdeckten sie, dass viele Häuser leere Fensterhöhlen hatten. Die Gebäude wirkten wie leblose Hüllen von Wesen aus längst vergangenen Tagen.
»Es sieht alles so trostlos aus«, flüsterte Anna. »Da möchte ich nicht wohnen.«
»Früher war das ganz anders«, seufzte Ailyan. »Diese Stadt leuchtete richtig. Alle Häuser hatten einen blendend weißen Anstrich. Dazwischen wuchsen Blumen in allen Farben des Regenbogens. Die Straßen und Märkte waren voller Leben. Straßenhändler priesen Dolche mit aufgeprägten Falken an. Sie verkauften Armbänder aus gehämmerten Silbermünzen, handelten mit geschnitzten Stöcken aus Ebenholz. Trommelverkäufer gaben Kostproben ihres Könnens. Durch das bunte Treiben bahnten sich Ofenputzer, Matratzenaufschüttler, Rattenfänger, Essensausträger, Wäscher und Wasserträger ihren Weg. Und zwischen all diesen waren die Tänzer, Sänger, Akrobaten, Musiker, Weissager, Feuerschlucker, Affendresseure, Schlangenbeschwörer, Bärenführer unterwegs.«
»Das klingt fantastisch. So etwas würde ich gerne auch einmal erleben. Wie ist es nur möglich, dass ein einziger, größenwahnsinniger Typ all das ruinieren konnte?«, überlegte Philipp laut.
»Man sieht auch überhaupt keine Menschen auf den Straßen, obwohl es doch schon früh am Morgen ist«, bemerkte Paul.
»Wie soll es denn jetzt weitergehen?«, fragte Lukas. »Wir können doch nicht einfach in der Stadt aufkreuzen und rufen: Hallo, hier sind wir, wir wollen den Stein abholen und Grusine befreien!«
»Genau! Und im nächsten Moment werden wir dann alle von den Orochien gefressen«, unkte Zäkary.
Aber zum Witze machen war keines der Kinder aufgelegt.
»Bevor wir irgendetwas unternehmen, sollten wir erst einmal einen Spähtrupp losschicken«, schlug Philipp vor. »Ailyan und Zäkary sind dafür bestens geeignet. Die sind so klein, dass sie sich durch alle Ritzen und Schlupflöcher zwängen können. Und außerdem fallen sie gar nicht auf, wenn sie sich nur vorsichtig genug bewegen. Wir verstecken uns in der Zwischenzeit an einem sicheren Ort in der Nähe der Stadt.«
Den Vorschlag fanden alle gut. Die beiden Kleinsten aus ihrer Runde waren Feuer und Flamme. Sie fühlten sich sehr geehrt, dass ihnen die Kinder eine so bedeutende Aufgabe anvertrauen wollten.
Ailyan erinnerte sich an einen halb verfallenen Ziegenstall außerhalb der Stadt. »Den benutzt sicher schon lange niemand mehr. Da könnt ihr euch einstweilen aufhalten. Und Rojkus hält Wache. Er wittert ja Gefahren, lange bevor wir sie erkennen.«
Für den Abstieg vom Gipfel des Berges hinunter ins Tal brauchten sie den ganzen Tag. Es ging nur mühsam voran. Vor allem deshalb, weil sie nun nicht den direkten Weg nehmen konnten, sondern ständig abgelegene Pfade suchen mussten. Viele Male hielten sie inne, um sicher zu sein, dass keiner von Atrox’ Männern im Gelände unterwegs war. Vor den Bestien fürchteten sie sich am meisten. Aber sie vertrauten Rojkus, der alle paar Meter die Ohren aufstellte und Witterung aufnahm.
Unten im Tal angelangt, als die ersten Häuser der Stadt schon in Reichweite lagen, bewegten sie sich nur noch flach auf dem Boden kriechend. Sie suchten Deckung hinter Sträuchern und halb verfallenen Mauern. Auch aus der Nähe machte die Stadt einen toten, trostlosen Eindruck. Sie wirkte wie eine Geisterstadt.
»Hier müssten doch eigentlich Atrox’ Wachen unterwegs sein … Ich weiß echt nicht, was ich davon halten soll.« Ailyan wollte seinen tapferen Freunden auf keinen Fall Angst einjagen, aber irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht. Schließlich zeigte er auf eine Hütte, die eher einem Haufen aufgetürmter Steine glich als einem Ziegenstall. »Ich dachte, hier könntet ihr euch verstecken«, sagte er verlegen.
»Aha! Sehr einladend! So, wie das Ding aussieht, wird es über euch zusammenbrechen, sobald ihr es betretet. Andererseits ist es ideal. Denn kein Mensch käme auf die Idee, dass sich da drin ein lebendiges Wesen aufhält. Weder Mensch noch Tier«, lästerte Zäkary.
»Sei jetzt kein Miesepeter!« Paul streichelte Zäkary. »Mir ist auch nicht wohl bei der ganzen Unternehmung. Aber nun haben wir bisher alles heil überstanden. Warum sollten wir im letzten Moment aufgeben?«
»Tun wir ja nicht! Tun wir ja nicht! Ailyan und ich, wir machen uns sofort auf die Socken. Ich bin gespannt, was wir in dieser Geisterstadt vorfinden werden.«