Ailyan kannte jeden Winkel der Stadt. Im grauen Licht der Dämmerung führte er Zäkary durch enge Gassen, in die auch am Tag kein Sonnenstrahl eindringen konnte. Müll und Unrat türmten sich links und rechts an den Häuserwänden und kündeten davon, dass es hier Bewohner gab. Ein grässlicher Gestank nach Fäulnis und Verwesung lag in der Luft. Es war gespenstisch still.
Ab und an huschte eine Katze wie ein grauer Schatten um eine Ecke. Überhaupt schienen Katzen im Moment die einzigen Lebewesen in dieser Stadt zu sein. Sie waren viel größer als gewöhnliche Katzen.
Plötzlich kamen sie in Scharen. Von allen Seiten streiften die Riesenkatzen durch die Gassen. Sie bildeten Gruppen. Es sah so aus, als durchsuchten sie die Stadt bis in den letzten Winkel. Sie hatten große, scharfe Krallen und spitze, weiße Zähne.
Was verbarg sich hinter den geschlossenen Fensterläden und Türen? Kein Laut drang nach außen. Weder menschliche Stimmen noch ein Lachen. Kein Kinderweinen. Nichts.
»Wir Ratten sind ja allerlei gewöhnt, aber das hier finde ich richtig unheimlich«, flüsterte Zäkary.
»Du hast recht«, erwiderte Ailyan. »Wir sollten auf dem schnellsten Weg zur Festung hinaufsteigen. Ich kenne eine Abkürzung.«
Ohne Ailyan wäre Zäkary viel schneller vorangekommen, aber er musste auf die Trippelschritte des Winzlings Rücksicht nehmen. Der war immerhin schon wieder um einige Zentimeter gewachsen.
Sie gelangten in relativ kurzer Zeit in die Nähe einer steilen Treppe. Deren dreihundertfünfundachtzig Steinstufen führten hinauf zur Festung. Das Bauwerk thronte über der Stadt wie ein düsterer Fluch. Flackernde Feuer malten blutrote Zeichen an den nächtlichen Himmel. Auf dem Mauerring tauchten die schwarzen Umrisse von menschlichen Gestalten auf.
»Hinter diesen Mauern verbirgt sich Atrox. Dort befinden sich bestimmt auch seine Gefangenen. Er schützt sein düsteres Reich mit einer Horde bis an die Zähne bewaffneter Unholde. Es gibt in der Festung unterirdische Keller, wo er die Orochien in Käfigen hält.«
Ailyans Worte ließen Zäkary erschauern.
»Sieht nicht eben einladend aus, was ich von hier unten aus mitkriege. Der Typ muss bescheuert sein, wenn er sich auf diese Weise selbst einmauert. Und das alles nur aus Gier und Eitelkeit. Wer anderen die Freiheit nimmt, bestraft sich damit selbst am meisten. Er muss ja ständig um sein Leben bangen, weil alle ihn hassen. Da hilft ihm auch sein Wunderstein nicht.«
Ailyan wollte eben Zäkary in seinen Gedankengängen unterbrechen, da flatterte etwas schwarz Gefiedertes über ihren Köpfen, umkreiste ein paarmal die Mauernische, in der die beiden kauerten, und landete dann auf einer Treppenstufe in ihrer Nähe. Es war eine Amsel. Aufgeregt äugte sie zu Zäkary und Ailyan herüber. Sie wippte nervös mit dem Schwanz.
»Sieh doch nur! Wenn mich nicht alles täuscht, trägt die Amsel etwas im Schnabel!«, rief Ailyan.
Im selben Moment ließ der Vogel ein Stück Stoff fallen und hüpfte drei Stufen höher.
Zäkary wetzte aus seinem Versteck und schnappte sich das Fetzchen. »Ich fress einen Besen, wenn das nicht ein Stück von Grusines Kleid ist. Das muss Grusines Amsel sein. Ich sah sie damals mit Paul im Räuberwäldchen. Grusine ist hier. Das willst du uns doch sagen, du komischer Vogel, oder?«
Die Amsel nickte mit dem Kopf und trippelte auf ihrer Treppenstufe aufgeregt hin und her.
»Dann führe uns zu ihr! Auf dem schnellsten Wege«, bat Ailyan. »Kannst du das?«
Die Amsel flatterte hoch. Sie nahm nicht etwa den Weg über die Steintreppe, sondern schwebte flach über dem Erdboden, machte eine Kurve und flog dann vor Ailyan und Zäkary her. Zurück in die dunkle Gasse, aus der sie gekommen waren.
»Das verstehe ich jetzt ganz und gar nicht«, beschwerte sich Zäkary, aber er folgte dem Vogel, der scheinbar genau wusste, was er tat.
Nach einer Weile hatten die beiden Späher jegliche Orientierung in dem Gassengewirr verloren. Überall sah es ebenso trostlos aus wie in den Randbezirken der Stadt. Je weiter sie in das Zentrum vordrangen, desto größer wurden zwar die Bauwerke. Doch noch deutlicher zeigte sich hier, was der allmähliche Verfall angerichtet hatte. Die ehemals so prächtigen Wohnstätten und Paläste rotteten vor sich hin. Ihr einstiger Glanz war gänzlich erloschen.
»Ein Jammer, wie es hier aussieht. Auf diese Stadt kann Atrox doch nicht wirklich stolz sein«, bemerkte Zäkary.
»Du hättest früher mal hier sein sollen. Ich weiß übrigens jetzt, wo die Amsel uns hinlocken will«, keuchte Ailyan.
Der schwarze Vogel hatte unmerklich sein Tempo erhöht, als ob er eine nahende Gefahr wittern würde. Im Zwielicht der Dämmerung war er nur noch als schwarzer Schatten auszumachen. Zäkary und Ailyan rannten, so schnell sie konnten, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
»Auf dem großen Platz vor dem Schloss steht ein tiefer Brunnen«, ächzte Ailyan. »Früher munkelte man, da drin gäbe es einen Geheimgang, der zur Festung hinaufführte. Bei Gefahr oder während eines Überfalls auf die Stadt konnten alle Bewohner auf diesem Wege in die Burg gelangen und waren dann in Sicherheit. Ich selbst habe den Geheimgang nie benutzt.«
Tunnel und unterirdische Schleichwege waren eigentlich ganz nach Zäkarys Geschmack. Aber er hatte keine Zeit, sich dieses Vergnügen auszumalen. Denn was jetzt geschah, war schlimmer als jeder Albtraum.
Von allen Seiten hörte man plötzlich den keuchenden Atem lebender Wesen. Der Erdboden bebte unter den Tritten unzähliger Füße. Die unheimlichen Geräusche schwollen rasch an. Raue Stimmen mischten sich darunter.
Ailyan erstarrte. Einen Augenblick war er vor Angst wie gelähmt. »Ich weiß, was das ist. Sie hetzen die Orochien durch die Stadt. Deshalb wagt sich kein Mensch zu dieser Stunde mehr vor die Tür. Atrox will sicher sein, dass niemand in der Nacht die Stadt angreift. Außerdem soll kein Bewohner in der Nacht heimlich die Stadt verlassen. So sieht’s aus.«
»Na dann gute Nacht!«, schrie Zäkary. »Los! Lauf jetzt, wenn dir dein Leben lieb ist! Wo ist denn nun der verdammte Brunnen?«
Die Amsel stieß einen schrillen Pfiff aus und umkreiste einige Male die Köpfe der beiden Flüchtenden. Zäkary trieb Ailyan zur Eile an. Mit letzter Kraft spurteten sie hinter der Amsel her, hinaus auf den freien Platz. Schon vermeinten sie, den Atem der Bestien im Rücken zu spüren. Mit einem letzten mutigen Sprung schaffte Zäkary es auf den Brunnenrand. Die Amsel packte Ailyan mit ihrem Schnabel und hob ihn hoch.
»Hier drin ist es stockfinster. Ich sehe rein gar nichts. Aber wenn es stimmt, was du über den Geheimgang gesagt hast, müsste es eine Leiter oder Stufen oder etwas Ähnliches geben.« Zäkary krallte sich im bröckeligen Mauerwerk des Brunnens fest und hing kopfüber nach unten.
»Kannst du etwas erkennen?« Ailyan hatte sich unter die ausgebreiteten Flügel der Amsel geflüchtet. Zitternd hockte er auf dem Brunnenrand. Jeden Moment mussten die Bestien mit ihren Wärtern den großen Platz erreicht haben und dann …
»Ich hab’s! Ich spüre Holzpflöcke, die wie eine Leiter an der Innenwand des Brunnens angebracht sind und nach unten führen. Wenn sie nicht schon ganz morsch sind, könnten sie unsere Fliegengewichte vielleicht tragen.«
Die Amsel folgte Zäkarys Stimme und flatterte in den Brunnen hinein. Sie ließ sich auf dem ersten der Pflöcke nieder. Mit leisen Lockrufen versuchte sie, Ailyan dazu zu bewegen, vom Brunnenrand aus auf diesen kurzen Balken zu klettern. Der kleine Kerl klammerte sich verzweifelt mit seinen winzigen Händchen am Brunnenrand fest. Doch seine Beine waren viel zu kurz, um die Sprosse zu erreichen, auf der Zäkary bereits saß.
»Hilfe! Ich kann mich nicht mehr halten! Ich falle!«, schrie Ailyan verzweifelt.
Zäkary stellte sich auf die Hinterpfoten, balancierte gefährlich schwankend, sein Gleichgewicht suchend, auf dem schmalen Steg und rief: »Stell deine Füße auf meine Schultern! Jetzt! Spürst du mich?«
Ailyan ließ los und plumpste in die Tiefe. Die Amsel aber war auf der Hut. Sie packte den Winzling an den Haaren. Und mit ihrer und Zäkarys Hilfe landete er sicher auf der ersten Sprosse.
Über ihnen tobte jetzt die wilde Meute über den Platz. Die Wärter brüllten mit heiseren Stimmen ihre Kommandos. Dann verebbten nach und nach die schaurigen Geräusche und verloren sich in den Tiefen der nächtlichen Gassen.
»So! Das ist ja gerade noch mal gut gegangen«, sagte Zäkary. »Aber das mit dem Abstieg wird wohl eine längere Prozedur werden.«